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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Lorenz Gallmetzer über Italien als Vorreiter populistischer Politik
Ein Buch über aktuelle politische Entwicklungen zu schreiben, womöglich über eine amtierende Regierung, ist immer mit einem Risiko verbunden: Die Dinge können sich so schnell ändern, dass die Analyse im Augenblick der Drucklegung schon überholt ist. Einen zusätzlichen Risikozuschlag müssen Autoren entrichten, die über die zeitgenössische Politik Italiens schreiben. In Rom ist derzeit Regierung Nummer 66 seit Ende des Zweiten Weltkrieges an der Macht. Das Kabinett Conte II, geführt vom parteilosen Juraprofessor Giuseppe Conte, ist im September 2019 angetreten. Es hat aktuell recht gute Überlebenschancen. Allein schon deshalb, weil wegen der Coronavirus-Pandemie derzeit kein Mensch an Neuwahlen auch nur denken mag.
Conte führt eine Linkskoalition der Fünf-Sterne-Protestbewegung und der Sozialdemokraten mit zwei weiteren kleinen Linksparteien. Die Regierung ist proeuropäisch. Man könnte sie sogar als Geschöpf von Brüssel und Berlin bezeichnen. Jedenfalls waren die EU und Deutschland die maßgeblichen Taufpaten für Conte II, nachdem der damalige Innenminister und Vize-Regierungschef Matteo Salvini von der rechtsnationalistischen Lega im August 2019 das seit Juni 2018 amtierende Kabinett Conte I in der verblendeten Hoffnung auf Neuwahlen hatte platzen lassen.
Die Regierung Conte I, eine panpopulistische Koalition aus linken Fünf Sternen und rechter Lega, stand der EU skeptisch bis feindlich gegenüber. Um einen Aufstieg Salvinis und seiner Partei Lega - bis heute nach allen Umfragen die mit Abstand stärkste politische Kraft des Landes - an die Spitze der Macht zu verhindern, setzten Brüssel, Berlin und der EU-freundliche italienische Staatspräsident Sergio Mattarella alles daran, vorgezogene Wahlen mit dem absehbaren Sieg der Rechten unter Führung der Lega zu verhindern. Giuseppe Conte durfte ein zweites Kabinett bilden. Und wurde praktisch über Nacht zum eisernen Freund der EU und von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese ewige Liebe ist aber schon wieder verrostet, weil Mutter Merkel ihrem Ziehsohn Conte die sogenannten Corona-Anleihen der EU zur Überwindung der italienischen Rezession nach der Pandemie verweigert. So schnell geht das in der italienischen Politik.
Eben zu schnell für gute Teile des Buches "Von Mussolini zu Salvini - Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus" von Lorenz Gallmetzer. Die vielen Seiten, auf welchen der aus Bozen in Südtirol stammende Journalist und langjährige ORF-Auslandskorrespondent über Matteo Salvini als den eigentlich starken Mann der Regierung Conte I handelt, waren zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches Ende September 2019 schon überholt. Überdies erfährt man über Salvini und dessen Werdegang (vom Kommunisten zum Nationalisten, vom Radiomoderator zum Volkstribun) bei Gallmetzer nur wenig mehr, als man zuvor schon aus einschlägigen Presseberichten hatte lernen können. Hinzu kommen Flüchtigkeitsfehler, die einem Italien-Kenner wie Gallmetzer gewiss nur wegen des Zeitdrucks unterlaufen sind (der Amtssitz des Innenministers in Rom ist der Palazzo del Viminale, nicht der Palazzo Chigi, in welchem sich das Amt des Ministerpräsidenten befindet).
Als Brevier zu den Besonderheiten und Absonderlichkeiten der italienischen Politik unserer Tage sowie der vergangenen Jahrzehnte taugt das Buch dennoch. Man erfährt manches über die "drei Grundübel Italiens - Bürokratie, Korruption, Justiz" - sowie über Silvio Berlusconi als Vorbildgestalt für populistische "Anti-Politiker" von Donald Trump bis Jair Bolsonaro. Am stärksten sind die Abschnitte über den Umgang der jungen italienischen Demokratie mit dem "Erbe" Benito Mussolinis und des Faschismus. Gallmetzer spricht von der "unterlassenen Vergangenheitsbewältigung" und zeigt, wie sich die Republik Italien nach Abschaffung der Monarchie von 1946 umstandslos die Tradition des Partisanenkampfes gegen Mussolinis Schwarzhemden und die deutschen Nazi-Besatzer als Ursprungsmythos der Demokratie zurechtlegte.
Dabei rekrutierten die italienischen Euro-Kommunisten, die in keiner europäischen Nachkriegsdemokratie so stark wurden wie eben in Italien, einen Gutteil ihrer Anhänger und Wähler aus faschistischen "Überläufern". So wurden die einstigen regionalen "Festungen" der Faschisten, etwa die Toskana oder Mussolinis Heimatregion der Emilia-Romagna, sozusagen über Nacht zu roten Hochburgen - und blieben es über Jahrzehnte, eigentlich bis heute.
Der eigenen politischen Vorliebe folgend, zieht Gallmetzer vor allem linksliberale Gesprächspartner und Gewährsleute heran. Damit bleiben zwei Hauptursachen für den Aufstieg von Rechtspopulisten in ganz Europa und vor allem in Italien etwas unterbelichtet: die (illegale) Immigration und der Umgang mit ihr durch die Präzeptoren des gesellschaftlichen Mainstreams - von den etablierten Parteien über die Medien und die Intellektuellen bis zu den Kirchen. Salvinis Ruf "Prima gli italiani" (Italiener zuerst) konnte nur deshalb ein so breites Echo finden, weil eine wachsende Zahl seiner Landsleute sich mit ihren echten Sorgen und vermeintlichen Nöten vom nationalen Establishment und schon gar von Europa nicht mehr ernst- oder wenigstens wahrgenommen fühlte. Salvini mag sich mit seinem missglückten Manöver vom August 2019 vorerst selbst in die Opposition katapultiert haben. Aus dem Rennen um die Macht ist er damit noch lange nicht. Als Salvini-Propädeutik bleibt Gallmetzers Buch deshalb aktuell.
MATTHIAS RÜB.
Lorenz Gallmetzer: "Von Mussolini zu Salvini". Italien als Vorreiter des modernen Nationalpopulismus.
Kremayr und Scheriau Verlag, Wien 2019. 192 S., geb., 22,- [Euro].
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