Kriminaldirektor a. D. Manz hat sich behaglich eingerichtet in seinem Ruhestand im Dresdner Umland. Er rudert auf der Elbe, kümmert sich um seine Enkelkinder. Doch dann reißt ihn ein Brief der Staatsanwaltschaft Berlin aus seinem Alltag: Manz soll vor Gericht aussagen. Es geht um einen Mord im Jahr 1990, seinen letzten Fall in Berlin, den er nicht mehr abschließen konnte, weil er versetzt wurde. Jetzt, über zwanzig Jahre später, scheint der Mörder gefunden. Und es geschieht, was Manz nie wollte: Er versinkt in der Vergangenheit, in alten Denkmustern, und auch Vera erscheint vor seinem inneren Auge, die Kollegin, mit der er damals zusammengearbeitet hat und die sich kurz darauf das Leben genommen hat. Haben sie bei ihren Ermittlungen einen Fehler gemacht? Beim Prozess in Berlin muss Manz feststellen, dass etwas gründlich schiefläuft. Steht ein Unschuldiger vor Gericht? Die Aufklärung des Falls verschränkt sich untrennbar mit Manz' Blick in seine eigene Vergangenheit, der Auseinandersetzung mit sich selbst, seinem Älterwerden – und all das vor dem Hintergrund der wiedervereinigten Bundesrepublik.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Stefan Fischer findet Matthias Wittekindts Roman um einen Ermittler in Pension und einen alten Fall anregend. Nicht so sehr der vor Gericht wieder aufgerollte, aber weiter unklar bleibende Fall von 1990, in dem der Protagonist ermittelt, ist es, der Fischer an dem Text fasziniert. Viel aufregender scheint ihm, wie Wittekindt seine Figur zeichnet, als skrupulösen, genauen, seine eigene Wahrnehmung (auch in familiären Dingen) hinterfragenden Kriminalisten und Menschen. Die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der Hauptfigur und dem Bild, das der Erzähler von ihr entwirft, scheint Fischer besonders zu interessieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2021Hasenjagd mit vielen Igeln
Krimis in Kürze: Wittekindt, Hensel und Camilla Trinchieri
Wer einen Roman von Matthias Wittekindt aufschlägt, tut das mit einem soliden Grundvertrauen: nicht enttäuscht zu werden, wo und wann immer die Geschichte angesiedelt ist. "Vor Gericht" (Kampa, 320 S., geb., 19,90 [Euro]) hat den Titelzusatz "Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz" und bewegt sich zwischen zwei Zeitebenen: den letzten Wochen des Jahres 1990 in Berlin und der sommerlichen Gegenwart in einem kleinen Ort nicht weit von Dresden.
Für den Pensionär und passionierten Ruderer Manz wird es zu einer unerwarteten "Reise in die Vergangenheit", als er nach fast dreißig Jahren als Zeuge vor Gericht aussagen soll, weil in einem von ihm damals erfolglos bearbeiteten Mordfall verwertbares DNA-Material aufgetaucht ist. Manz lässt sich zunächst nur widerwillig auf den alten Fall ein. Dann sieht er Versäumnisse seiner Nachfolger und eigene Ermittlungsfehler, und vor allem wird ihm klar, weshalb er diesen Fall und dessen Begleitumstände über die Jahre verdrängt hat.
Wittekindt beschreibt sehr ruhig und genau die Irritationen des alten Ermittlers, er findet einen Tonfall, der perfekt zu dem Mann passt, der für sich und uns aus seinen minutiösen Aufzeichnungen rekonstruiert, was damals geschah. Und der Autor ist souverän genug, um auch nach Neubetrachtung und Gerichtsurteil einige Fragen offenzulassen. Resigniert sagt Manz am Ende: "Ich verdächtige niemanden mehr." Allenfalls im Bilderbuch der Enkelin, in der "Häschenschule", findet er die Andeutung einer Lösung: im Bild des Hasen, der überall auf Igel trifft.
Ein historisch größeres, in jedem Fall spektakuläreres Rätsel ist natürlich die unendliche Geschichte, die wir alle beim Kürzel "BER" sofort vor uns sehen. Der Berliner Flughafen ist bekanntlich inzwischen fertig, auch wenn ihn jetzt kaum einer braucht. Nach Lektüre von Kai Hensels Roman "Terminal" (Unionsverlag, 288 S., br., 18,- [Euro]) kann man sich allerdings schon mal fragen, ob er überhaupt hätte fertig werden sollen.
Hensel hat, wie schon für seinen Polit-Thriller "Das Perseus-Protokoll", gründlich recherchiert. Aber er nutzt die Ergebnisse nicht für eine trockene dokumentarische Aufarbeitung. Sie werden ihm zum Spielmaterial für eine smarte, ins Phantastische ausgreifende Spekulation, worin die geheime Wahrheit dieses monströsen Projekts liegen könnte.
Ähnlichkeiten mit manchen lebenden Personen sind dabei nicht zufällig, sondern genau kalkuliert, um den Plot hinreichend zu erden. Und wenn man der zentralen Figur im großen Ensemble aus Politikern, Aktivisten, Ingenieuren und Journalisten gefolgt ist, der jungen, arglosen und ambitionierten Jana, die für einen Pizzaservice arbeitet und eines Nachts eine folgenreiche Bekanntschaft macht, dann wird man am Ende dieser Geschichte nicht sagen wollen, es sei völlig abwegig und unwahrscheinlich, was Hensel über Intrigen und Machenschaften, Täuschungsmanöver und Selbsttäuschungen erzählt hat.
Und über das Eigenleben jenes Baus, der da draußen auf dem Feld in Brandenburg steht und zum Symbol taugt: "Flughäfen mit Flugzeugen gibt es wie Sand am Meer. Der BER will keine Flugzeuge. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat eine Botschaft", sagt ein junges koreanisches IT-Genie.
Gibt es sie eigentlich noch, die Toskana-Fraktion? Oder ist sie mit dem Schrumpfen der Sozialdemokratie und wegen Überalterung nicht allein aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden? Es gibt da jetzt ein Buch für sie, eine Italoamerikanerin hat es geschrieben. "Toskanisches Vermächtnis" (Insel, 364 S., br., 10,- [Euro]) von Camilla Trinchieri spielt dort, wo der Chianti herkommt und wo ein ehemaliger New Yorker Cop hinkommt, weil es die Heimat seiner verstorbenen Frau ist. Nico Doyle adoptiert einen Hund, kocht ein bisschen vor sich hin, hilft im Restaurant von Verwandten seiner Frau und muss dann natürlich über einen Toten stolpern, dem man das Gesicht weggeschossen hat.
Die örtliche Polizei kennt seine Vorgeschichte längst. Er wird bei den Mordermittlungen hinzugezogen und stößt dabei auch auf Geheimnisse der kleinen Gemeinde. Trinchieri, die schon unter den Pseudonymen Camilla oder Trilla Crespi Krimis publiziert hat, ist erfahren und routiniert genug, um es mit dem Pittoresken und dem Kulinarischen nicht zu übertreiben. Dennoch hat man am Ende mehr Appetit auf eines der servierten toskanischen Gerichte als auf die bereits angekündigte Fortsetzung.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Wittekindt, Hensel und Camilla Trinchieri
Wer einen Roman von Matthias Wittekindt aufschlägt, tut das mit einem soliden Grundvertrauen: nicht enttäuscht zu werden, wo und wann immer die Geschichte angesiedelt ist. "Vor Gericht" (Kampa, 320 S., geb., 19,90 [Euro]) hat den Titelzusatz "Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz" und bewegt sich zwischen zwei Zeitebenen: den letzten Wochen des Jahres 1990 in Berlin und der sommerlichen Gegenwart in einem kleinen Ort nicht weit von Dresden.
Für den Pensionär und passionierten Ruderer Manz wird es zu einer unerwarteten "Reise in die Vergangenheit", als er nach fast dreißig Jahren als Zeuge vor Gericht aussagen soll, weil in einem von ihm damals erfolglos bearbeiteten Mordfall verwertbares DNA-Material aufgetaucht ist. Manz lässt sich zunächst nur widerwillig auf den alten Fall ein. Dann sieht er Versäumnisse seiner Nachfolger und eigene Ermittlungsfehler, und vor allem wird ihm klar, weshalb er diesen Fall und dessen Begleitumstände über die Jahre verdrängt hat.
Wittekindt beschreibt sehr ruhig und genau die Irritationen des alten Ermittlers, er findet einen Tonfall, der perfekt zu dem Mann passt, der für sich und uns aus seinen minutiösen Aufzeichnungen rekonstruiert, was damals geschah. Und der Autor ist souverän genug, um auch nach Neubetrachtung und Gerichtsurteil einige Fragen offenzulassen. Resigniert sagt Manz am Ende: "Ich verdächtige niemanden mehr." Allenfalls im Bilderbuch der Enkelin, in der "Häschenschule", findet er die Andeutung einer Lösung: im Bild des Hasen, der überall auf Igel trifft.
Ein historisch größeres, in jedem Fall spektakuläreres Rätsel ist natürlich die unendliche Geschichte, die wir alle beim Kürzel "BER" sofort vor uns sehen. Der Berliner Flughafen ist bekanntlich inzwischen fertig, auch wenn ihn jetzt kaum einer braucht. Nach Lektüre von Kai Hensels Roman "Terminal" (Unionsverlag, 288 S., br., 18,- [Euro]) kann man sich allerdings schon mal fragen, ob er überhaupt hätte fertig werden sollen.
Hensel hat, wie schon für seinen Polit-Thriller "Das Perseus-Protokoll", gründlich recherchiert. Aber er nutzt die Ergebnisse nicht für eine trockene dokumentarische Aufarbeitung. Sie werden ihm zum Spielmaterial für eine smarte, ins Phantastische ausgreifende Spekulation, worin die geheime Wahrheit dieses monströsen Projekts liegen könnte.
Ähnlichkeiten mit manchen lebenden Personen sind dabei nicht zufällig, sondern genau kalkuliert, um den Plot hinreichend zu erden. Und wenn man der zentralen Figur im großen Ensemble aus Politikern, Aktivisten, Ingenieuren und Journalisten gefolgt ist, der jungen, arglosen und ambitionierten Jana, die für einen Pizzaservice arbeitet und eines Nachts eine folgenreiche Bekanntschaft macht, dann wird man am Ende dieser Geschichte nicht sagen wollen, es sei völlig abwegig und unwahrscheinlich, was Hensel über Intrigen und Machenschaften, Täuschungsmanöver und Selbsttäuschungen erzählt hat.
Und über das Eigenleben jenes Baus, der da draußen auf dem Feld in Brandenburg steht und zum Symbol taugt: "Flughäfen mit Flugzeugen gibt es wie Sand am Meer. Der BER will keine Flugzeuge. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat eine Botschaft", sagt ein junges koreanisches IT-Genie.
Gibt es sie eigentlich noch, die Toskana-Fraktion? Oder ist sie mit dem Schrumpfen der Sozialdemokratie und wegen Überalterung nicht allein aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden? Es gibt da jetzt ein Buch für sie, eine Italoamerikanerin hat es geschrieben. "Toskanisches Vermächtnis" (Insel, 364 S., br., 10,- [Euro]) von Camilla Trinchieri spielt dort, wo der Chianti herkommt und wo ein ehemaliger New Yorker Cop hinkommt, weil es die Heimat seiner verstorbenen Frau ist. Nico Doyle adoptiert einen Hund, kocht ein bisschen vor sich hin, hilft im Restaurant von Verwandten seiner Frau und muss dann natürlich über einen Toten stolpern, dem man das Gesicht weggeschossen hat.
Die örtliche Polizei kennt seine Vorgeschichte längst. Er wird bei den Mordermittlungen hinzugezogen und stößt dabei auch auf Geheimnisse der kleinen Gemeinde. Trinchieri, die schon unter den Pseudonymen Camilla oder Trilla Crespi Krimis publiziert hat, ist erfahren und routiniert genug, um es mit dem Pittoresken und dem Kulinarischen nicht zu übertreiben. Dennoch hat man am Ende mehr Appetit auf eines der servierten toskanischen Gerichte als auf die bereits angekündigte Fortsetzung.
PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2021Dreh dich nicht um
Ein Mordfall im Neukölln von 1990 wird neu aufgerollt in Matthias Wittekindts Roman „Vor Gericht“
Es ist vorbei. Lange schon. Manz ist 73 Jahre alt, er ist kein Kriminalist mehr. Der Pensionär, der gerne dunkelgraue Cordhosen, Flanellhemden und eine Lederjacke trägt, rudert jetzt oft auf der Elbe, etwas flussaufwärts von Dresden. Bis vor Kurzem im Vierer mit Steuermann. Nun, da Robert gestorben ist, ohne Steuermann. Das Rudern hält ihn fit. Vor allem aber ist er gerne im Klub, weil die gleichaltrigen Herren eines verabredet haben: Es wird nicht über die Vergangenheit gesprochen. Obwohl sich die vier Männer stark über ihre Berufe definiert und viel erlebt haben. Dass sie im Boot entgegen der Fahrtrichtung sitzen und demzufolge während des Ruderns nach hinten blicken, ist ihnen jedoch genug der Rückwärtsgewandtheit.
Doch dann kommt ein Brief aus Berlin. Manz wird geladen, vor Gericht auszusagen in einem Mordfall aus dem Jahr 1990. Wenige Tage vor Weihnachten war damals eine Frau Anfang 60 namens Regina Zeisig im Neuköllner Ortsteil Buckow erwürgt worden. Manz hatte mit den Ermittlungen begonnen, sie aber nicht abschließen können. Denn an Dreikönig 1991 ist er nach Dresden gegangen, ist dort Kriminaldirektor geworden: Wiedervereinigung, im Osten sollten die Institutionen neu aufgebaut werden, voran die Polizeibehörden. Manz’ Frau stammt aus Dresden, hat Familie dort, eine runde Sache. Auch damals schon: kein Blick zurück auf Berlin und die alte Bundesrepublik.
Matthias Wittekindt hat seinen Roman „Vor Gericht“, in dem auch ein Krimi steckt, zweigeteilt. Im ersten Part, der in viele kurze Kapitel gegliedert ist, arbeitet Manz sich in den alten Fall ein, liest die Akten noch einmal, die ihm ein Freund und ehemaliger Kollegen überlässt, und geht nebenbei weiter seinem Alltag nach. Die Handlung wechselt zwischen dem fiktiven Altersruhesitz Zizzwitz der Gegenwart und dem realen Berlin des Nachwende-Winters. Der zweite, kürzere und nicht mehr untergliederte Teil spielt dann im wesentlichen vor Gericht. Nach Jahrzehnten ist ein Mann der Tat angeklagt, ein Ungar, der seinerzeit bereits in Manz’ Ermittlungen aufgetaucht war. Nun liegen neue forensische Ergebnisse vor. Rätselhaft bleibt der Fall dennoch, die Motivlage und die Zusammenhänge schweben weiter im Unklaren.
Es wird also zweierlei verhandelt in dem ruhigen, aufgeräumten Roman: der alte Mordfall, in dem aus den Fugen geratene familiäre Beziehungen eine Rolle spielen – und Manz’ Leben, sein Verhältnis zu seiner Frau, den Töchtern, den Schwiegersöhnen und Enkeln. Der Entschluss der Ruderklub-Freunde, tunlichst nicht in die Vergangenheit abzutauchen, bewahrt sie nicht nur vor einer üblichen Altersmarotte, er ist auch ein Selbstschutz.
Mit der Ermittlerin, mit der Manz am Ende seiner Berliner Zeit zusammengearbeitet hat, hatte er eine kurze Affäre. Sie ist bald darauf gestorben, was er erst später erfahren hat. Was hat sie ihm bedeutet, was bedeutet ihm seine Frau Christine, mit der er seit beinahe 50 Jahren verheiratet ist, ihr Leben, ihre Karriere?
Dass der Fall, um den es hier geht, nicht rasch aufgeklärt werden konnte, lastet Manz seinen Nachfolgern an. Aber war er wirklich der exzellente Polizist, für den er sich hält? Im Verhandlungssaal zieht er ab einem gewissen Punkt des Verfahrens, dem er vollständig beiwohnt, immerhin in Erwägung, dass er es war, der die entscheidenden Fehler gemacht, das Wesentliche in dieser Mordsache übersehen hat.
Es gibt eine für die Erzählhaltung zentrale Parallelität in diesem Roman. Manz hält es bei der Vorbereitung auf den Prozess wie früher bei seinen Ermittlungen, er formuliert seine Gedanken in ganzen Sätzen aus: „Denn Schreiben geht langsamer als Denken, also hatten die Gedanken Zeit, sich zu entfalten.“ Sein Vorstellungsvermögen scheint überdurchschnittlich gut zu sein, auch sein Blick für Details, er ist dabei dem Faktischen verpflichtet, mag das Spekulative nicht. Manz ist, auch im Privaten, immer in Habachtstellung, nimmt Zwischentöne wahr und hinterfragt mögliche Absichten.
Und so wie Manz es gewohnt ist, auf andere und auf seine Fälle zu blicken, wird er hier selbst ins Visier genommen. Eines Abends sagt Manz zu seiner Frau: „Ich glaube, manches ist genauer zurückgekommen, als ich es damals erlebt habe. Ich weiß dann gar nicht, ob das alles wirklich so war. Das Ganze kommt mir vor wie in manchen Träumen. Ich kann meine Realität nicht mehr sicher von der Wirklichkeit ... Du weiß, was ich meine.“
Als Leser hat man es mit dem Selbstbild Manz’ zu tun und mit dem Bild, das der Erzähler von ihm entwirft. Sie weichen nicht stark voneinander ab, aber ein paar spannende Unschärfen gibt es. Der Wunsch, dennoch klarzusehen in dieser auf den ersten Blick bodenständigen Biografie, überlagert schließlich mehr und mehr das Interesse an der Frage, wer nun eigentlich Regina Zeisig getötet hat.
STEFAN FISCHER
Was hat ihm die Affäre mit
einer Ermittlerin bedeutet? Und
was ist mit seiner Ehe?
„Ich glaube, manches ist
genauer zurückgekommen,
als ich es damals erlebt habe“
Matthias Wittekindt:
Vor Gericht. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Kampa,
Zürich 2021. 320 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Mordfall im Neukölln von 1990 wird neu aufgerollt in Matthias Wittekindts Roman „Vor Gericht“
Es ist vorbei. Lange schon. Manz ist 73 Jahre alt, er ist kein Kriminalist mehr. Der Pensionär, der gerne dunkelgraue Cordhosen, Flanellhemden und eine Lederjacke trägt, rudert jetzt oft auf der Elbe, etwas flussaufwärts von Dresden. Bis vor Kurzem im Vierer mit Steuermann. Nun, da Robert gestorben ist, ohne Steuermann. Das Rudern hält ihn fit. Vor allem aber ist er gerne im Klub, weil die gleichaltrigen Herren eines verabredet haben: Es wird nicht über die Vergangenheit gesprochen. Obwohl sich die vier Männer stark über ihre Berufe definiert und viel erlebt haben. Dass sie im Boot entgegen der Fahrtrichtung sitzen und demzufolge während des Ruderns nach hinten blicken, ist ihnen jedoch genug der Rückwärtsgewandtheit.
Doch dann kommt ein Brief aus Berlin. Manz wird geladen, vor Gericht auszusagen in einem Mordfall aus dem Jahr 1990. Wenige Tage vor Weihnachten war damals eine Frau Anfang 60 namens Regina Zeisig im Neuköllner Ortsteil Buckow erwürgt worden. Manz hatte mit den Ermittlungen begonnen, sie aber nicht abschließen können. Denn an Dreikönig 1991 ist er nach Dresden gegangen, ist dort Kriminaldirektor geworden: Wiedervereinigung, im Osten sollten die Institutionen neu aufgebaut werden, voran die Polizeibehörden. Manz’ Frau stammt aus Dresden, hat Familie dort, eine runde Sache. Auch damals schon: kein Blick zurück auf Berlin und die alte Bundesrepublik.
Matthias Wittekindt hat seinen Roman „Vor Gericht“, in dem auch ein Krimi steckt, zweigeteilt. Im ersten Part, der in viele kurze Kapitel gegliedert ist, arbeitet Manz sich in den alten Fall ein, liest die Akten noch einmal, die ihm ein Freund und ehemaliger Kollegen überlässt, und geht nebenbei weiter seinem Alltag nach. Die Handlung wechselt zwischen dem fiktiven Altersruhesitz Zizzwitz der Gegenwart und dem realen Berlin des Nachwende-Winters. Der zweite, kürzere und nicht mehr untergliederte Teil spielt dann im wesentlichen vor Gericht. Nach Jahrzehnten ist ein Mann der Tat angeklagt, ein Ungar, der seinerzeit bereits in Manz’ Ermittlungen aufgetaucht war. Nun liegen neue forensische Ergebnisse vor. Rätselhaft bleibt der Fall dennoch, die Motivlage und die Zusammenhänge schweben weiter im Unklaren.
Es wird also zweierlei verhandelt in dem ruhigen, aufgeräumten Roman: der alte Mordfall, in dem aus den Fugen geratene familiäre Beziehungen eine Rolle spielen – und Manz’ Leben, sein Verhältnis zu seiner Frau, den Töchtern, den Schwiegersöhnen und Enkeln. Der Entschluss der Ruderklub-Freunde, tunlichst nicht in die Vergangenheit abzutauchen, bewahrt sie nicht nur vor einer üblichen Altersmarotte, er ist auch ein Selbstschutz.
Mit der Ermittlerin, mit der Manz am Ende seiner Berliner Zeit zusammengearbeitet hat, hatte er eine kurze Affäre. Sie ist bald darauf gestorben, was er erst später erfahren hat. Was hat sie ihm bedeutet, was bedeutet ihm seine Frau Christine, mit der er seit beinahe 50 Jahren verheiratet ist, ihr Leben, ihre Karriere?
Dass der Fall, um den es hier geht, nicht rasch aufgeklärt werden konnte, lastet Manz seinen Nachfolgern an. Aber war er wirklich der exzellente Polizist, für den er sich hält? Im Verhandlungssaal zieht er ab einem gewissen Punkt des Verfahrens, dem er vollständig beiwohnt, immerhin in Erwägung, dass er es war, der die entscheidenden Fehler gemacht, das Wesentliche in dieser Mordsache übersehen hat.
Es gibt eine für die Erzählhaltung zentrale Parallelität in diesem Roman. Manz hält es bei der Vorbereitung auf den Prozess wie früher bei seinen Ermittlungen, er formuliert seine Gedanken in ganzen Sätzen aus: „Denn Schreiben geht langsamer als Denken, also hatten die Gedanken Zeit, sich zu entfalten.“ Sein Vorstellungsvermögen scheint überdurchschnittlich gut zu sein, auch sein Blick für Details, er ist dabei dem Faktischen verpflichtet, mag das Spekulative nicht. Manz ist, auch im Privaten, immer in Habachtstellung, nimmt Zwischentöne wahr und hinterfragt mögliche Absichten.
Und so wie Manz es gewohnt ist, auf andere und auf seine Fälle zu blicken, wird er hier selbst ins Visier genommen. Eines Abends sagt Manz zu seiner Frau: „Ich glaube, manches ist genauer zurückgekommen, als ich es damals erlebt habe. Ich weiß dann gar nicht, ob das alles wirklich so war. Das Ganze kommt mir vor wie in manchen Träumen. Ich kann meine Realität nicht mehr sicher von der Wirklichkeit ... Du weiß, was ich meine.“
Als Leser hat man es mit dem Selbstbild Manz’ zu tun und mit dem Bild, das der Erzähler von ihm entwirft. Sie weichen nicht stark voneinander ab, aber ein paar spannende Unschärfen gibt es. Der Wunsch, dennoch klarzusehen in dieser auf den ersten Blick bodenständigen Biografie, überlagert schließlich mehr und mehr das Interesse an der Frage, wer nun eigentlich Regina Zeisig getötet hat.
STEFAN FISCHER
Was hat ihm die Affäre mit
einer Ermittlerin bedeutet? Und
was ist mit seiner Ehe?
„Ich glaube, manches ist
genauer zurückgekommen,
als ich es damals erlebt habe“
Matthias Wittekindt:
Vor Gericht. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Kampa,
Zürich 2021. 320 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de