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In der Arche Albus: Ein wunderbares Kabinett der schrägen Vögel / Von Michael Maar
Manche Vögel sind schlauer, als man denkt. Kürzlich ging die Geschichte des afrikanischen Graupapageis Axel durch die Presse. An der Brandeis-Universität in Waltham, Massachusetts, wird Axel seit achtundzwanzig Jahren unterrichtet. Nicht, daß er inzwischen das Abitur gemacht hätte, aber er kann sieben Farben und fünfzig Gegenstände benennen, er zählt bis sechs, und er begreift die Bedeutung der Zahl Null. Das ehrgeizigste Ziel seiner Lehrerin bestand darin, Axel die Zerlegung von Wörtern in einzelne Buchstaben beizubringen. Wie nah sie diesem Ziel schon gekommen war, stellte sich bei einem Auftritt heraus, bei dem sie es versäumte, den Papagei nach jeder Vorführung mit der üblichen Nuß zu füttern. Eine Weile lang ließ Axel sich das Ausbleiben der Belohnung gefallen. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. "Want a nut", krächzte er vernehmlich, und mit spürbarer Gereiztheit noch einmal: "Nnn, uh, tuh."
Auch wenn nicht alle so anstellig sind wie der Papagei Axel, irgend etwas an den Vögeln hat die Menschen immer mysteriös angezogen. Für Platon war die postume Verwandlung in einen Vogel die mildeste Strafe der Götter. In der Mythologie vieler Völker sind Vögel Träger der verstorbenen Seelen. Verblüffend ist die anatomische Ähnlichkeit, wie man in Pierre Belons "Naturgeschichte der Vögel" sehen kann, in der ein Menschenskelett neben dem Skelett eines Vogels steht. Daß nur eines der beiden so gebaut ist, daß es sich zu Lebzeiten in die Lüfte erheben konnte, trägt entscheidend zur Bewunderung bei, die der Erdenkloß für die volatilen Freunde hegt. Der Mensch trage die Last seiner Schwerkraft wie einen Mühlstein am Hals, dichtet Saint-John Perse, der Vogel wie eine bunte Feder an der Stirn. Vögel zu beobachten, Bird watching, ist für manche Menschen eine eigentümliche, fast unbezwingbare Passion, wie es Arnulf Conradi in einem wunderbaren kleinen Buch beschrieb.
Ein wunderbares großes Buch über Vögel, tief melancholisch, wenn auch nicht ohne Grundierung durch Humor, hat nun Anita Albus vorgelegt, die selbst so etwas wie ein seltener Vogel ist und als altmodische Privatgelehrte und Künstlerin die Präzision der Poesie mit der Einbildungskraft der Naturwissenschaft vereint - wenn man es mit ihrem Lieblingsautor Nabokov sagen darf. Ein melancholisches Buch ist es darum geworden, weil es nicht um beliebige Vögel, sondern um aussterbende oder schon ausgestorbene Vögel geht.
In sprachlich anmutigen und metikulös gearbeiteten Porträts stellt Anita Albus in zwei Abteilungen untergegangene und gefährdete Vogelarten vor: Wandertauben, Speervögel und Aare; den Waldrapp, den Wachtelkönig, die Nachtschwalbe, die Schleier- und die Sperbereule und den sagenumwobenen Eisvogel. Durchschossen ist das Buch von herrlichen Abbildungen, darunter solchen aus der Hand der Autorin selbst, die auch als Malerin an verschollen geglaubte Traditionen der "Kunst der Künste", wie ihr 1997 veröffentlichtes großes Malereibuch hieß, meisterhaft anknüpft. Der Anhang zu dieser ornithologischen Arche Noah druckt Buffons "Abhandlung über die Natur der Vögel" ab, von der Autorin, vielleicht eine Art moderner Madame Buffon, elegant übersetzt.
Fast hundertdreißig Vogelarten sind seit 1500 ausgestorben, knapp zweitausend sind gefährdet. Was macht den Vögeln das Überleben so schwer? Eine Kombination verschiedener menschlicher Tätigkeiten, die sich ganz trivial ausnehmen können, ohne darum weniger zerstörerisch zu sein. Der Wachtelkönig wurde durch Flurbereinigung und Flußbegradigungen an den Rand des Aussterbens gebracht. Dem Waldrapp, das ist der europäische Schopfibis, ein heiliger Vogel seit Urzeiten, wurde die Malaria zum Verhängnis. Als die Epidemie in seinem letzten Refugium in der Türkei auszubrechen drohte, ließ das Gesundheitsministerium so lange DDT versprühen, bis sich keine Mücke mehr regte. Nicht einmal Skorpione überlebten den Giftangriff. Die Population der Waldrappe schrumpfte bedrohlich, aber schlimmer als die Pestizide war, wie Anita Albus zeigt, das folgende Waldrapp-Schutzprogramm.
Man muß selber nachlesen, wie der gute Wille sich so in sein Gegenteil verkehrt, daß der Helfer zum Totengräber werden konnte. Den tölpelhaft raffinierten Anstrengungen der Vogelschützer steht die allezeit wache Geschäftstüchtigkeit der Unterwelt gegenüber. Seitdem durchgesickert ist, daß einzelne Vögel nur noch in wenigen Exemplaren existieren, sind die Preise nach oben geschossen. Für ein Paar der streng geschützten blauen Spixaras boten Privatsammler 80 000 Dollar. Es ist, um das Klischee zu verwenden, ein ornithologischer Krimi, den Anita Albus in ihrem Kapitel "Aareinsamkeit" erzählt; eine in ihren Verwicklungen leicht phantastisch anmutende Geschichte von intern verfeindeten Papageienrettungskomitees, von südamerikanischen Schmugglerbanden und einer Razzia in Asunción, bei der zwanzig Polizeioffiziere erfolglos das Haus eines verdächtigen Wildtierhändlers durchsuchen, bis sie hören, wie im zweiten Stock eine Tür zuschlägt - das fliehende Dienstmädchen, in dessen Reisetasche sich zwei flaumige Spixara-Küken finden.
"Von seltenen Vögeln" ist keine griesgrämige Klage, sondern unerhört farbig und anschaulich. Jeder, der schon einmal einen Vogelschwarm beobachtet und versucht hat, die pulsierende Woge in Worte zu fassen, kennt das Gefühl der Resignation bei dieser schwersten aller Herausforderungen an die Beschreibungskunst. Eine der unvergeßlichen Szenen dieses Buches ist die Schilderung der schwarzen Wolke, die im Herbst 1813 über Kentucky wegzog und den Himmel verdunkelte wie eine Sonnenfinsternis. Es war ein Zug Wandertauben, der über das Land herfiel. Schmelzenden Schneeflocken gleich regnete der Vogelmist auf den Überlieferer des Naturschauspiels herab, den Vogelmaler John James Audubon. Drei Tage lang brach der Vogelzug nicht ab. Es ist schwer zu glauben, aus wie vielen Einzelwesen, die durch ein Gedächtnis verbunden schienen, er bestand: nicht Millionen, sondern anderthalb bis zwei Milliarden. Versuchte ein Falke einen Vogel aus der Schar zu reißen, schreibt Audubon, schossen die Tauben unter dem Donnergrollen ihrer aneinanderschlagenden Fittiche zu einer festen Masse zusammen. Wie ein lebendiger Strom stürzen sie geballt hernieder, fallen bis zum Boden herab, steigen wie eine mächtige Säule senkrecht empor, kreisen und winden sich gleich den Spiralen einer gigantischen Schlange; bald rötlich, bald schieferblau schillernd, wie das Gefieder der einzelnen Wandertaube im Nacken zwischen Purpurviolett, Gold und Grün changiert.
Das Gemetzel, das die Landbevölkerung unter den nahrungsuchenden Tauben anrichtete, war furchtbar. Auch ihre Nistplätze wurden vernichtet. Im späten neunzehnten Jahrhundert war der Riesenschwarm schon stark geschrumpft. Natürliche Feinde, Unwetter, Waldbrände und Virusepidemien besorgten den Rest. 1909 waren zwei Tauber und eine Täubin im Zoo von Cincinnati als letzte Überlebende zu sehen. Ein Jahr später war die Täubin allein. Sie hieß Martha - nach der Frau George Washingtons, nicht nach der Schwester des Lazarus, wie Albus witzig bemerkt. Martha starb 1914, mit ihr die Art der Wandertaube; anders als Lazarus nicht nur auf Bewährung, sondern pour du bon.
Die rotäugige Wandertaube, die sich mit einer Milliarde Stammesfreundinnen zur schillernden Riesenschlange zusammenschließt, ist nur einer der Vögel, die Anita Albus uns plastisch vor Augen rückt. Die Nachtschwalbe, die man nach einem ungerechtfertigten Verdacht über ihre Ernährungsgewohnheiten "Ziegenmelker" heißt, wegen ihres geräuschlosen Fluges auch Fledermauskönig, wegen des Klagerufs auch Totenvogel und wegen ihrer Tarnfähigkeit Fliegende Kröte - diese Nachtschwalbe ist wohl der schrägste Vogel in diesem Kabinett. Der Ziegenmelker ist ein Meister der Mimikry und des Trompe-l'oeil, der sich auf jeder Baumrinde unsichtbar macht. Er kann mit dem Hinterkopf sehen - so wirkt es wenigstens, wenn er seine eminent beweglichen Augäpfel nach hinten stellt. Treibt man ihn in die Enge, gebärdet er sich mit seinem großen roten Rachen wie eine fauchende Kobra. Gegen eine Schlange als Schlange aufzutreten hilft ihm aber nicht, da verfährt er anders: Wird er von einer Kreuzotter bedroht, hypnotisiert er sie durch starren Blick und rhythmisch wiegendes Heben und Senken der Schwingen. Die Otter macht sich dann etwas benommen aus dem Staub. Im Winter und beim Hungern kann die Körpertemperatur des Ziegenmelkers auf 14 Grad Celsius sinken. Bei Kälte-Experimenten hat er sogar schon 5° C erreicht und überlebt. Bei den Hopi-Indianern heißt er darum Schläfer. Er wird als Bote der Verstorbenen, aber auch als vampirische Seele angesehen.
Nicht weniger erstaunlich ist die Schleiereule. Ihr Liebesleben hat etwas Maßloses selbst im Reich jener Tiere, die der Umgangssprache nicht zufällig Verbmaterial zufüttern. Erst muß der Eulerich den sichersten Brutplatz gegen Rivalen verteidigen, nächtelang singen und locken, ein Dutzend Mäuse als Vorrat anhäufen, seine Flugkünste und seinen Mut im Kampf gegen stärkere Eulen beweisen. Dann ist er so weit, daß die Umworbene sich immerhin seinen Trippeltanz anschaut, den er mit Fauchen und Zungenschnalzen unterlegt. Wenn er diesen Tanz dann noch mit dem Präsent einer frisch geschlagenen Maus verbindet, zeigt sich die dame sans merci endlich gezähmt. Der Lohn erweist sich aller Mühen wert. Die Schleiereule fordert ihn fiepend zur Paarung auf, der Eulerich steigt ihr stakkatoartig gackernd auf den Rücken. Ihr sogenannter Tretakt ist nicht wie der anderer Vögel auf wenige Sekunden beschränkt, erfahren wir bei Albus, sondern währt bis zu einer Minute, begleitet von einem sich steigernden Schnarchton des Galans, der seine Erregung nach dem Absprung girrend ausklingen läßt, bevor sich das Pärchen gründlich das Gefieder krault oder Brust an Brust einnickt. Diese Zeremonie wird vom Weibchen mindestens einmal pro Stunde gefordert; Tag wie Nacht.
Das ist die Liebe, aber noch erstaunlicher ist die Jagd. Die Schleiereule kann in einem vollkommen abgedunkelten Raum in lautlosem Flug auf Anhieb eine raschelnde Maus fangen. Sie hat nämlich ein dreidimensionales Gehör, das feinste in der Vogelwelt überhaupt. Ihre Ohrmuscheln sind zwei Parabolschirme, die sie zum Lauschen kreisrund vorspreizt. Ein Neuronensystem in ihrem Mittelhirn trägt die eintreffenden Schallwellen gewissermaßen auf einer Raumkarte ein. Der Trick beim Horchpeilen in der Finsternis ist eine leichte Asymmetrie der Ohrklappen. Die linke Klappe steht etwas weiter oben vom Schädel ab als die rechte, dadurch trifft der Schall auf dem einen Ohr minimal verzögert ein. Es ist der Bruchteil einer Sekunde, aber er genügt: durch die unterschiedliche Frequenzintensität kann das Eulengehirn die Geräuschquelle exakt orten. Ein raffiniertes Federsystem sorgt dann dafür, daß sich beim Sturzflug der Luftstrom in feinste Verwirbelungen auflöst. Die Folge ist, daß kein Eigengeräusch entsteht, durch das die Beutelaute maskiert und die Opfer gewarnt würden. Das sind schlechte Nachrichten für die Maus, aber es steigert unsere Bewunderung für die Findigkeit von Mutter Natur.
Der Mensch ist ebenfalls findig, hat freilich nicht immer die glücklichste Hand. Wie schon beim Waldrapp zu bemerken war, kann auch der beste Wille schaden. Es erinnert stark an die dilettantischen Experimente Bouvards und Pécuchets, wie die Papageienschützer den Aras elektronische Sender um den Hals binden, bis sie feststellen müssen, daß die Dauerbestrahlung zu Sittenverrohung, Gruppenzerfall und Mordlust führt. Auf der andern Seite hat dieser Eifer etwas Rührendes. Der Mensch ist der große Artenvernichter, einerseits. Immer wieder fühlt man sich bei der Albus-Lektüre darum in die Jugend zurückversetzt, in der jeder "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses" las; jeder mit dem haßglühenden Wunsch nach einer Zeitmaschine und höllespeienden Waffen, mit denen den ins Aussterben manövrierten Indianerstämmen beizustehen wäre.
Und doch gibt es diese andere Seite, die Subtilitäten und energischen Schritte, mit denen eine Handvoll Vogelschützer und Politiker versuchen, eine bedrohte Art zu retten und noch lebende Exemplare zu schützen. Fünfzehn Wachtelkönigmännchen haben den Bau einer ganzen Trabantenstadt verhindert. Die süßen Vögel fressen, wenn es sein muß, seelenruhig ihre eigenen Kinder. Das eine oder andere ist auch für den Menschen in die Schale zu legen, schutzbedürftig auch er. Der lakonische letzte Satz dieses Buches ist darum vielleicht sein schönster. Anita Albus kehrt von den Eisvögeln zurück zu den Irokesen: "Am Schicksal dieser Völker gemessen, geht es den Königsfischern diesseits und jenseits des Ozeans noch gut."
In ihrem Nachwort wird die Autorin prinzipiell und nimmt den Reduktionismus und die Evolutionstheorie ins Gebet, klug und kühl; scheinbar kühl, in Wahrheit mit Irokesinnen-Grimm. Es ist nicht auszuschließen, daß manche Leser ihre Darstellung des wissenschaftlichen Status quo als leicht gefärbt empfinden. Es gibt die Evolutionstheorie als Gesamtheit ja sowenig, wie es den Vogel gibt; es gibt viele Klassen und Unterarten, und keineswegs alle Evolutionstheoretiker spielen gedanklich mit der Verbesserung des menschlichen Genotyps, wie Albus es befürchtet. Die wenigen, die es tun, bilden eine ebenso kleine Spezies wie die Spixaras. Auch die jüngeren Erkenntnisse der Hirnforschung lassen sich nicht alle mit dem Hinweis auf eine ihnen zugrunde liegende logische Antinomie wegwischen. Es stimmt, daß die Dinge verzwickt werden, sobald die Willensfreiheit ins Spiel kommt, die angeblich durch neuronale Verdrahtung aufgehoben sei. Dennoch sind diese Wissenschaftler keine Idioten. Im Haus des Herrn ist auch eine Wohnung für den Hirnforscher. Sicher wäre sie schöner mit einem Bauer darin, aus dem ein Sittich guckt, und einem Albus-Aquarell an der Wand.
Ganz sicher ist, daß man beim Verlassen dieser großen Arche nicht umhinkann, das Lob dreifach zu türmen. Lob dem Verlag, der ein solches Risiko eingeht; Lob dem Hersteller, der ein so exorbitant schönes Buch schaffen konnte, ein Wunderwerk des gestalterischen Geschmacks, mit Bildern ausgestattet, die in ihrer Opulenz an träumerisch verwehte alte Zeiten erinnern; und Lob der Autorin, Malerin, Forscherin, die alle ihre Talente und Fähigkeiten gebündelt hat, um ein Werk vorzulegen, auf das man im Jahr 2005 nicht mehr zu hoffen gewagt hätte und nach dem jeder rechtschaffene Hahn oder Graupapagei krähen muß.
Anita Albus: "Von seltenen Vögeln". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. Mit zahlreichen Abbildungen und zwei Falttafeln. 297 S., geb., 45,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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