Sein zentrales Thema ist die Betonung erlebter statt nur gelesener, "architektonisch" verstandener Musik. In eingängigen Werkbetrachtungen von Bach bis Schostakowitsch, von Mozart bis Lachenmann spricht der Praktiker, der "denkende Dirigent" Gülke. In Künstlerporträts etwa von Herbert Blomstedt, Alfred Brendel und Dina Ugorskaja schärft er sein Bild von musikalischer Interpretation.
Dabei bietet Gülke immer wieder faszinierende Perspektivwechsel an. Etwa indem er zeigt, wie sehr hochartifizielle Musik von purem Klangdenken durchzogen sein kann. Oder wie die Grenzen zwischen Komposition und Interpretation verschwimmen, wenn improvisatorische Elemente von Komponisten aufgegriffen und in Noten verwandelt werden.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Peter Gülke schreibt ein hinreißendes Buch über Erfahrung und Interpretation von Musik
Franz Schubert hat seine zwei bedeutendsten Sinfonien niemals gehört, die "Große" und die "Unvollendete". Der heutige Musikfreund vielleicht zehnmal im Konzertsaal und dazwischen, so oft er will, per Knopfdruck zu Hause; die Noten bekommt er wohl sein Leben lang nicht zu Gesicht. Komponieren kann man auch, ohne zu hören, aber wo bleibt eine Komposition, wenn niemand sie hört? Musik ist die Zeitkunst schlechthin, denn wenn sie erklingt, ist sie immer schon am Verschwinden; wie die Zeit ist sie da, doch man kann sie nicht halten. Vier Takte im Streichquartett kann man nicht anhalten und noch einmal wiederholen, wie den gerade gelesenen Vers eines Gedichts; nur über den Noten, schwarz auf weiß, kann man nach eigenem Rhythmus innehalten wie beim verweilenden Blick auf ein Gemälde. Wo also "ist" die Musik? In den ein für alle Mal fixierten Noten auf Papier oder im hier und heute erweckten und sofort wieder entschwindenden Klang?
Peter Gülke hat auf die Rätselfrage keine definitive Antwort, denn die gibt es nicht, doch folgt man ihm durch sein neues Buch "Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen", dann begreift man unendlich viel von dem, was so packend ist an der Erfahrung und Interpretation von Musik: Interpretation, die nichts anderes ist als der immer neue, häufig so schwer zu durchschauende Vorgang, etwas Geschriebenes hörbar zu machen, auf dem Klavier, mit der Geige, im Quartett. Die faszinierendste Verkörperung ist und bleibt der Dirigent auf dem Podium: Er spielt kein Instrument, leitet aber mit einer Gestik, die für den Laien mehr Expressivität ist als erkennbare Regelhaftigkeit, ein Orchester, das diese Gestik immerhin genau zu verstehen scheint. Wenige sind berufen wie Gülke, das Verhältnis von Komponist, Interpret und Hörer durchschaubar zu machen, von Partitur, Aufführung und Hörerlebnis - denn zur sinnlichen Existenz gehören immer drei. Auch Peter Gülke ist eine mehrfache Persönlichkeit, der weiße Rabe der Musik: einerseits weithin anerkannter Musikwissenschaftler, unter den Kollegen ein ungewöhnlich sicherer Schriftsteller, andererseits vielfach erfahrener Orchesterleiter, zuletzt als Chefdirigent der Brandenburger Symphoniker.
Die künstlerische Praxis prägt das Buch durchweg in seinen vier sehr unterschiedlich gewichteten Teilen. Auf die Einleitung, eine Art Exposition des Themas, folgt der Abschnitt "Fünf Musiker", und schon hier begreift man Gülkes Prinzip, immer beides zu verbinden: die detaillierten Erläuterungen zu Werken einerseits und zum anderen den ganz persönlichen, ja leidenschaftlichen Nachvollzug dessen, was die unterschiedlichsten Interpreten aus diesen Werken machen. Gülkes Nähe zu Alfred Brendel ist bekannt; die Darstellung der Kollegen Kurt Sanderling und Herbert Blomstedt beweist nicht nur Nähe, sondern skizziert sehr entgegengesetzte Zugangsweisen in Schlagtechnik, Tempobehandlung, Präzision.
Mit Joachim Ulbricht porträtiert Gülke dann nicht nur den herausragenden, aus langer Zusammenarbeit vertrauten Solobratschisten der Dresdner Staatskapelle; er gewichtet damit vor allem die meist im Schatten der Dirigenten bleibende Rolle der Musiker im Tutti, eine nicht nur gerechte, sondern höchst aufschlussreiche Umwertung. Die Seiten über Dina Ugorskaja jedoch geraten zu einer mitreißenden, analytisch genauen, zutiefst vom Schicksal dieser früh verstorbenen Ausnahmepianistin bewegten Darstellung eines einmaligen künstlerischen Charakters; hört man innerlich oder in der Aufnahme etwa Franz Schuberts B-Dur-Sonate parallel zu Gülkes Ausführungen über Tempo und Dynamik, über die beiden langsamen Sätze und die unendliche Stille in Momenten angehaltener Zeit, dann bewundert man seine Fähigkeit, auch dem Laien den sinnlich erlebbaren Gehalt der "Geheimwissenschaft" von Tonarten, Taktzahlen, Modulationen verständlich zu machen. Tatsächlich, man hat mehr vom Hören einer Musik, wenn man sie auch "versteht"; und dennoch verweist Gülke auf die immer wiederkehrende Erfahrung sogar des Wissenschaftlers, dass ein unmittelbares Hörerlebnis zuweilen klüger ist als die Reflexion.
Dieser Autor und Wissenschaftler ist kein bloßer Theoretiker; alle, auch die sehr ins Detail gehenden, Erörterungen sind immer mit sprechenden Beispielen direkt bezogen auf ganz bestimmte Werke, Interpretationen, Interpreten. Darum besteht der dritte, umfangreichste Teil aus rund drei Dutzend Einzeldarstellungen zu Messen, Partiten, Quartetten von Josquin, Bach, Haydn bis zu Bartók und Helmut Lachenmann, von Mozarts "Bei Männern, welche Liebe fühlen . . ." über den Piano-Anfang in Beethovens viertem Klavierkonzert bis zu den Sinfonien Schuberts, Beethovens, Bruckners, Mahlers.
Natürlich, manches ist vollständig nur für den nachvollziehbar, der mit den Werken aus Konzertsaal oder Aufnahmen sehr vertraut ist, doch selbst bei Stücken, die nicht zum gängigen Repertoire des Musikbetriebs gehören, ist der Gewinn erheblich - und der Anreiz zum Kennenlernen. Wenn Gülke über frühe Motetten spricht, über Guillaume du Fays' "Nuper rosarum flores", dann bekommt man die gelehrte Einführung in eine fremd-faszinierende, ferne Epoche, lange bevor es so etwas gab wie einen Musikbetrieb, findet zugleich aber zurück zu der Eingangsfrage, wie sich das Verhältnis zum Werk, zur Aufführung, zu Einmaligkeit und Wiederholung immer weiter radikal verändert, mit allen Folgen für Konzentration oder Gewöhnung beim Hören.
Wiederum nahe am heutigen Konzertalltag ist das phänomenale Brahms-Kapitel "Wie komme ich in Sinfonien hinein und wieder heraus?", eine Frage, die sich, wohlverstanden, an den Komponisten wendet, nicht an den Hörer! Gülkes Überlegungen zu Brahms' lebenslang problematischer Beschäftigung mit der Gattung Sinfonie geben den lebendigen Einblick in die Logik des Komponierens zwischen Gefühlsausdruck und formal-technischer Arbeit, zwischen schöpferischer Freiheit und lastender Tradition der großen Vorgänger, besonders natürlich Beethovens.
"Musik ist immer anders. Dasselbe Stück, von denselben Musikern in demselben Raum aufgeführt, ist morgen nicht dasselbe wie heute . . . Schon wenn mehrmals auf einer CD angehört, ist sie nicht dieselbe, weil der Hörende nie derselbe ist." Hat man den Anfangssatz des Buches zunächst vielleicht mit leichtem Zweifel gelesen, am Ende hat Peter Gülke uns überzeugt. Das Schlusskapitel "Vor dem Auftritt" gibt jedem Konzertbesucher eine ungewöhnlich nahe Darstellung musikalischer Interpretation aus der Sicht des Künstlers, bis hin zu einer Art Leitfaden für junge Dirigenten. Die Leser des Buches, die ja keinesfalls nur junge Dirigenten sind, finden hier jedoch etwas ganz anderes, nämlich die sehr konkrete, sehr bodenständige, in freundliche Ratschläge verpackte Darstellung, was der so zauberkundig wirkende Mann dort auf dem Podium tatsächlich tut - und was er alles zu tun hat, bevor er auf dem Podium steht und zum Finale möglichst seinen Beifall empfängt. Der Autor aber, der am kommenden Montag seinen neunzigsten Geburtstag feiert, ist unseres lang anhaltenden Beifalls vollkommen sicher. WOLFGANG MATZ
Peter Gülke: "Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen".
Bärenreiter/Metzler Verlag, Kassel 2024. 292 S., geb., 39,99 Euro.
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