Drei Jugendliche, drei Jahrzehnte, eine Hoffnung: ANKOMMEN. Drei packende und bewegende Fluchtgeschichten von 1939, 1994 und 2015
Wenn das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst und der Unmenschlichkeit wird, ist es kein Zuhause mehr. Josef ist 11, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba und leidet Hunger – auch sie begibt sich auf eine gefährliche Reise in das verheißungsvolle Amerika. Und der 12-jährige Mahmoud verlässt im Jahr 2015 seine zerstörte Heimatstadt Aleppo, um in Deutschland neu anzufangen. Alan Gratz verwebt geschickt und ungemein spannend die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten. Er erzählt unsentimental und gerade dadurch ergreifend. Ein zeitloses Buch über Vertreibung und Hoffnung, über die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen.
Wenn das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst und der Unmenschlichkeit wird, ist es kein Zuhause mehr. Josef ist 11, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba und leidet Hunger – auch sie begibt sich auf eine gefährliche Reise in das verheißungsvolle Amerika. Und der 12-jährige Mahmoud verlässt im Jahr 2015 seine zerstörte Heimatstadt Aleppo, um in Deutschland neu anzufangen. Alan Gratz verwebt geschickt und ungemein spannend die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten. Er erzählt unsentimental und gerade dadurch ergreifend. Ein zeitloses Buch über Vertreibung und Hoffnung, über die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2020Hass und Hilfe
Drei Jugendliche auf der Flucht
Viel wird über Flüchtlinge diskutiert. Soll man sie aufnehmen, wen, wie viele, und was kostet das alles? Was diese Menschen erlebt haben, was sie mitbringen, das kommt selten zur Sprache, schon gar nicht in den Schulen. Dabei sitzen heute in vielen Klassen Flüchtlingskinder. Sie hätten einiges zu erzählen. In seinem Jugendroman „Vor uns das Meer“ gibt der amerikanische Autor Alan Gratz drei Kindern eine Stimme, stellvertretend für alle, die ihre Heimat verloren.
Josef ist ein jüdischer Junge in Nazi-Deutschland. Nach der Reichsprogromnacht ist sein Leben und das seiner Familie bedroht. Die Familie schafft es an Bord der St. Louis, jenes Flüchtlingsschiffs, das mit fast 1000 deutschen Juden an Bord im Mai 1939 von Hamburg nach Havanna fährt. Den Schrecken der Konzentrationslager vor Augen, hoffen sie, in Kuba ein neues Leben beginnen zu können. Doch die Hoffnung wird jäh zerstört, kein Hafen in Amerika nimmt die Flüchtlinge auf.
Isabel ist ein kubanisches Mädchen, 1994, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in seinem Land. Lebensmittel sind knapp, Unruhen erschüttern das Land. Eines Nachts steigt Isabel mit ihrer Familie und den Nachbarn in ein wackeliges Boot mit Kurs auf Florida. Sie wollen in den USA ein neues Leben beginnen. Schaffen sie es bis an die Küste, erhalten sie ein Visum. Werden sie vorher von der Küstenwache aufgegriffen, müssen sie zurück nach Kuba. So lautet das amerikanische Gesetz.
Mahmoud ist ein syrischer Junge, dessen Haus 2015 von den Truppen des Diktators Assad in Aleppo zerbombt wird. Verzweifelt machen sich seine Eltern mit ihm, dem kleinen Walid und dem Baby Hana auf den Weg. Zu Fuß in die Türkei, im Boot nach Griechenland, dann wieder zu Fuß über Serbien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland.
Drei Kinder in drei Kontinenten zu verschiedenen Zeiten – was sie erleben, ähnelt sich auf traumatische Weise. Sie erfahren Anfeindungen und Hass, aber auch Hilfe und Solidarität. Und sie werden über Nacht erwachsen, müssen Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen. Der Autor wechselt ständig zwischen den Geschichten und schildert in eindringlichen Bildern, wie seine Protagonisten die Angst vor dem nächsten Tag durch die Hoffnung auf Frieden am Ende der Reise überwinden. Auch wenn Gratz an mancher Stelle vielleicht überzeichnet: die Bilder, die er erzeugt, bleiben lange im Gedächtnis.
Der Anhang enthält Karten mit den Fluchtwegen und jugendgerechte Fakten zur politischen Einordnung. Es ist kein zu schwerer Stoff für Zwölf- bis 15-Jährige. Vielmehr weckt das Buch Verständnis und Empathie. Das ist umso wichtiger, sagt der Autor selbst, in Zeiten, in denen Jugendliche vermehrt rassistische Bemerkungen hören, von Mitschülern, Erwachsenen, Politikern. Denn es ist das Alter, in dem sich Vorurteile festigen.
MARTINA SCHERF
Alan Gratz: Vor uns das Meer. Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser Verlag, München 2020, 290 Seiten, 17 Euro.
Sie verlieren die Angst
vor dem nächsten Tag
durch die Hoffnung auf Frieden
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Drei Jugendliche auf der Flucht
Viel wird über Flüchtlinge diskutiert. Soll man sie aufnehmen, wen, wie viele, und was kostet das alles? Was diese Menschen erlebt haben, was sie mitbringen, das kommt selten zur Sprache, schon gar nicht in den Schulen. Dabei sitzen heute in vielen Klassen Flüchtlingskinder. Sie hätten einiges zu erzählen. In seinem Jugendroman „Vor uns das Meer“ gibt der amerikanische Autor Alan Gratz drei Kindern eine Stimme, stellvertretend für alle, die ihre Heimat verloren.
Josef ist ein jüdischer Junge in Nazi-Deutschland. Nach der Reichsprogromnacht ist sein Leben und das seiner Familie bedroht. Die Familie schafft es an Bord der St. Louis, jenes Flüchtlingsschiffs, das mit fast 1000 deutschen Juden an Bord im Mai 1939 von Hamburg nach Havanna fährt. Den Schrecken der Konzentrationslager vor Augen, hoffen sie, in Kuba ein neues Leben beginnen zu können. Doch die Hoffnung wird jäh zerstört, kein Hafen in Amerika nimmt die Flüchtlinge auf.
Isabel ist ein kubanisches Mädchen, 1994, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in seinem Land. Lebensmittel sind knapp, Unruhen erschüttern das Land. Eines Nachts steigt Isabel mit ihrer Familie und den Nachbarn in ein wackeliges Boot mit Kurs auf Florida. Sie wollen in den USA ein neues Leben beginnen. Schaffen sie es bis an die Küste, erhalten sie ein Visum. Werden sie vorher von der Küstenwache aufgegriffen, müssen sie zurück nach Kuba. So lautet das amerikanische Gesetz.
Mahmoud ist ein syrischer Junge, dessen Haus 2015 von den Truppen des Diktators Assad in Aleppo zerbombt wird. Verzweifelt machen sich seine Eltern mit ihm, dem kleinen Walid und dem Baby Hana auf den Weg. Zu Fuß in die Türkei, im Boot nach Griechenland, dann wieder zu Fuß über Serbien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland.
Drei Kinder in drei Kontinenten zu verschiedenen Zeiten – was sie erleben, ähnelt sich auf traumatische Weise. Sie erfahren Anfeindungen und Hass, aber auch Hilfe und Solidarität. Und sie werden über Nacht erwachsen, müssen Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen. Der Autor wechselt ständig zwischen den Geschichten und schildert in eindringlichen Bildern, wie seine Protagonisten die Angst vor dem nächsten Tag durch die Hoffnung auf Frieden am Ende der Reise überwinden. Auch wenn Gratz an mancher Stelle vielleicht überzeichnet: die Bilder, die er erzeugt, bleiben lange im Gedächtnis.
Der Anhang enthält Karten mit den Fluchtwegen und jugendgerechte Fakten zur politischen Einordnung. Es ist kein zu schwerer Stoff für Zwölf- bis 15-Jährige. Vielmehr weckt das Buch Verständnis und Empathie. Das ist umso wichtiger, sagt der Autor selbst, in Zeiten, in denen Jugendliche vermehrt rassistische Bemerkungen hören, von Mitschülern, Erwachsenen, Politikern. Denn es ist das Alter, in dem sich Vorurteile festigen.
MARTINA SCHERF
Alan Gratz: Vor uns das Meer. Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser Verlag, München 2020, 290 Seiten, 17 Euro.
Sie verlieren die Angst
vor dem nächsten Tag
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Fridtjof Küchemann bedauert, dass Alan Gratz in seinem Buch gleich über drei Schicksale junger Flüchtlinge erzählt. Statt eines mit mehr Tiefe zu erkunden, reiht der Autor die Geschichte einer Flucht aus Syrien 2015 an die einer Flucht aus dem kommunistischen Kuba 1994 und an eine weitere aus Nazideutschland 1939, erläutert Küchemann. Damit offenbart Gratz die eigene literarische Überforderung, meint der Rezensent, die sich für Küchemann auch in der Knappheit der Mittel zeigt. Dass Gratz für die Verzweiflung seiner jungen Helden exakt dieselben Worte wählt, scheint Küchemann dürftig. Hätte der Autor mehr auf Einfühlung und "emotionale Zeichnung" gesetzt und weniger auf Cliffhanger, das Buch hätte für den Rezensenten an Überzeugungskraft gewonnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2020Wir müssen hier weg, wir müssen es schaffen
Aus Aleppo, Kuba oder Deutschland: In seinem Jugendbuch "Vor uns das Meer" verknüpft Alan Gratz Fluchtgeschichten aus drei Jahrzehnten
Einer will mit seiner Familie von Aleppo nach Deutschland fliehen, einer mit seiner aus Deutschland nach Kuba, eine mit ihrer von Kuba nach Florida. Was sie verbindet, ist in etwa das Alter: Die drei sind dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, als sie jäh in Situationen geworfen und vor Entscheidungen gestellt werden, vor denen es auch Erwachsenen graust. Sie verbindet eine schreckliche Situation zu Hause, die den Fluchtversuch als einzige Option erscheinen lässt, furchtbare Erlebnisse auf dem Meer, aber auch Erfahrungen der Grausamkeit, Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit von Menschen, denen sie auf ihrer Flucht begegnen.
Was Mahmoud Bishara, Isabel Fernandez und Josef Landau voneinander trennt, sind nicht nur ihre Heimat- und die Zielorte ihrer Flucht, sondern auch Jahrzehnte: Josef flieht mit seinen Eltern und seiner Schwester 1939 aus Hitler-Deutschland, Isabel 1994 mit ihrem Vater, der hochschwangeren Mutter und den Nachbarn aus dem kommunistischen Kuba, Mahmoud 2015 mit Eltern und Geschwistern aus dem Krieg in Syrien.
Von Geschichte zu Geschichte springend, erzählt der amerikanische Autor Alan Gratz jugendlichen Lesern in seinem Buch "Vor uns das Meer" von diesen so unterschiedlichen Schicksalen. Warum er sie auf diese Weise miteinander verknüpft, liegt auf der Hand: Sich zur Flucht gezwungen zu sehen ist keine Frage des Landes, der Zugehörigkeit oder einer bestimmten Zeit, ist Gratz' Botschaft, es sind nicht zwangsläufig immer "die anderen", die flüchten, es sind Menschen wie wir. Wir könnten es selbst sein.
Man hätte diese Erkenntnis auch der Eindringlichkeit einer einzigen Geschichte anvertrauen können, hätte von ihr aus zeigen können, dass Flucht kein einmaliges Phänomen ist, sondern die unterschiedlichsten Menschen in den verschiedensten Situationen betrifft. Dass Alan Gratz stattdessen auf drei Erzählstränge setzt, zeigt literarische Ambition - oder mangelndes Vertrauen in jeden einzelnen. Das Ergebnis offenbart erzählerische Überforderung und ein Dilemma in Konsequenz dieser Konstruktion.
In der Reichspogromnacht 1938 haben sieben Männer die Wohnung der Landaus in Berlin verwüstet und den Vater mitgenommen. Sechs Monate später wird er aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen, unter der Bedingung, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Die Familie schifft sich auf der St. Louis ein, jenem Passagierschiff, dessen Irrfahrt im Mai und Juni 1939 Geschichte geschrieben hat. Trotz gültiger Visa durften mehr als neunhundert jüdische Passagiere in Havanna nicht an Land gehen, auch die Vereinigten Staaten und Kanada verweigerten die Aufnahme der Flüchtenden. Schließlich musste das Schiff nach Europa zurückkehren, die Passagiere wurden auf die Länder Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt und wenig später großenteils dort vom Zweiten Weltkrieg eingeholt. Bei Alan Gratz kann Familie Landau nicht verhindern, dass sich der verzweifelte Vater vor Havanna über Bord stürzt. Später wird die restliche Familie auf der Flucht durch Frankreich Richtung Schweiz von SA-Leuten gestellt.
Isabels Vater hatte schon einmal versucht, mit einem Boot nach Florida zu flüchten, war von der kubanischen Marine aufgegriffen und für ein Jahr ins Gefängnis gesteckt worden. Als er sich an Unruhen in Havanna 1994 beteiligt und Polizisten auffällt, ist klar, dass er es abermals versuchen muss. Kurz darauf kündigt der kubanische Präsident Castro in einer Fernsehansprache an, jeder, der gehen wolle, dürfe das Land verlassen, und Isabel kann die ganze Familie überzeugen, gemeinsam zu fliehen. Den Vater der Nachbarsfamilie, in deren selbstgebautem Boot sie mitfahren dürfen, kann sie noch retten, als er über Bord geht. Ihr bester Freund Iván wird die Flucht nicht überstehen und ihr Großvater nur mit Selbstaufopferung erreichen, dass die restlichen Fliehenden nicht im letzten Moment noch erwischt und zurückgeschickt werden.
Mahmouds Familie hingegen kämpft sich auf der Balkan-Route nach Deutschland durch. Sie verlieren das Auto, das meiste Geld, auf dem Meer schließlich die kleine Schwester, werden ausgenommen, erpresst, abgewiesen und eingesperrt. Als UN-Inspekteure das ungarische Flüchtlingslager einen Tagesmarsch von der österreichischen Grenze entfernt besuchen, ist es Mahmoud, der erkennt, dass die ungarischen Soldaten gerade ihrerseits unter Beobachtung stehen und sie nicht wie zuvor daran hindern können, die Lagerhalle zu verlassen.
So mustergültig Alan Gratz auch versucht, seine jungen Helden durch Eigenheiten zu konturieren, so entschieden er auch Familienangehörigen Charaktermerkmale zuordnet, die er regelmäßig abarbeitet: In der Reihenschaltung seiner Erzählung tritt unerbittlich zutage, wie knapp die Mittel sind, mit denen der Autor etwa wachsende Verzweiflung oder das Gefühl der Ohnmacht vermitteln kann: Nur vier Seiten, nachdem Josef "vor Wut und Scham" das Gesicht "heiß" geworden ist, geht es Isabel wortwörtlich genauso. Statt das Einfühlungsvermögen seiner jugendlichen Leser anzuspielen, setzt Alan Gratz auf Spannung. Kaum ein Kapitel endet ohne Cliffhanger, die Leser werden regelrecht von Spannungshöhepunkt zu Spannungshöhepunkt gehetzt. Im Nachwort merkt der Autor schließlich an, für Isabels Flucht zwei tatsächlich Monate auseinanderliegende politische Ereignisse zusammengezogen zu haben, "um die Geschichte ereignisreicher und spannender zu gestalten". Sorgfalt in der emotionalen Zeichnung und Geduld bei der Entwicklung der Geschichten hätten dem Buch eher gutgetan.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Alan Gratz: "Vor uns das Meer". Drei Jugendliche. Drei Jahrzehnte.
Eine Hoffnung.
Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser Verlag, München 2020. 304 S., geb., 17,- [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus Aleppo, Kuba oder Deutschland: In seinem Jugendbuch "Vor uns das Meer" verknüpft Alan Gratz Fluchtgeschichten aus drei Jahrzehnten
Einer will mit seiner Familie von Aleppo nach Deutschland fliehen, einer mit seiner aus Deutschland nach Kuba, eine mit ihrer von Kuba nach Florida. Was sie verbindet, ist in etwa das Alter: Die drei sind dabei, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, als sie jäh in Situationen geworfen und vor Entscheidungen gestellt werden, vor denen es auch Erwachsenen graust. Sie verbindet eine schreckliche Situation zu Hause, die den Fluchtversuch als einzige Option erscheinen lässt, furchtbare Erlebnisse auf dem Meer, aber auch Erfahrungen der Grausamkeit, Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit von Menschen, denen sie auf ihrer Flucht begegnen.
Was Mahmoud Bishara, Isabel Fernandez und Josef Landau voneinander trennt, sind nicht nur ihre Heimat- und die Zielorte ihrer Flucht, sondern auch Jahrzehnte: Josef flieht mit seinen Eltern und seiner Schwester 1939 aus Hitler-Deutschland, Isabel 1994 mit ihrem Vater, der hochschwangeren Mutter und den Nachbarn aus dem kommunistischen Kuba, Mahmoud 2015 mit Eltern und Geschwistern aus dem Krieg in Syrien.
Von Geschichte zu Geschichte springend, erzählt der amerikanische Autor Alan Gratz jugendlichen Lesern in seinem Buch "Vor uns das Meer" von diesen so unterschiedlichen Schicksalen. Warum er sie auf diese Weise miteinander verknüpft, liegt auf der Hand: Sich zur Flucht gezwungen zu sehen ist keine Frage des Landes, der Zugehörigkeit oder einer bestimmten Zeit, ist Gratz' Botschaft, es sind nicht zwangsläufig immer "die anderen", die flüchten, es sind Menschen wie wir. Wir könnten es selbst sein.
Man hätte diese Erkenntnis auch der Eindringlichkeit einer einzigen Geschichte anvertrauen können, hätte von ihr aus zeigen können, dass Flucht kein einmaliges Phänomen ist, sondern die unterschiedlichsten Menschen in den verschiedensten Situationen betrifft. Dass Alan Gratz stattdessen auf drei Erzählstränge setzt, zeigt literarische Ambition - oder mangelndes Vertrauen in jeden einzelnen. Das Ergebnis offenbart erzählerische Überforderung und ein Dilemma in Konsequenz dieser Konstruktion.
In der Reichspogromnacht 1938 haben sieben Männer die Wohnung der Landaus in Berlin verwüstet und den Vater mitgenommen. Sechs Monate später wird er aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen, unter der Bedingung, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Die Familie schifft sich auf der St. Louis ein, jenem Passagierschiff, dessen Irrfahrt im Mai und Juni 1939 Geschichte geschrieben hat. Trotz gültiger Visa durften mehr als neunhundert jüdische Passagiere in Havanna nicht an Land gehen, auch die Vereinigten Staaten und Kanada verweigerten die Aufnahme der Flüchtenden. Schließlich musste das Schiff nach Europa zurückkehren, die Passagiere wurden auf die Länder Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt und wenig später großenteils dort vom Zweiten Weltkrieg eingeholt. Bei Alan Gratz kann Familie Landau nicht verhindern, dass sich der verzweifelte Vater vor Havanna über Bord stürzt. Später wird die restliche Familie auf der Flucht durch Frankreich Richtung Schweiz von SA-Leuten gestellt.
Isabels Vater hatte schon einmal versucht, mit einem Boot nach Florida zu flüchten, war von der kubanischen Marine aufgegriffen und für ein Jahr ins Gefängnis gesteckt worden. Als er sich an Unruhen in Havanna 1994 beteiligt und Polizisten auffällt, ist klar, dass er es abermals versuchen muss. Kurz darauf kündigt der kubanische Präsident Castro in einer Fernsehansprache an, jeder, der gehen wolle, dürfe das Land verlassen, und Isabel kann die ganze Familie überzeugen, gemeinsam zu fliehen. Den Vater der Nachbarsfamilie, in deren selbstgebautem Boot sie mitfahren dürfen, kann sie noch retten, als er über Bord geht. Ihr bester Freund Iván wird die Flucht nicht überstehen und ihr Großvater nur mit Selbstaufopferung erreichen, dass die restlichen Fliehenden nicht im letzten Moment noch erwischt und zurückgeschickt werden.
Mahmouds Familie hingegen kämpft sich auf der Balkan-Route nach Deutschland durch. Sie verlieren das Auto, das meiste Geld, auf dem Meer schließlich die kleine Schwester, werden ausgenommen, erpresst, abgewiesen und eingesperrt. Als UN-Inspekteure das ungarische Flüchtlingslager einen Tagesmarsch von der österreichischen Grenze entfernt besuchen, ist es Mahmoud, der erkennt, dass die ungarischen Soldaten gerade ihrerseits unter Beobachtung stehen und sie nicht wie zuvor daran hindern können, die Lagerhalle zu verlassen.
So mustergültig Alan Gratz auch versucht, seine jungen Helden durch Eigenheiten zu konturieren, so entschieden er auch Familienangehörigen Charaktermerkmale zuordnet, die er regelmäßig abarbeitet: In der Reihenschaltung seiner Erzählung tritt unerbittlich zutage, wie knapp die Mittel sind, mit denen der Autor etwa wachsende Verzweiflung oder das Gefühl der Ohnmacht vermitteln kann: Nur vier Seiten, nachdem Josef "vor Wut und Scham" das Gesicht "heiß" geworden ist, geht es Isabel wortwörtlich genauso. Statt das Einfühlungsvermögen seiner jugendlichen Leser anzuspielen, setzt Alan Gratz auf Spannung. Kaum ein Kapitel endet ohne Cliffhanger, die Leser werden regelrecht von Spannungshöhepunkt zu Spannungshöhepunkt gehetzt. Im Nachwort merkt der Autor schließlich an, für Isabels Flucht zwei tatsächlich Monate auseinanderliegende politische Ereignisse zusammengezogen zu haben, "um die Geschichte ereignisreicher und spannender zu gestalten". Sorgfalt in der emotionalen Zeichnung und Geduld bei der Entwicklung der Geschichten hätten dem Buch eher gutgetan.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Alan Gratz: "Vor uns das Meer". Drei Jugendliche. Drei Jahrzehnte.
Eine Hoffnung.
Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser Verlag, München 2020. 304 S., geb., 17,- [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die drei Geschichten sind so unterschiedlich wie ähnlich und bilden ein dreistimmiges Portrait über den Schrecken der Flucht. ... Ein spannendes, bewegendes und äußerst wichtiges Buch." Jurybegründung Hörbuch des Jahres 2022, hr2-Hörbuchbestenliste, 29.09.2022
"Aus der großen Zahl von Fluchtgeschichten, die in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Ländern nach Deutschland kamen, ragt 'Vor uns das Meer' heraus. Denn Alan Gratz erzählt drei Fluchtgeschichten parallel. Er stellt somit nicht ein Einzelschicksal in den Mittelpunkt, sondern das Phänomen Flucht an sich - mit immer ähnlichen Ursachen wie Hunger, Unfreiheit oder Krieg und den schrecklichen Erfahrungen auf dem Weg in die Fremde, wie auch den möglichen Problemen bei der Ankunft in der neuen Heimat. ... 'Vor uns das Meer' ist beides: ein historischer und ein aktueller Roman. Und zudem spannende, fesselnde Unterhaltung." Sylvia Schwab, Deutschlandfunk Kultur, 28.02.2020
"Eine literarische Brücke zwischen denFluchterfahrungen dreier Jugendlicher aus unterschiedlichen Zeiten." Roswitha Budeus-Budde, Süddeutsche Zeitung, 14.02.2020
"Aus der großen Zahl von Fluchtgeschichten, die in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Ländern nach Deutschland kamen, ragt 'Vor uns das Meer' heraus. Denn Alan Gratz erzählt drei Fluchtgeschichten parallel. Er stellt somit nicht ein Einzelschicksal in den Mittelpunkt, sondern das Phänomen Flucht an sich - mit immer ähnlichen Ursachen wie Hunger, Unfreiheit oder Krieg und den schrecklichen Erfahrungen auf dem Weg in die Fremde, wie auch den möglichen Problemen bei der Ankunft in der neuen Heimat. ... 'Vor uns das Meer' ist beides: ein historischer und ein aktueller Roman. Und zudem spannende, fesselnde Unterhaltung." Sylvia Schwab, Deutschlandfunk Kultur, 28.02.2020
"Eine literarische Brücke zwischen denFluchterfahrungen dreier Jugendlicher aus unterschiedlichen Zeiten." Roswitha Budeus-Budde, Süddeutsche Zeitung, 14.02.2020