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Geschichte einer Migration, bei der der Protagonist den großen Krisen immer knapp entkommt
Erinnern Sie sich, wie es ist, wenn ältere Familienmitglieder den Kindern Geschichten aus der Jugend erzählen? Da werden die Anekdoten so eindrucksvoll wiedergegeben, dass weder Zuhörer noch Erzähler unterscheiden können, ob es sich um Erlebtes oder Erfundenes handelt. Es spielt auch keine Rolle. Zuzuhören ist der Genuss, und am Ende warten leicht verdauliche moralische Erkenntnisse.
In "Von Indien nach Deutschland: Was uns der Weg meines Vaters über Migration und die Freundlichkeit von Fremden erzählt" versetzt Sunita Sukhana mit ihrer märchenhaften Erzählung die Leser immer wieder in jenes kindlich freudige Staunen. Denn natürlich meistert der Vater jede Unwägbarkeit auf der Reise am Ende unbeschadet und gewinnt entweder neue Freunde oder Einsicht. Auch eine Prise magischer Realismus wird hier und da eingestreut.
Sukhana erzählt von dem Dorfjungen Bagicha Singh, Sohn eines Sikh-Priesters, der im armen ländlichen Pandschab der 1960er-Jahre aufwächst. Schlüsselmoment seines frühen Lebens ist ein Misserfolg im Wettrennen. Mit hartem Training gelingt es ihm, ein erfolgreicher 400-Meter-Läufer zu werden und sich damit erste Tore in die Welt jenseits des Dorfes zu öffnen. Er kann studieren und arbeitet später als Ingenieur der indischen Eisenbahn in Goa. Dort lernt er amerikanische und europäische Hippies und mit ihnen das Fernweh kennen. Gegen den Willen des eigenen Vaters und mit wenig Vorwissen macht er sich auf den Weg, um - so der Plan - über Afghanistan, die Türkei und Frankreich irgendwann in die USA zu gelangen.
Über den Verlauf der Reise malt die Autorin anschauliche Bilder, wie die erste Begegnung mit Schnee in Kabul, die gläsernen Wolkenkratzer im hypermodern anmutenden Teheran, ein halb erzwungenes Gelage an einem Bahnhof in Osteuropa oder ein schief geformtes Chapati-Brot in der spontan zusammengewürfelten Wohngemeinschaft in Westberlin. Auch Rückschläge und Zweifel stellt sie dar, die Bagicha nur mit großem Durchhaltevermögen, viel Humor und den ersparten Dollarscheinen überwinden kann. Entscheidend für den Erfolg der Reise ist am Ende, im richtigen Moment zufällig die richtigen Papiere, Informationen oder Kontakte zu haben. Das wird angesichts der absurden Visumbestimmungen, die ihm begegnen, deutlich. Die Erzählstimme klingt teilweise selbst verwundert über das Glück, mit dem der junge Inder auf seiner Reise gesegnet ist, und über die Freundlichkeit, die ihm immer wieder begegnet, wie es der Untertitel bereits vorwegnimmt.
Die Leser kann eine solche abenteuerliche Reise, die meist über den Landweg erfolgt, wehmütig stimmen, wo doch heute der Massentourismus jeden Fleck erschlossen hat, der nicht von Kriegen und Konflikten beherrscht wird. Allerdings bilden Kriege und Konflikte trotz der Leichtigkeit der Erzählung auch für Bagichas Reise ein Hintergrundrauschen. Denn erstaunlicherweise schafft der Protagonist es immer wieder, großen Umbrüchen gerade noch zu entkommen. So bereist er Afghanistan, kurz bevor die Sowjets einmarschieren, und verlässt Iran nur wenige Tage vor dem Ausbruch der islamischen Revolution, die für den Sikh nichts Gutes verheißen hätte.
In die Erzählung über Bagicha Singh wird der Schreibprozess der Autorin eingeflochten. Geschrieben hat Sukhana das Buch während der Corona-Lockdowns und im regen Austausch mit Schreibpartnerinnen und Personen, die das Skript unter anderem auf einen sensiblen Umgang mit Stereotypen prüften. Den eigenen Schreibprozess inszeniert sie mit einer spürbar jüngeren Erzählstimme ebenfalls als Reise, an deren Ende sie das ausgedruckte Manuskript in der Hand hält. Diese Metapher gelingt oft, wenn auch zeitweise die Unsicherheiten der jungen Autorin gegenüber der Selbstsicherheit des Vaters in jungen Jahren stark kontrastieren.
Stimmig ist in diesem zweiten Erzählstrang, wie sie mit ihrer Recherche die Stationen der Reise mit historischem, religiösem und sozialwissenschaftlichem Kontext anreichert. Vieles ist hier nicht neu, dafür aber durch den Bezug auf die Erzählung einprägsam aufbereitet. Schön wäre gewesen, wenn der Verlag hier sanft auf die Auswahl der Quellen und die Häufigkeit der Nennung eingewirkt hätte. Teilweise spinnt Sukhana die Fäden in den Einschüben auch noch weiter und geht zu politischen Debatten über, die sich aus den Erlebnissen des Vaters ergeben. Hier werden große Fragen über das Zusammenleben der Religionen und Völker, die Weltwirtschaftsordnung und Migrationstheorien angeschnitten. Schließlich werden sowohl die Erkenntnisse des Vaters als auch jene aus den Recherchen wieder rückgebunden, um Haltung und Identität der Autorin zu beleuchten. So schließt sich der Kreis für eine auffallend unbeschwerte Familiengeschichte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.
Sunita Sukhana erinnert uns mit der Reiseerzählung ihres Vaters an drei entscheidende Push-Faktoren, die in der aktuellen Migrationsdebatte viel zu kurz kommen: der jugendliche Mut zu Träumen, eine unbändige Lust auf die Welt und ein Optimismus, von dem wir uns gerade jetzt anstecken lassen sollten. Wer in der düsteren Winterzeit mit noch düstereren xenophoben Diskursen eine hoffnungsvolle und leichte Lektüre sucht, dem sei "Von Indien nach Deutschland" durchaus empfohlen. MONIKA REMÉ
Sunita Sukhana: Von Indien nach Deutschland: Was uns der Weg meines Vaters über Migration und die Freundlichkeit von Fremden erzählt.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2023. 176 S., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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