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© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Mit Fichtennadelduft: Olli Jalonens tiefenentschleunigter Roman über das Erwachsenwerden, wie es einmal war
Beneidenswerte siebzehn Jahre ist er alt, der namenlose Ich-Erzähler dieses finnisch entspannten, nostalgisch realistischen Romans, der mit Liebe zum Detail den Sommer des Jahres 1972 auferstehen lässt. Wenn man noch erfährt, dass der Held sich in ein Mädchen verliebt, mit diversen Autos herumbraust, ohne den Führerschein zu besitzen, und unter Anleitung eines Freundes den Reiz des Verbotenen entdeckt - in diesem Fall den Betrieb eines Piratensenders -, dann sind die Erwartungen vollends auf die falsche Spur gesetzt. Denn mit "Tschick" verbindet das ohne viel Lakonie erzählte Buch kaum etwas. Olli Jalonens Held, der während des besagten Sommers zum Mann heranreift, hat mit der Welt einfach kein Hühnchen zu rupfen. Während Wolfgang Herrndorf die kurze, rasante Form wählte, wodurch der Abenteueraspekt der jugendlichen Reise zum eigenen Ich in den Vordergrund trat, konzentriert sich der in Finnland wohlbekannte Autor in seinem autobiographisch grundierten, tiefenentschleunigten Werk auf die ganz normale Wirklichkeit.
So erfahren wir eine Menge über das Lebensgefühl im Finnland der siebziger Jahre, das mit dem fragwürdigen Dauerregenten Urho Kekkonen einen eigenen Weg zwischen den einander frostig gegenüberstehenden Systemen suchte. Mit seinem west-östlichen Kurs brachte der Staatspräsident rechte wie linke Kritiker ebenso gegen sich auf wie mit seinen undemokratischen Sondergesetzen, die ihm etwa die Verlängerung der Amtszeit ohne Wahlen sicherten. Und doch ging alles seinen Gang. Das Leben, so stellt unser jugendlicher Held denn auch fest, besteht vor allem aus ewiger Wiederkehr: "Früher ist mir die Unveränderlichkeit nicht so aufgefallen, jedenfalls nicht so deutlich wie in diesem Jahr." Nun aber sieht er sich auf einen Schlag an die Stelle des Vaters gesetzt, der krank und arbeitslos nicht mehr als Stütze der Familie fungieren kann.
Der Erzähler nimmt die Verantwortung an, ohne zu murren. Und so haben wir den seltenen Fall eines Initiationsromans vor uns, bei dem alles glattgeht. Mit einem Ferienjob in der Sanitärfirma eines weitläufigen Verwandten zahlt der Protagonist die Schulden des Vaters ab und lernt zugleich, wie man in der Arbeitswelt seinen Platz einnimmt und kleine Konflikte regelt. Ihm wird bewusst, dass Erwachsenwerden auch bedeutet, all die vermeintlichen Regeln - "ein Mann unterwirft sich nicht einfach dem, was ein anderer ihm sagt"; "kein Mann weint im Kino" - auf ihren Gehalt zu prüfen und bei Bedarf zu verwerfen.
Mit dem geistig zurückgebliebenen, aber bärenstarken Rekku, dem unehelichen Sohn seines Arbeitgebers, verbindet den Helden schnell eine Freundschaft, zumal es zu einem unverhofften sexuellen Abenteuer mit Rekkus junger Tante kommt. In seiner Freizeit renoviert der Erzähler die heimische Sauna, hängt mit seinem technikaffinen Jugendfreund Jukka herum und verliebt sich immer mehr in dessen Schwester Karina. Viel mehr geschieht hier eigentlich nicht, aber dem Autor gelingt es, dieses von Solidarität geprägte Leben in der Provinz mit einfachen Worten als das darzustellen, was es ist: als keineswegs selbstverständliches Glück. Das fällt umso mehr auf, wenn man bedenkt, welche Sprachlosigkeit in jenen Jahren hierzulande zwischen den Generationen herrschte.
Wie es sich für einen finnischen Roman gehört, kommt dem Saunieren eine zentrale Bedeutung zu. Man kann (und soll vielleicht) auf den Gedanken kommen, dass in einer immer wieder gemeinsam dampfgegarten Bevölkerung der Gesellschaftsvertrag einfacher einzuhalten ist. Und man könnte selbst die Poetik eine wellnessorientierte nennen. Es gibt die kurzen erzählerischen Anschwitzphasen, wenn etwa die spaßeshalber zu sinnlosen Interviews zusammengeschnittenen und über die selbstgebastelte Station "Radio Satan" versendeten Reden des Präsidenten von einer hysterischen Presse als umstürzlerische Aktion bewertet werden. Es gibt die Momente plötzlicher Abkühlung, wenn Jalonens Alter Ego beispielsweise feststellen muss, dass die Entdeckung eines einzigen Knutschflecks zu heftigen Reaktionen führen kann. Aber den Großteil des Buches machen ausgedehnte Ruhephasen aus, in denen über viele Seiten hinweg allenfalls ein paar Dachrinnen angebracht werden: ein wohliges Dösen des Lesers in behaglicher Katastrophenferne.
Etwas bemüht wirkt allerdings, dass Jalonen auf intertextueller Ebene einen Gegenpol eingebaut hat. Allzu unsubtil (bis in den Titel hinein) sind die Bezüge zu John Steinbecks Erzählung "Von Mäusen und Menschen", in der zwei Wanderarbeiter von einem festen Platz im Leben träumen, aber am amerikanischen Kapitalismus scheitern. Zwar haben sie ihre Kameradschaft, doch die führt bekanntlich nur dazu, dass der Protagonist den bärenstarken, geistig zurückgebliebenen Lennie, der im Affekt einen Mord begangen hat, erschießt, bevor die Meute ihn lynchen kann. Dem Erzähler ist dieses Ende des Geschichte zuwider ("Ich weiß nicht, warum, verdammt"), und tatsächlich überschreibt er es mit seinem eigenen Lebensroman. Auch Rekku wird schließlich gewalttätig, aber niemand reagiert auf seine Wutanfälle mit Wut. Das Zivilisatorische hat über das Instinkthaft-Animalische gesiegt. Einer so direkten Botschaft hätte es gar nicht mehr bedurft, denn sie war all den Seiten zuvor längst eingeschrieben.
OLIVER JUNGEN.
Olli Jalonen: "Von Männern und Menschen". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2016. 544 S., geb., 24,- [Euro].
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