"Ein mutiger Text, der explizit das Begehren einer Frau in einer so radikalen Perspektive benennt, wie man es eigentlich nur von Männern kennt, ein Text, der von Überschreitung handelt, einem Abweichen von der Norm, und der eine enorme Spannung erzeugt." Hubert Winkels beim Bachmann-Bewerb 2018 Judith ist Zahnärztin und lebt auf einer norddeutschen Insel mit ihrem Ehemann, einem Psychiater. Sie fu¿hren eine eher lieblose Ehe, was ihn aber nicht davon abhält, ihre wechselnden außerehelichen Liebschaften zu analysieren. Das Städtchen ist klein, nicht einmal zweitausend Einwohner. Neun Zwölftel des Jahres ist Nebensaison. Doch zweimal im Jahr fallen die Reichen ein, zweimal im Jahr ist Hochsaison, dann kommt Judith auch privat auf ihre Kosten: Sie ist Erotomanin, auf der Suche nach einer freien Sexualität, sie ist frei von den Grenzen des allgemein Konformen, Männer warten bei ihr vergeblich auf Erlösung oder gar Liebe. Jetzt sind die Weihnachtsgäste abgereist, und ein vom Wintersturm angeschwemmter Eisblock treibt auf das kleine, direkt an der Wattseite der Insel gelegene Warfthaus der Eheleute zu. In dem Maße, wie sich die Eismasse Meter fu¿r Meter nähert und mit der nächsten Springflut das Haus unter sich zu begraben droht, nimmt die Erzählung eine immer dramatischere Wendung, entwickelt sich ein von Judith so präzis im Voraus geplantes erotisches Rendezvous immer mehr gegen ihre Erwartungen. Ebenso konkret wie ironisch beschreibt Corinna T. Sievers eine Frau, die sich offen ihrem Begehren hingibt. "Vor der Flut" verhandelt das traditionelle Konzept von Liebe und weiblicher Sexualität auf ungewohnte Weise und treibt ein Spiel mit gesellschaftlichen und geschlechtlichen Machtverhältnissen - originell und spannend bis zum Schluss.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2019Die Sünde der Zahnärztin
Literarische Triebabfuhr mit Corinna T. Sievers
Manche Feministinnen feiern die Ähnlichkeit männlicher und weiblicher sexueller Bedürfnisse als Gleichberechtigung. Angeblich haben Frauen da Nachholbedarf, sie holen sich das, was sie sexuell brauchen, ungeachtet gesellschaftlicher Tabus und triumphieren, wenn sie Männer beherrschen oder abhängig machen. Doch nach wie vor wird weibliche Promiskuität schnell ins Pathologische abgeschoben, das männliche Pendant eher als Donjuanismus toleriert. Gleichberechtigte Intimpartnerschaft zwischen Mann und Frau sieht anders aus, aber die zu beschreiben, hat Corinna T. Sievers nicht beabsichtigt. Vielmehr wollte sie provozieren. Das kann verstimmen und abschrecken. Einige Juroren in Klagenfurt haben das im vergangenen Jahr mutig und spannend genannt. Für die Autorin des Romans "Vor der Flut" ist Houellebecq das unerreichte Vorbild. "Feuchtgebiete" und "Fifty Shades of Grey" mögen auch dazugehören.
Als eine "ungewöhnlich Liebende" wurde ihre Ich-Erzählerin bezeichnet. Ein Missverständnis, denn das ist sie gerade nicht. Nicht einmal die Sehnsucht nach Liebe ist ihr geblieben, nachdem sie ihre sexuellen Bedürfnisse ausschließlich auf fast mechanische Triebbefriedigung konzentriert und reduziert hat. Nicht zufällig heißt sie Judith, ist Zahnärztin wie die Autorin, etwa gleich alt und ähnlich attraktiv, aber auch von der Angst vor Alter und dem Verlust ihrer makellosen zarten Schönheit geplagt.
Auf der ersten Seite stellt sie sich vor: "Ich bin einundfünfzig Jahre, Zahnärztin und Nymphomanin." Sie verspricht, ihre Geschichte mit "schonungsloser Ehrlichkeit und Offenheit" zu erzählen. Das Ziel sei "Versöhnung, Trennung oder Tod", heißt es pathetisch weiter. Das wiederholt zitierte Symbol - Judith schlägt Holofernes nach dem Koitus den Kopf ab - widerspricht allerdings diesem Ziel, es gibt gar keine Alternative, das katastrophale Ende steht von vornherein fest. Der fünfhundertste Sexpartner wird der letzte sein. Von Liebhabern zu sprechen verbietet sich bei dieser monströsen Zahl, über die man auch wie über manche andere horrende Übertreibung lachen könnte.
Judiths Ehemann, ein alt gewordener Psychoanalytiker, hat schon vorher den Kampf aufgegeben. Die Autorin hat ihm nur die Rolle einer hilflosen Nebenfigur zugeteilt. Nymphomanie ist eine Krankheit, purer Wahnsinn, eine oft unheilbare Sucht. Das weiß er. Auch Freud, den er immer wieder zu Rate zieht, scheiterte. Die möglichen Ursachen - Verletzungen wie Missbrauch in früher Kindheit - versucht der kundige Ehemann nicht einmal nachzuweisen, geschweige denn zu behandeln. Doch er lässt sich genau berichten, was seine Frau bei ihren Eskapaden erlebt.
Er wird so zum Mitwisser. Das hat voyeuristische Aspekte, ist aber auch eine Art Masochismus und bezeichnend für die Art des Zusammenlebens von zwei einst Liebenden, denen in fünfundzwanzig Ehejahren eine innere Bindung abhandengekommen ist. Seine psychoanalytischen Kommentare fallen so nüchtern aus, wie er es als Arzt es gelernt hat. Aber auch die genauen Beschreibungen seiner Frau über ihre perfekten Praktiken in fremden Betten ähneln in ihrer oft sachlichen Tonlage Arztbriefen oder der Gebrauchsanweisung für einen Hochleistungsstaubsauger.
Gefühle sind von vornherein ausgeschaltet. Eiszeit, totale Erstarrung im Ritual, zu dem auch noch der anschließende Waschzwang zur Wiederherstellung der Illusion von weiblicher Unversehrtheit gehört. Die pure "Triebabfuhr" - so die Erzählerin - ist desaströs und durch Wiederholung auch sehr langweilig.
Aber wem erzählt sie das alles eigentlich? Dem alten Mann am Tresen der Bar, der ihr mit reichlich Whisky bis vier Uhr morgens zuhört? Er hat Flügel, einen eckigen Heiligenschein und eine Zunge, die nach köstlichem Obst schmeckt. Er erteilt ihr Absolution: Sie sei eine Sünderin, aber sie könne nichts dafür. Nach so viel alkoholseligem Kitsch muss man lachen. Auf die Frage nach der Mitverantwortung des Lektorats, das ja einiges an Geschmacklosigkeit und unfreiwilliger Komik hätte verhindern können, hat die Autorin in einem Interview ihren Verleger genannt.
Nicht verschwiegen werden soll, was Corinna T. Sievers wirklich kann: Naturereignisse auf einer nördlichen Insel beschreiben, die ein wenig an die Klischees von Sylt erinnert, das Stammpublikum an der Bar eines Sternehotels eingeschlossen. Auch diese Szenen sind üppig mit Symbolen befrachtet: Winter, ein Schneesturm und ein Eisberg, der bedrohlich auf die Warft zutreibt, auf der die Erzählerin mit ihrem Freudianer im Haus eines Walfängers wohnt. Der Schneesturm ist Gleichnis für Judiths Gefühlskälte - und das einzig Spannende in diesem Machwerk aus kalkulierter Provokation. Eine Flutwelle schleudert schließlich den Eisberg an Land und rammt das Walfängerhaus. Der betrogene Ehemann stirbt unter den Trümmern. Ein Glück, Judith braucht ihren Holofernes gar nicht mehr eigenhändig zu köpfen.
MARIA FRISÉ
Corinna T. Sievers:
"Vor der Flut". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2019. 222 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Literarische Triebabfuhr mit Corinna T. Sievers
Manche Feministinnen feiern die Ähnlichkeit männlicher und weiblicher sexueller Bedürfnisse als Gleichberechtigung. Angeblich haben Frauen da Nachholbedarf, sie holen sich das, was sie sexuell brauchen, ungeachtet gesellschaftlicher Tabus und triumphieren, wenn sie Männer beherrschen oder abhängig machen. Doch nach wie vor wird weibliche Promiskuität schnell ins Pathologische abgeschoben, das männliche Pendant eher als Donjuanismus toleriert. Gleichberechtigte Intimpartnerschaft zwischen Mann und Frau sieht anders aus, aber die zu beschreiben, hat Corinna T. Sievers nicht beabsichtigt. Vielmehr wollte sie provozieren. Das kann verstimmen und abschrecken. Einige Juroren in Klagenfurt haben das im vergangenen Jahr mutig und spannend genannt. Für die Autorin des Romans "Vor der Flut" ist Houellebecq das unerreichte Vorbild. "Feuchtgebiete" und "Fifty Shades of Grey" mögen auch dazugehören.
Als eine "ungewöhnlich Liebende" wurde ihre Ich-Erzählerin bezeichnet. Ein Missverständnis, denn das ist sie gerade nicht. Nicht einmal die Sehnsucht nach Liebe ist ihr geblieben, nachdem sie ihre sexuellen Bedürfnisse ausschließlich auf fast mechanische Triebbefriedigung konzentriert und reduziert hat. Nicht zufällig heißt sie Judith, ist Zahnärztin wie die Autorin, etwa gleich alt und ähnlich attraktiv, aber auch von der Angst vor Alter und dem Verlust ihrer makellosen zarten Schönheit geplagt.
Auf der ersten Seite stellt sie sich vor: "Ich bin einundfünfzig Jahre, Zahnärztin und Nymphomanin." Sie verspricht, ihre Geschichte mit "schonungsloser Ehrlichkeit und Offenheit" zu erzählen. Das Ziel sei "Versöhnung, Trennung oder Tod", heißt es pathetisch weiter. Das wiederholt zitierte Symbol - Judith schlägt Holofernes nach dem Koitus den Kopf ab - widerspricht allerdings diesem Ziel, es gibt gar keine Alternative, das katastrophale Ende steht von vornherein fest. Der fünfhundertste Sexpartner wird der letzte sein. Von Liebhabern zu sprechen verbietet sich bei dieser monströsen Zahl, über die man auch wie über manche andere horrende Übertreibung lachen könnte.
Judiths Ehemann, ein alt gewordener Psychoanalytiker, hat schon vorher den Kampf aufgegeben. Die Autorin hat ihm nur die Rolle einer hilflosen Nebenfigur zugeteilt. Nymphomanie ist eine Krankheit, purer Wahnsinn, eine oft unheilbare Sucht. Das weiß er. Auch Freud, den er immer wieder zu Rate zieht, scheiterte. Die möglichen Ursachen - Verletzungen wie Missbrauch in früher Kindheit - versucht der kundige Ehemann nicht einmal nachzuweisen, geschweige denn zu behandeln. Doch er lässt sich genau berichten, was seine Frau bei ihren Eskapaden erlebt.
Er wird so zum Mitwisser. Das hat voyeuristische Aspekte, ist aber auch eine Art Masochismus und bezeichnend für die Art des Zusammenlebens von zwei einst Liebenden, denen in fünfundzwanzig Ehejahren eine innere Bindung abhandengekommen ist. Seine psychoanalytischen Kommentare fallen so nüchtern aus, wie er es als Arzt es gelernt hat. Aber auch die genauen Beschreibungen seiner Frau über ihre perfekten Praktiken in fremden Betten ähneln in ihrer oft sachlichen Tonlage Arztbriefen oder der Gebrauchsanweisung für einen Hochleistungsstaubsauger.
Gefühle sind von vornherein ausgeschaltet. Eiszeit, totale Erstarrung im Ritual, zu dem auch noch der anschließende Waschzwang zur Wiederherstellung der Illusion von weiblicher Unversehrtheit gehört. Die pure "Triebabfuhr" - so die Erzählerin - ist desaströs und durch Wiederholung auch sehr langweilig.
Aber wem erzählt sie das alles eigentlich? Dem alten Mann am Tresen der Bar, der ihr mit reichlich Whisky bis vier Uhr morgens zuhört? Er hat Flügel, einen eckigen Heiligenschein und eine Zunge, die nach köstlichem Obst schmeckt. Er erteilt ihr Absolution: Sie sei eine Sünderin, aber sie könne nichts dafür. Nach so viel alkoholseligem Kitsch muss man lachen. Auf die Frage nach der Mitverantwortung des Lektorats, das ja einiges an Geschmacklosigkeit und unfreiwilliger Komik hätte verhindern können, hat die Autorin in einem Interview ihren Verleger genannt.
Nicht verschwiegen werden soll, was Corinna T. Sievers wirklich kann: Naturereignisse auf einer nördlichen Insel beschreiben, die ein wenig an die Klischees von Sylt erinnert, das Stammpublikum an der Bar eines Sternehotels eingeschlossen. Auch diese Szenen sind üppig mit Symbolen befrachtet: Winter, ein Schneesturm und ein Eisberg, der bedrohlich auf die Warft zutreibt, auf der die Erzählerin mit ihrem Freudianer im Haus eines Walfängers wohnt. Der Schneesturm ist Gleichnis für Judiths Gefühlskälte - und das einzig Spannende in diesem Machwerk aus kalkulierter Provokation. Eine Flutwelle schleudert schließlich den Eisberg an Land und rammt das Walfängerhaus. Der betrogene Ehemann stirbt unter den Trümmern. Ein Glück, Judith braucht ihren Holofernes gar nicht mehr eigenhändig zu köpfen.
MARIA FRISÉ
Corinna T. Sievers:
"Vor der Flut". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2019. 222 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main