TIME-Korrespondent Simon Shuster berichtet seit Beginn der russischen Invasion aus dem Inneren des Präsidentenpalasts, zweimal ist er mit dem ukrainischen Präsidenten an die Front gereist. Er hat, wie kaum ein anderer, Zugang zu Selenskyi, seiner Frau, seinen Freunden, seinen hochrangigen Mitarbeitern und Beratern. Mit The Fight is Here ist Shuster nicht nur eine einzigartig facettenreiche und intime Biografie des ukrainischen Präsidenten gelungen, sondern auch die fesselnde und profund recherchierte Chronik eines unsere Weltordnung nachhaltig verändernden Krieges.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Ein Buch über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und sein Umfeld im Krieg
Als am Silvesterabend 2018 ein Schauspieler in der Ukraine in seinem Fernsehauftritt verkündete, er gehe in die Politik und werde 2019 an der Präsidentenwahl teilnehmen, fesselte das große Land im Osten seine Betrachter auf ganz neue Art. Dieser Auftritt Wolodymyr Selenskyjs: War das Ernst oder Spaß? Viele nannten ihn geringschätzig "Komiker", übersahen, dass der Jurist nicht nur auf der Bühne ein Talent, sondern auch als Chef einer Fernsehproduktionsfirma sehr erfolgreich war. Dennoch war sein weiterer Werdegang erstaunlich: seine Wandlung zum Politiker, der den höchsten Wahlsieg in der Geschichte der Ukraine einfuhr, ebenso wie sein erzwungener Wechsel in die Rolle des Oberbefehlshabers, dem viele im Ausland eine "Niederlage nach drei Tagen" gegen Russland voraussagten.
Simon Shuster, dessen Vater aus der Ukraine und dessen Mutter aus Russland stammt - die Familie emigrierte 1989 mit dem Jungen nach Amerika - hat ein lesenswertes Buch über Selenskyj und den Krieg Russlands gegen die Ukraine geschrieben. Der Journalist ist für das amerikanische Magazin "Time" tätig; er begegnete Selenskyj 2019 zum ersten Mal. Im Krieg bekam er Zugang zum innersten Kreis in Kiew: zum Kriegspräsidenten und seiner Frau Olena, zu Armeechef Walerij Saluschnyj und vielen anderen. Shuster hat etwas zu erzählen, und er kann erzählen.
Er behandelt die Vorgeschichte des Krieges, für dessen Heraufziehen es über drei Monate hinweg Anzeichen gab, die weltweit diskutiert wurden. Letzte Anrufe, etwa von Olaf Scholz bei Wladimir Putin, ergaben von russischer Seite nur die Auskunft: "Niemand hat die Absicht, die Ukraine zu überfallen." Dem Bundeskanzler blieb nicht viel anderes übrig, als diese Lüge im nächsten Telefonat nach Kiew weiterzuleiten. Dann, am Tag des Kriegsausbruchs, die erste Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs mit Selenskyj. Mehrere boten sich der Ukraine am ersten Tag als Vermittler an, um mit Russland die Bedingungen für eine Kapitulation auszuhandeln. Sanktionen? Deutschland und Österreich wollten die Verbindungen zum russischen Bankensystem nicht kappen, um den Öl- und Gashandel aufrechtzuerhalten. Dann sprach Selenskyj, nur fünf Minuten lang: "Dies ist vielleicht das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen." Seine Worte hätten in Brüssel mehr verändert als die jahrelangen Debatten über Russland, schreibt der Autor. Ähnliche Sätze, Abschiedsworte von Kiewer Ministern an ihre Familien, ehe diese zur Flucht nach Polen aufbrechen, werden im Buch noch wiederkehren. Aber Shuster drückt nicht auf die Tränendrüse. Wenn er Angst und Mut, Verzweiflung oder hoffnungslose Dilemmata schildert, bleibt er bei den führenden Akteuren, bei ukrainischen und ausländischen Politikern, hohen Militärs, Diplomaten. Wichtige Aussagen beglaubigt er mit Fußnoten und Quellen.
Wer den Ukrainekrieg verfolgt hat und jetzt dieses Buch liest, dürfte auf einiges Neue stoßen; oder auf Bekanntes, das aber von der nachfolgenden Informationsflut überspült worden war. Zum Beispiel, dass Selenskyj im Schock der ersten Wochen, als seine Delegation an der polnisch-belarussischen Grenze mit den Russen verhandelte, bereit war, das Verfassungsziel des NATO-Beitritts aufzugeben; woran der "Blitzkrieg" von angeblich 7000 gepanzerten Fahrzeugen, die auf Kiew vorrückten, scheiterte; wie (streckenweise holprig) die Zusammenarbeit des Generals Saluschnyj mit US-Generalstabschef Mark Milley und mit Selenskyj verlief - das sind wichtige Bausteine für eine Geschichte dieses größten Krieges in Europa seit 1945. Hinzu kommen farbige Schilderungen, etwa von der gemeinsamen Zugfahrt in die gerade durch die ukrainische Armee befreite Großstadt Cherson; Shuster darf das Abteil Selenskyjs betreten, und dieser liest gerade ein Buch über Hitler und Stalin, "eine vergleichende Studie über die beiden Tyrannen, die die Ukraine am übelsten gequält hatten". Auch eine Churchill-Biographie hat der David von Kiew während seines Kampfes gegen den russischen Goliath gelesen. Doch würde er sich lieber an Charlie Chaplin orientieren, sagte Selenskyj zu Shuster, "weil er während des Zweiten Weltkrieges Information als Waffe einsetzte, um gegen den Faschismus zu kämpfen". Olaf Scholz, der amüsant beschrieben wird, ist ein kleines Kapitel gewidmet, weil Shuster Gelegenheit hatte, gemeinsam mit "Time"-Kollegen den Kanzler zu interviewen. Selenskyj glaube, Scholz habe eine "strategische Entscheidung" getroffen, bestimmte Waffen nicht zu liefern; darüber seien die beiden "mehrmals aneinandergeraten", so fasst der Autor seine Eindrücke aus seinen Gesprächen auch mit Selenskyj zusammen.
Das große Rätsel bleibt: Wie konnte David gegen Goliath so lange so erfolgreich sein? Aussprüche des Präsidenten lassen durchscheinen, dass dieser - manchmal an der Grenze zu Naivität oder Größenwahn - vor allem von dem Gefühl beseelt war, mit seinem Abwehrkampf im Recht zu sein. "Russland kann gar nicht so viele Raketen haben, wie unser Volk Überlebenswillen hat", sagte er einmal. Allerdings kann das Buch nur kursorisch auf die Entwicklung im zweiten Kriegsjahr eingehen. Doch die Triebfeder Selenskyjs, wie Shuster sie beschreibt, ist geblieben: "Er hatte sich vorgenommen, den Kreislauf imperialer Unterdrückung zu durchbrechen." Diese wichtige Aufgabe in der Geschichte seines Landes habe er noch nicht erfüllt. GERHARD GNAUCK
Simon Shuster: "Vor den Augen der Welt: Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine". Goldmann, aus dem Englischen von Henning Dedekind, Karsten Petersen, Thomas Stauder. 528 Seiten, 26 Euro.
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