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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Sinnlichkeit, mit der Serge Gainsbourg im Song "Machins Choses" einst vom "Dingsda" sang, das sich Liebespaare ganz leise sagen, das unerklärlich ist und deswegen alles verheißt, illustriert, was André Boße als dramaturgisches Grundmuster des französischen Pop ausmacht: All die Lieder, so harmlos sie auch beginnen mögen, kippen spätestens in der letzten Strophe ins Melodramatische. Serge Gainsbourg vereinte wie kein Zweiter die Charakteristika der französischen Szene, stilistische Wendigkeit zwischen Jazz, Yéyé und Chanson, den Hang zu erotischen Anspielungen und zuweilen derber Sexualisierung, eine melancholische Grundstimmung und eine narzisstisch angehauchte "männliche Jammerperspektive."
Zwei ausdrücklich persönliche Gründe hatte Boße, sich erstmals intensiv mit dem "pop français" zu beschäftigen: einerseits seine späte Entdeckung von "Frankreichs großem Rockstar" Alain Bashung und dessen Song "La nuit je mens". In ihm sind Boße zufolge "alle Fragen und Antworten des Lebens angelegt, allerdings furchtbar unkonkret", womit er für etwas stehe, was so nur der französische Pop leiste. Außerdem traf Boße eines Tages die Erkenntnis, dass der Kultsong über die Pariserin "Léa", 1997 von der französischen Folkpunk-Band Louise Attaque veröffentlicht, so wie viele andere musikalische Perlen in Deutschland nur den wenigsten bekannt sind.
Natürlich gibt es etliche weitere Gründe für Musikliebhaber und für Frankophile, in die Geschichte der französischen Popmusik einzutauchen. Denn wie Provokation und Emotion inszeniert und dabei zugleich die nationalen Mythen, Kämpfe und Obsessionen musikalisch katalysiert werden, sagt mehr über das Land und seine Bewohner als so manche akademische Mentalitätsgeschichte.
"Er war das Leben, das Leben in all seinen souveränen, blendenden und großzügigen Facetten, und er war Teil von uns selbst, er war ein Teil von Frankreich", das verkündete Emmanuel Macron 2017 vor Tausenden Zuhörern vor der berühmten Pariser Madeleine-Kirche bei einer sogenannten "hommage populaire", einer Art Volks-Verabschiedung, anlässlich des Todes von Johnny Hallyday. Anfang der Sechzigerjahre wurde Hallyday als "Elvis Frankreichs" zum Star der Yéyé-Bewegung, der französischen Spielart des britischen Rock 'n' Roll, die, so schreibt Boße, aufgrund ihrer "Dramen, Drumcomputer und Dämlichkeiten" außerhalb Frankreichs kaum wahrgenommen wurde. Ein weiterer Gigantismus weist auf die nationale Bedeutung der französischen Popmusik hin: Am 14. Juli 1990 veranstaltete der Elektro-Pionier Jean-Michel Jarre am Pariser Triumphbogen zum zweihundertsten Nationalfeiertag vor 2,5 Millionen Zuschauern auf einer legendär gewordenen Pyramiden-Bühne das größte Spektakel der Musikgeschichte.
Boße hat für seine Monographie "Voyage, Voyage" unzählige Platten vom Chanson bis zum funky-elektronischen French Touch der Gegenwart durchgehört, Fanseiten besucht, Interviews geführt und Abhandlungen über das nationale Liedgut konsultiert. Leider fehlt ein Namensverzeichnis, sodass sich das Buch weniger als Nachschlagewerk eignet, sondern sich eher wie ein locker erzählender Erlebnisbericht liest, der auf langatmige Expertenausführungen weitgehend verzichtet.
Boße formuliert recht freimütig und stellt in sechzehn mal detailreichen, mal kursorischen Kapiteln die "Lieblinge der Deutschen" vor. Darunter zum Beispiel Desireless, France Gall sowie Jane Birkin, Françoise Hardy, Vanessa Paradis und ZAZ. An anderer Stelle fasst er so unterschiedliche Künstler wie Jacques Dutronc, Brigitte Fontaine und Bernard Lavilliers unter "Les individualistes" zusammen. Besonderes Augenmerk widmet er der einzigen international bedeutenden französischen Indie-Rock-Gruppe Noir Désir, deren 1992 erschienenes Album "Tostaky" er mit den Grunge-Werken von Pearl Jam, Alice in Chains und Soundgarden auf eine Stufe stellt. Dass der Noir-Désir-Sänger Bertrand Cantat 2003 seine Freundin aus Eifersucht erschlagen hatte, spaltet Fans und Kritiker bis heute.
Erstaunlich ist, dass die französische Populärmusik außer dem klassischen "Chanson à texte" und dessen modernem Wiedergänger der Nouvelle Scène - man denke an Dominique A oder Benjamin Biolay - kaum eigene Stile und Genres entwickelt, aber mit der zuweilen exaltiert-überzeichneten Verarbeitung von Einflüssen aus den USA, Großbritannien, dem arabischen und mediterranen Raum eine Vielzahl an Solo-Künstlern mit eigener Handschrift hervorgebracht hat. Dass Frankreich demgegenüber unbestritten als Pionierland des pulsierenden, melodisch schwebenden Synthesizer-Pop und der Popularisierung des Techno mit elegant-funkigen Gitarrenrhythmen gilt, zeigt Boße im Kapitel "L'éléctronique et le French Touch".
Neben großem Lob für die Visionäre von Daft Punk, deren Album "Discovery" laut Boße zum Soundtrack eines Zeitalters wurde, "als die Zukunft noch ein Versprechen war", werden die ironisch gebrochenen Balladen des Erotomanen Sébastien Tellier als "schmieriger Synthie-Pop mit allerhand lyrischen Sauereien" abgekanzelt. Dass der ruandisch-belgische Musiker Stromae ("Alors on danse") nach einem Burnout seine Rückkehr 2022 während eines TV-Interviews in den französischen Hauptnachrichten mit dem emotionalen Song "L'enfer" unvermittelt singend ankündigte, deutet einmal mehr darauf hin, dass in Frankreichs Musikszene andere Gesetze herrschen als hierzulande. André Boße macht neugierig darauf, dieses musikalische Universum nach eigenen Regeln zu entdecken. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
André Boße: "Voyage, Voyage". Eine Reise durch die französische Popmusik.
Reclam Verlag, Ditzingen 2024. 352 S., Abb., br.,
20,- Euro.
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