Der Sommer, in dem alles zum ersten Mal geschah Sommer 1972 in der finnischen Provinz: Als sein Vater erkrankt, wird der 17-jährige Erzähler von einem Tag auf den anderen in die Pflicht genommen – vorbei sind die unbeschwerten Tage seiner Kindheit. Anstatt Krebse zu fangen, verbringt er die Ferienmonate mit dem Bau von Regenrinnen und taucht ein in die bislang fremde und oft raue Welt der Erwachsenen. Doch der Arbeit am Tag folgen lange, warme Abende und Nächte, in denen heimliche Unternehmungen zu Abenteuern ganz anderer Art führen . . . Mit großer menschlicher Wärme, Weisheit und subtilem Witz erzählt der preisgekrönte Autor Olli Jalonen in seinem neuen Roman von einem finnischen Sommer in den Siebzigern, in dem Piratensender ihre Hochphase erleben, die ganze Welt von den Olympischen Spielen in München redet – und der unvergessliche Held der Erzählung zum Mann wird.
buecher-magazin.deWortkarg sind die Finnen. Und auch Jalonens 17-jähriger Ich-Erzähler macht diesem Ruf mit seinem knappen "Joo" alle Ehre. Umso lauter und komplexer geht es in seiner Gedankenwelt zu. Es ist faszinierend, wie glaubwürdig sich Olli Jalonen in diesen namenlosen Jungen hineinversetzt, der im Sommer 1972 ganz plötzlich die Welt mit anderen Augen sieht. Durch innere Monologe, aufsteigende Erinnerungen und zwiespältige Gefühlswallungen ist der Leser hautnah dabei, wenn er sich in seinem Job als Hilfsarbeiter mit dem rauen Ton der Bauarbeiter anfreunden muss oder seine erste große Liebe lange nicht erkennt, weil sie ihm so nahe ist. Es ist ein Sommer, der alles verändert. Als Einser-Schüler, der durch das Herzleiden des Vaters abrupt in einer harten Männerwelt landet, muss er seinen Weg alleine finden und studiert das Verhalten der einfach gestrickten Arbeiter ebenso genau wie die hitzigen politischen Debatten um die eigenmächtige Amtsverlängerung des Präsidenten. Selbst in der finnischen Provinz weht ein Hauch des Kalten Krieges und die Olympiade in München wird live übertragen. Als sein Freund Yukka, mit dem er seit Jahren freie Radiostationen abhört, einen Piratensender aufziehen will, ist die große weite Welt plötzlich zum Greifen nah und der ruhige Junge findet seine eigene Stimme.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2016Arbeiten mit Blech
Ein finnischer Sommer, cool und warmherzig zugleich: Olli Janonens „Von Männern und Menschen“
Nur wenige Leser dürften sich aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es in Finnland vor gut vierzig Jahren war, als man das Wort „Globalisierung“ noch nicht kannte, gewisse Kreise indes die „Finnlandisierung“ als verbales Kampfgeschoss des Kalten Krieges einsetzten. Zwar waren in jener Zeit die kulturellen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern generell noch so ausgeprägt, wie es sich die Nachgeborenen kaum mehr vorstellen können. Doch Finnland hatte, bedingt durch seine politisch und wirtschaftlich ausgeklügelte, von der westlichen Rechten mit Argwohn beäugten Sonderstellung zwischen zwei konträren Gesellschaftsmodellen, eine sehr spezielle Atmosphäre, zu der die geografische und sprachliche Randlage, die dünne Besiedlung und das nordische Klima ein Übriges taten.
Die dunklen und die skurrilen Seiten dieser Konstellation wurden erst ein Jahrzehnt später durch die Brüder Kaurismäki im Kino weltbekannt, exemplifiziert vor allem an Außenseitern und Abgehängten der städtischen Zentren. Der Schriftsteller Olli Jalonen, Jahrgang 1954, siedelt seine Figuren in einem anderen, sozusagen „normaleren“ Milieu an. Im Roman „Von Männern und Menschen“ erzählt er vom Sommer des Jahres 1972 in der südfinnischen Provinz, und er tut es mit einem bedächtigen Realismus, in dem die damalige Zeitstimmung ihren adäquaten Ausdruck findet. Das ist allein schon dokumentarisch von hohem Wert. Hat man sich erst einmal auf die Handlung eingelassen, die einem anfangs ein wenig spröde und ereignisarm vorkommen könnte, wird man hinter der Langsamkeit und Geradlinigkeit dieses Erzählens die Qualitäten entdecken, die Olli Jalonen zu einem der renommiertesten finnischen Autoren gemacht haben.
Schade, dass der Roman beim Buchmessenauftritt Finnlands vor zwei Jahren noch nicht auf Deutsch vorlag – er hätte dem Bild des kleinen, eigensinnigen Literaturlandes, das damals auf „Coolness“ setzte, eine interessante Facette hinzugefügt. Denn bei der Lektüre kommt einem viel eher das Wort „warmherzig“ in den Sinn. Zugegeben, es steht auch im Klappentext, aber besser lässt sich kaum charakterisieren, wie Jalonen seinen Helden (in dem fraglos ein großer Anteil von ihm selbst steckt) und dessen Umfeld schildert.
Der Ich-Erzähler steht im Sommer 1972 kurz vor seinem 18. Geburtstag – und vor der Entscheidung, ob er das Abitur machen oder die Schule verlassen soll. Eine Lehrerin, die seine Begabung erkannt hat, will ihn als Stipendiaten in die USA empfehlen, was ihn jedoch kaum interessiert. Für ihn ist es wichtiger und zugleich selbstverständlich, seine Eltern zu unterstützen, da sein Vater nach mehreren Infarkten nicht mehr arbeiten kann. Ein Autokauf muss rückgängig gemacht werden, Raten sind abzustottern. Vetter Lampinen, entfernter Großcousin des Vaters, Freund der Familie und außerdem der besonnene Bruder des cholerischen Autohändlers, arrangiert einen Aushilfsjob in seiner Klempnerfirma „Volles Rohr“, die aus Rentabilitätsgründen vorwiegend Dächer und Regenrinnen baut. So verbringt der junge Mann seine Ferien zwischen Werkstatt und Baustellen unter erwachsenen Männern, arbeitet mit Blech, übernachtet im Wohnwagen und lernt eine neue Welt kennen, in der er sich alsbald zu Hause fühlt.
Diese Welt ist voll alltäglicher Mühsal, bevölkert von mehr oder weniger verschrobenen Individuen und keineswegs konfliktfrei. Und doch funktioniert sie, nach Vetter Lampinens Devise „Alles regelt sich, wenn man es regelt“, erstaunlich gut. Werte wie Loyalität, Empathie und Solidarität prägen, ohne beim Namen genannt zu werden, das Leben in der kleinen Gemeinschaft, und pragmatische Vernunft hilft bei Problemlösungen. Insofern ist der Provinzkosmos, den Jalonen beschreibt, repräsentativ für die finnische Gesellschaft jener Jahre, von der man durchaus den Eindruck gewinnen konnte, sie sei bemerkenswert „vernünftig“ organisiert. Hinzu kommt: Wir befinden uns in einer Zeit und in einer Gegend, in der – und das unterscheidet Jalonens Rückschau von den meisten bundesrepublikanischen Adoleszenz-Erinnerungsromanen – die Wahrnehmung noch nicht von Labels und Marken infiltriert ist, das Referenzsystem der Popkultur seine flächendeckende Herrschaft noch nicht ausübt.
Stattdessen gibt es den literarischen Bezugsrahmen, den der Autor so dezent wie stimmig eingebaut hat: Die Freundschaft zwischen den Wanderarbeitern George und Lennie in John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ wird, wenngleich ohne tragischen Ausgang, gespiegelt im Verhältnis zwischen Jalonens Erzähler und dem bärenstarken, geistig leicht behinderten Rekku, mit dem er den Wohnwagen teilt. Das „STE-Buch“, ein verschlamptes Bibliotheksexemplar, hat Rekku mitgebracht, und er nennt es kurioserweise „Männer und Menschen“. Mit der Romanfigur Lennie verbindet ihn, neben der Zuneigung zu Kaninchen, die Tatsache, dass er eine fürsorgliche Tante hat. Bei Steinbeck ist die Dame schon verstorben, bei Jalonen hingegen quicklebendig und jung genug, um den Erzähler zum Mann zu machen, wie es so schön heißt – noch bevor er Karina, seine eigentliche Liebe, für sich erobern kann.
Was einen Mann zum Menschen macht, lernt er in diesem Sommer, indem er Verantwortung übernimmt. Für den kranken Vater, der überdies ein Familiengeheimnis mit sich herumschleppt, und für die von Sorgen geplagte Mutter. Für Rekku, der in schwierige Situationen gerät. Für die Installationsarbeiten, die man ihm anvertraut, für die Autos, die er unter dem Druck der Umstände ohne Führerschein fahren muss. Und nicht zuletzt für sich selbst, denn natürlich ist eine Zukunft als Klempner für ihn nicht vorgesehen. Dass etwas ganz anderes aus ihm werden wird, verraten nicht nur seine scharfe Beobachtungsgabe, seine Sensibilität und sein Hang zum abwägenden Nachdenken, sondern auch sein subversiv-kreatives Talent.
Es ist die große Zeit des Piratenfunks, und Karinas Zwillingsbruder Jukka, der den Helden zur Mitwirkung an seinem Projekt „Radio Satan“ überredet, reist bis nach Holland, um sich Anregungen bei „Radio Veronica“ zu holen. Über die Funkwellen kommt die große weite Welt nach Finnland, und die jungen Radiomacher sind beim Basteln ihrer Sendungen ebenso erfinderisch wie bei der Schnapsherstellung: Sie schneiden Politik-Beiträge der offiziellen Sender zu fingierten Interviews zusammen und lösen damit quer durch die einander verdächtigenden Parteien einen Sturm der Entrüstung aus. Hier, zum Beispiel, offenbart sich das humoristische Potential des Romans – nach Art des Autors lakonisch, unaufdringlich und trocken.
Was damals, im Olympiasommer des Jahres 1972, die politische Szene Finnlands bewegte, erläutert der Übersetzer Stefan Moster, Jahrgang 1964, im Anhang. Das ist einerseits hilfreich, andererseits irreführend, weil die lange Amtszeit des Staatspräsidenten Urho Kekkonen darin auf eine Weise negativ beurteilt wird, die bei so manchem Finnen der betroffenen Generation heute auf Widerspruch stoßen dürfte. Erhellender ist da die Position des Erzählers, der den politischen Debatten seiner Handwerker-Kollegen aufmerksam lauscht, ohne sich einzumischen. Und der, nachdem er die Zeitungsartikel zu dem Interview-Skandal durchforstet hat, schließlich nicht ohne Stolz feststellt: „Jetzt habe ich einen Fall von zwei Seiten betrachtet.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Alles regelt sich,
das ist die Devise des Romans,
wenn man es regelt
Was einen Mann zum Menschen macht, kann man in den Filmen des Finnen Aki Kaurismäki erfahren – Szene aus „Lichter der Vorstadt“.
Foto: Pandora
Olli Jalonen: Von Männern und Menschen. Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. mareverlag, Hamburg 2016. 544 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein finnischer Sommer, cool und warmherzig zugleich: Olli Janonens „Von Männern und Menschen“
Nur wenige Leser dürften sich aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es in Finnland vor gut vierzig Jahren war, als man das Wort „Globalisierung“ noch nicht kannte, gewisse Kreise indes die „Finnlandisierung“ als verbales Kampfgeschoss des Kalten Krieges einsetzten. Zwar waren in jener Zeit die kulturellen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern generell noch so ausgeprägt, wie es sich die Nachgeborenen kaum mehr vorstellen können. Doch Finnland hatte, bedingt durch seine politisch und wirtschaftlich ausgeklügelte, von der westlichen Rechten mit Argwohn beäugten Sonderstellung zwischen zwei konträren Gesellschaftsmodellen, eine sehr spezielle Atmosphäre, zu der die geografische und sprachliche Randlage, die dünne Besiedlung und das nordische Klima ein Übriges taten.
Die dunklen und die skurrilen Seiten dieser Konstellation wurden erst ein Jahrzehnt später durch die Brüder Kaurismäki im Kino weltbekannt, exemplifiziert vor allem an Außenseitern und Abgehängten der städtischen Zentren. Der Schriftsteller Olli Jalonen, Jahrgang 1954, siedelt seine Figuren in einem anderen, sozusagen „normaleren“ Milieu an. Im Roman „Von Männern und Menschen“ erzählt er vom Sommer des Jahres 1972 in der südfinnischen Provinz, und er tut es mit einem bedächtigen Realismus, in dem die damalige Zeitstimmung ihren adäquaten Ausdruck findet. Das ist allein schon dokumentarisch von hohem Wert. Hat man sich erst einmal auf die Handlung eingelassen, die einem anfangs ein wenig spröde und ereignisarm vorkommen könnte, wird man hinter der Langsamkeit und Geradlinigkeit dieses Erzählens die Qualitäten entdecken, die Olli Jalonen zu einem der renommiertesten finnischen Autoren gemacht haben.
Schade, dass der Roman beim Buchmessenauftritt Finnlands vor zwei Jahren noch nicht auf Deutsch vorlag – er hätte dem Bild des kleinen, eigensinnigen Literaturlandes, das damals auf „Coolness“ setzte, eine interessante Facette hinzugefügt. Denn bei der Lektüre kommt einem viel eher das Wort „warmherzig“ in den Sinn. Zugegeben, es steht auch im Klappentext, aber besser lässt sich kaum charakterisieren, wie Jalonen seinen Helden (in dem fraglos ein großer Anteil von ihm selbst steckt) und dessen Umfeld schildert.
Der Ich-Erzähler steht im Sommer 1972 kurz vor seinem 18. Geburtstag – und vor der Entscheidung, ob er das Abitur machen oder die Schule verlassen soll. Eine Lehrerin, die seine Begabung erkannt hat, will ihn als Stipendiaten in die USA empfehlen, was ihn jedoch kaum interessiert. Für ihn ist es wichtiger und zugleich selbstverständlich, seine Eltern zu unterstützen, da sein Vater nach mehreren Infarkten nicht mehr arbeiten kann. Ein Autokauf muss rückgängig gemacht werden, Raten sind abzustottern. Vetter Lampinen, entfernter Großcousin des Vaters, Freund der Familie und außerdem der besonnene Bruder des cholerischen Autohändlers, arrangiert einen Aushilfsjob in seiner Klempnerfirma „Volles Rohr“, die aus Rentabilitätsgründen vorwiegend Dächer und Regenrinnen baut. So verbringt der junge Mann seine Ferien zwischen Werkstatt und Baustellen unter erwachsenen Männern, arbeitet mit Blech, übernachtet im Wohnwagen und lernt eine neue Welt kennen, in der er sich alsbald zu Hause fühlt.
Diese Welt ist voll alltäglicher Mühsal, bevölkert von mehr oder weniger verschrobenen Individuen und keineswegs konfliktfrei. Und doch funktioniert sie, nach Vetter Lampinens Devise „Alles regelt sich, wenn man es regelt“, erstaunlich gut. Werte wie Loyalität, Empathie und Solidarität prägen, ohne beim Namen genannt zu werden, das Leben in der kleinen Gemeinschaft, und pragmatische Vernunft hilft bei Problemlösungen. Insofern ist der Provinzkosmos, den Jalonen beschreibt, repräsentativ für die finnische Gesellschaft jener Jahre, von der man durchaus den Eindruck gewinnen konnte, sie sei bemerkenswert „vernünftig“ organisiert. Hinzu kommt: Wir befinden uns in einer Zeit und in einer Gegend, in der – und das unterscheidet Jalonens Rückschau von den meisten bundesrepublikanischen Adoleszenz-Erinnerungsromanen – die Wahrnehmung noch nicht von Labels und Marken infiltriert ist, das Referenzsystem der Popkultur seine flächendeckende Herrschaft noch nicht ausübt.
Stattdessen gibt es den literarischen Bezugsrahmen, den der Autor so dezent wie stimmig eingebaut hat: Die Freundschaft zwischen den Wanderarbeitern George und Lennie in John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ wird, wenngleich ohne tragischen Ausgang, gespiegelt im Verhältnis zwischen Jalonens Erzähler und dem bärenstarken, geistig leicht behinderten Rekku, mit dem er den Wohnwagen teilt. Das „STE-Buch“, ein verschlamptes Bibliotheksexemplar, hat Rekku mitgebracht, und er nennt es kurioserweise „Männer und Menschen“. Mit der Romanfigur Lennie verbindet ihn, neben der Zuneigung zu Kaninchen, die Tatsache, dass er eine fürsorgliche Tante hat. Bei Steinbeck ist die Dame schon verstorben, bei Jalonen hingegen quicklebendig und jung genug, um den Erzähler zum Mann zu machen, wie es so schön heißt – noch bevor er Karina, seine eigentliche Liebe, für sich erobern kann.
Was einen Mann zum Menschen macht, lernt er in diesem Sommer, indem er Verantwortung übernimmt. Für den kranken Vater, der überdies ein Familiengeheimnis mit sich herumschleppt, und für die von Sorgen geplagte Mutter. Für Rekku, der in schwierige Situationen gerät. Für die Installationsarbeiten, die man ihm anvertraut, für die Autos, die er unter dem Druck der Umstände ohne Führerschein fahren muss. Und nicht zuletzt für sich selbst, denn natürlich ist eine Zukunft als Klempner für ihn nicht vorgesehen. Dass etwas ganz anderes aus ihm werden wird, verraten nicht nur seine scharfe Beobachtungsgabe, seine Sensibilität und sein Hang zum abwägenden Nachdenken, sondern auch sein subversiv-kreatives Talent.
Es ist die große Zeit des Piratenfunks, und Karinas Zwillingsbruder Jukka, der den Helden zur Mitwirkung an seinem Projekt „Radio Satan“ überredet, reist bis nach Holland, um sich Anregungen bei „Radio Veronica“ zu holen. Über die Funkwellen kommt die große weite Welt nach Finnland, und die jungen Radiomacher sind beim Basteln ihrer Sendungen ebenso erfinderisch wie bei der Schnapsherstellung: Sie schneiden Politik-Beiträge der offiziellen Sender zu fingierten Interviews zusammen und lösen damit quer durch die einander verdächtigenden Parteien einen Sturm der Entrüstung aus. Hier, zum Beispiel, offenbart sich das humoristische Potential des Romans – nach Art des Autors lakonisch, unaufdringlich und trocken.
Was damals, im Olympiasommer des Jahres 1972, die politische Szene Finnlands bewegte, erläutert der Übersetzer Stefan Moster, Jahrgang 1964, im Anhang. Das ist einerseits hilfreich, andererseits irreführend, weil die lange Amtszeit des Staatspräsidenten Urho Kekkonen darin auf eine Weise negativ beurteilt wird, die bei so manchem Finnen der betroffenen Generation heute auf Widerspruch stoßen dürfte. Erhellender ist da die Position des Erzählers, der den politischen Debatten seiner Handwerker-Kollegen aufmerksam lauscht, ohne sich einzumischen. Und der, nachdem er die Zeitungsartikel zu dem Interview-Skandal durchforstet hat, schließlich nicht ohne Stolz feststellt: „Jetzt habe ich einen Fall von zwei Seiten betrachtet.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Alles regelt sich,
das ist die Devise des Romans,
wenn man es regelt
Was einen Mann zum Menschen macht, kann man in den Filmen des Finnen Aki Kaurismäki erfahren – Szene aus „Lichter der Vorstadt“.
Foto: Pandora
Olli Jalonen: Von Männern und Menschen. Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. mareverlag, Hamburg 2016. 544 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In Olli Jalonens Finnland geht es in jedem Fall "normaler" zu als bei den Kaurismäki-Brüdern, stellt Rezensentin Kristina Maidt-Zinke nach der Lektüre fest. Beeindruckt vermerkt die Kritikerin, mit welch "dokumentarischem" Realismus Jalonen die sehr eigene Atmosphäre Finnlands vor der Globalisierung abbildet. Sie liest hier die im Sommer 1972 spielende Geschichte um einen achtzehnjährigen Ich-Erzähler, der sich gegen das Abitur und für die Verantwortung für seinen herzkranken und arbeitslosen Vater entscheidet. Wie der Autor die Solidarität und das Mitgefühl in dem kleinen südfinnischen Dorf schildert, findet die Rezensentin "warmherzig". Vor allem bewundert sie, wie subtil Jalonen John Steinbecks "Von Mäusen und Menschen" als literarischen Bezugspunkt in seine Erzählung einflicht. Und so hat sie diesen nüchternen, angenehm "spröden" und witzigen Roman mit großem Vergnügen gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2016Vom Ausschwitzen der Jugend
Mit Fichtennadelduft: Olli Jalonens tiefenentschleunigter Roman über das Erwachsenwerden, wie es einmal war
Beneidenswerte siebzehn Jahre ist er alt, der namenlose Ich-Erzähler dieses finnisch entspannten, nostalgisch realistischen Romans, der mit Liebe zum Detail den Sommer des Jahres 1972 auferstehen lässt. Wenn man noch erfährt, dass der Held sich in ein Mädchen verliebt, mit diversen Autos herumbraust, ohne den Führerschein zu besitzen, und unter Anleitung eines Freundes den Reiz des Verbotenen entdeckt - in diesem Fall den Betrieb eines Piratensenders -, dann sind die Erwartungen vollends auf die falsche Spur gesetzt. Denn mit "Tschick" verbindet das ohne viel Lakonie erzählte Buch kaum etwas. Olli Jalonens Held, der während des besagten Sommers zum Mann heranreift, hat mit der Welt einfach kein Hühnchen zu rupfen. Während Wolfgang Herrndorf die kurze, rasante Form wählte, wodurch der Abenteueraspekt der jugendlichen Reise zum eigenen Ich in den Vordergrund trat, konzentriert sich der in Finnland wohlbekannte Autor in seinem autobiographisch grundierten, tiefenentschleunigten Werk auf die ganz normale Wirklichkeit.
So erfahren wir eine Menge über das Lebensgefühl im Finnland der siebziger Jahre, das mit dem fragwürdigen Dauerregenten Urho Kekkonen einen eigenen Weg zwischen den einander frostig gegenüberstehenden Systemen suchte. Mit seinem west-östlichen Kurs brachte der Staatspräsident rechte wie linke Kritiker ebenso gegen sich auf wie mit seinen undemokratischen Sondergesetzen, die ihm etwa die Verlängerung der Amtszeit ohne Wahlen sicherten. Und doch ging alles seinen Gang. Das Leben, so stellt unser jugendlicher Held denn auch fest, besteht vor allem aus ewiger Wiederkehr: "Früher ist mir die Unveränderlichkeit nicht so aufgefallen, jedenfalls nicht so deutlich wie in diesem Jahr." Nun aber sieht er sich auf einen Schlag an die Stelle des Vaters gesetzt, der krank und arbeitslos nicht mehr als Stütze der Familie fungieren kann.
Der Erzähler nimmt die Verantwortung an, ohne zu murren. Und so haben wir den seltenen Fall eines Initiationsromans vor uns, bei dem alles glattgeht. Mit einem Ferienjob in der Sanitärfirma eines weitläufigen Verwandten zahlt der Protagonist die Schulden des Vaters ab und lernt zugleich, wie man in der Arbeitswelt seinen Platz einnimmt und kleine Konflikte regelt. Ihm wird bewusst, dass Erwachsenwerden auch bedeutet, all die vermeintlichen Regeln - "ein Mann unterwirft sich nicht einfach dem, was ein anderer ihm sagt"; "kein Mann weint im Kino" - auf ihren Gehalt zu prüfen und bei Bedarf zu verwerfen.
Mit dem geistig zurückgebliebenen, aber bärenstarken Rekku, dem unehelichen Sohn seines Arbeitgebers, verbindet den Helden schnell eine Freundschaft, zumal es zu einem unverhofften sexuellen Abenteuer mit Rekkus junger Tante kommt. In seiner Freizeit renoviert der Erzähler die heimische Sauna, hängt mit seinem technikaffinen Jugendfreund Jukka herum und verliebt sich immer mehr in dessen Schwester Karina. Viel mehr geschieht hier eigentlich nicht, aber dem Autor gelingt es, dieses von Solidarität geprägte Leben in der Provinz mit einfachen Worten als das darzustellen, was es ist: als keineswegs selbstverständliches Glück. Das fällt umso mehr auf, wenn man bedenkt, welche Sprachlosigkeit in jenen Jahren hierzulande zwischen den Generationen herrschte.
Wie es sich für einen finnischen Roman gehört, kommt dem Saunieren eine zentrale Bedeutung zu. Man kann (und soll vielleicht) auf den Gedanken kommen, dass in einer immer wieder gemeinsam dampfgegarten Bevölkerung der Gesellschaftsvertrag einfacher einzuhalten ist. Und man könnte selbst die Poetik eine wellnessorientierte nennen. Es gibt die kurzen erzählerischen Anschwitzphasen, wenn etwa die spaßeshalber zu sinnlosen Interviews zusammengeschnittenen und über die selbstgebastelte Station "Radio Satan" versendeten Reden des Präsidenten von einer hysterischen Presse als umstürzlerische Aktion bewertet werden. Es gibt die Momente plötzlicher Abkühlung, wenn Jalonens Alter Ego beispielsweise feststellen muss, dass die Entdeckung eines einzigen Knutschflecks zu heftigen Reaktionen führen kann. Aber den Großteil des Buches machen ausgedehnte Ruhephasen aus, in denen über viele Seiten hinweg allenfalls ein paar Dachrinnen angebracht werden: ein wohliges Dösen des Lesers in behaglicher Katastrophenferne.
Etwas bemüht wirkt allerdings, dass Jalonen auf intertextueller Ebene einen Gegenpol eingebaut hat. Allzu unsubtil (bis in den Titel hinein) sind die Bezüge zu John Steinbecks Erzählung "Von Mäusen und Menschen", in der zwei Wanderarbeiter von einem festen Platz im Leben träumen, aber am amerikanischen Kapitalismus scheitern. Zwar haben sie ihre Kameradschaft, doch die führt bekanntlich nur dazu, dass der Protagonist den bärenstarken, geistig zurückgebliebenen Lennie, der im Affekt einen Mord begangen hat, erschießt, bevor die Meute ihn lynchen kann. Dem Erzähler ist dieses Ende des Geschichte zuwider ("Ich weiß nicht, warum, verdammt"), und tatsächlich überschreibt er es mit seinem eigenen Lebensroman. Auch Rekku wird schließlich gewalttätig, aber niemand reagiert auf seine Wutanfälle mit Wut. Das Zivilisatorische hat über das Instinkthaft-Animalische gesiegt. Einer so direkten Botschaft hätte es gar nicht mehr bedurft, denn sie war all den Seiten zuvor längst eingeschrieben.
OLIVER JUNGEN.
Olli Jalonen: "Von Männern und Menschen". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2016. 544 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Fichtennadelduft: Olli Jalonens tiefenentschleunigter Roman über das Erwachsenwerden, wie es einmal war
Beneidenswerte siebzehn Jahre ist er alt, der namenlose Ich-Erzähler dieses finnisch entspannten, nostalgisch realistischen Romans, der mit Liebe zum Detail den Sommer des Jahres 1972 auferstehen lässt. Wenn man noch erfährt, dass der Held sich in ein Mädchen verliebt, mit diversen Autos herumbraust, ohne den Führerschein zu besitzen, und unter Anleitung eines Freundes den Reiz des Verbotenen entdeckt - in diesem Fall den Betrieb eines Piratensenders -, dann sind die Erwartungen vollends auf die falsche Spur gesetzt. Denn mit "Tschick" verbindet das ohne viel Lakonie erzählte Buch kaum etwas. Olli Jalonens Held, der während des besagten Sommers zum Mann heranreift, hat mit der Welt einfach kein Hühnchen zu rupfen. Während Wolfgang Herrndorf die kurze, rasante Form wählte, wodurch der Abenteueraspekt der jugendlichen Reise zum eigenen Ich in den Vordergrund trat, konzentriert sich der in Finnland wohlbekannte Autor in seinem autobiographisch grundierten, tiefenentschleunigten Werk auf die ganz normale Wirklichkeit.
So erfahren wir eine Menge über das Lebensgefühl im Finnland der siebziger Jahre, das mit dem fragwürdigen Dauerregenten Urho Kekkonen einen eigenen Weg zwischen den einander frostig gegenüberstehenden Systemen suchte. Mit seinem west-östlichen Kurs brachte der Staatspräsident rechte wie linke Kritiker ebenso gegen sich auf wie mit seinen undemokratischen Sondergesetzen, die ihm etwa die Verlängerung der Amtszeit ohne Wahlen sicherten. Und doch ging alles seinen Gang. Das Leben, so stellt unser jugendlicher Held denn auch fest, besteht vor allem aus ewiger Wiederkehr: "Früher ist mir die Unveränderlichkeit nicht so aufgefallen, jedenfalls nicht so deutlich wie in diesem Jahr." Nun aber sieht er sich auf einen Schlag an die Stelle des Vaters gesetzt, der krank und arbeitslos nicht mehr als Stütze der Familie fungieren kann.
Der Erzähler nimmt die Verantwortung an, ohne zu murren. Und so haben wir den seltenen Fall eines Initiationsromans vor uns, bei dem alles glattgeht. Mit einem Ferienjob in der Sanitärfirma eines weitläufigen Verwandten zahlt der Protagonist die Schulden des Vaters ab und lernt zugleich, wie man in der Arbeitswelt seinen Platz einnimmt und kleine Konflikte regelt. Ihm wird bewusst, dass Erwachsenwerden auch bedeutet, all die vermeintlichen Regeln - "ein Mann unterwirft sich nicht einfach dem, was ein anderer ihm sagt"; "kein Mann weint im Kino" - auf ihren Gehalt zu prüfen und bei Bedarf zu verwerfen.
Mit dem geistig zurückgebliebenen, aber bärenstarken Rekku, dem unehelichen Sohn seines Arbeitgebers, verbindet den Helden schnell eine Freundschaft, zumal es zu einem unverhofften sexuellen Abenteuer mit Rekkus junger Tante kommt. In seiner Freizeit renoviert der Erzähler die heimische Sauna, hängt mit seinem technikaffinen Jugendfreund Jukka herum und verliebt sich immer mehr in dessen Schwester Karina. Viel mehr geschieht hier eigentlich nicht, aber dem Autor gelingt es, dieses von Solidarität geprägte Leben in der Provinz mit einfachen Worten als das darzustellen, was es ist: als keineswegs selbstverständliches Glück. Das fällt umso mehr auf, wenn man bedenkt, welche Sprachlosigkeit in jenen Jahren hierzulande zwischen den Generationen herrschte.
Wie es sich für einen finnischen Roman gehört, kommt dem Saunieren eine zentrale Bedeutung zu. Man kann (und soll vielleicht) auf den Gedanken kommen, dass in einer immer wieder gemeinsam dampfgegarten Bevölkerung der Gesellschaftsvertrag einfacher einzuhalten ist. Und man könnte selbst die Poetik eine wellnessorientierte nennen. Es gibt die kurzen erzählerischen Anschwitzphasen, wenn etwa die spaßeshalber zu sinnlosen Interviews zusammengeschnittenen und über die selbstgebastelte Station "Radio Satan" versendeten Reden des Präsidenten von einer hysterischen Presse als umstürzlerische Aktion bewertet werden. Es gibt die Momente plötzlicher Abkühlung, wenn Jalonens Alter Ego beispielsweise feststellen muss, dass die Entdeckung eines einzigen Knutschflecks zu heftigen Reaktionen führen kann. Aber den Großteil des Buches machen ausgedehnte Ruhephasen aus, in denen über viele Seiten hinweg allenfalls ein paar Dachrinnen angebracht werden: ein wohliges Dösen des Lesers in behaglicher Katastrophenferne.
Etwas bemüht wirkt allerdings, dass Jalonen auf intertextueller Ebene einen Gegenpol eingebaut hat. Allzu unsubtil (bis in den Titel hinein) sind die Bezüge zu John Steinbecks Erzählung "Von Mäusen und Menschen", in der zwei Wanderarbeiter von einem festen Platz im Leben träumen, aber am amerikanischen Kapitalismus scheitern. Zwar haben sie ihre Kameradschaft, doch die führt bekanntlich nur dazu, dass der Protagonist den bärenstarken, geistig zurückgebliebenen Lennie, der im Affekt einen Mord begangen hat, erschießt, bevor die Meute ihn lynchen kann. Dem Erzähler ist dieses Ende des Geschichte zuwider ("Ich weiß nicht, warum, verdammt"), und tatsächlich überschreibt er es mit seinem eigenen Lebensroman. Auch Rekku wird schließlich gewalttätig, aber niemand reagiert auf seine Wutanfälle mit Wut. Das Zivilisatorische hat über das Instinkthaft-Animalische gesiegt. Einer so direkten Botschaft hätte es gar nicht mehr bedurft, denn sie war all den Seiten zuvor längst eingeschrieben.
OLIVER JUNGEN.
Olli Jalonen: "Von Männern und Menschen". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2016. 544 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main