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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wenn eine Liebhaberin der Literatur W. G. Sebalds
zu dessen Biographin wird, ist das eine gute Idee?
An Carole Angiers Buch "Nach der Stille"
lässt es sich kritisch überprüfen.
Carole Angier beginnt ihre Biographie über W. G. Sebald nicht mit dessen Geburt, sondern mit einer Frage, auf die das Leben des Schriftstellers eine Antwort geben soll: Warum musste Sebald Schriftsteller werden? Sie versucht, sie zu beantworten, indem sie durch Sebalds Krisen führt. Dazu gehört das Bewusstsein für die beiden "lautlosen Katastrophen" in der deutschen Geschichte - den Holocaust und die Bombardierung deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs -, die ihn früh geprägt haben. Einem Abschnitt seines Langgedichts "Nach der Natur" folgend, behauptet Angier sogar, dass der Bombenangriff auf Nürnberg 1943, den Sebalds Mutter Rosa erlebte, als sie mit ihm schwanger war, Sebald schon vor seiner eigenen Geburt erschüttert habe. "Es war das erste Trauma in seinem Leben."
Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 geboren und verbrachte die ersten acht Jahre seines Lebens in Wertach, einem kleinem Dort im Allgäu. Trotz seines Aufwachsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebte er eine unbeschwerte Kindheit. Getrübt wurde diese nur durch den Konflikt mit seinem Vater, der 1947 aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Schon der kindliche Sebald hegte eine Abneigung ihm gegenüber, und "ab der Mitte der Pubertät machte Sebald seinem Vater bittere Vorwürfe wegen seiner Nazi-Vergangenheit". Daher war es auch kaum verwunderlich, dass Sebald der Wehrpflicht durch Vortäuschen schlechter Gesundheit entging und sich stattdessen für ein geisteswissenschaftliches Studium fern seiner elterlichen Heimat einschrieb.
1963 begann Sebald mit einem Germanistikstudium seine akademische Karriere, unter schlechten Vorzeichen. In Freiburg missfiel ihm die Einstellung seiner Mitstudierenden, deren Mehrheit "politisch rechts orientiert und Mitglied in den berüchtigten Burschenschaften" war, ebenso wie die seiner Professoren, von denen "fast alle das NS-Regime entweder aktiv unterstützt oder bestenfalls geschwiegen hatten". Auch der Literaturwissenschaft der frühen Sechzigerjahre stand Sebald kritisch gegenüber: Seine Überzeugung, dass Literatur nicht losgelöst von ethischen Überzeugungen und der Biographie eines Autors betrachtet werden könne, stand der damals verbreiteten werkimmanenten Interpretation entgegen.
Dieser Konflikt schlug sich auch in Sebalds Abschlussarbeit nieder, die er 1966 im schweizerischen Fribourg als Lizenziatsarbeit anfertigte, in Manchester 1968 zur Magisterarbeit erweiterte und 1969 schließlich veröffentlichte. Thema ist der Dramatiker Carl Sternheim und Sebalds These zu seinem Werk und Leben provokant: Sternheim unterlaufe den satirischen, gesellschaftskritischen Anspruch seiner Dramen durch sein eigenes bürgerliches Leben. In seinen Fußnoten brachte Sebald Belege teils durcheinander, teils waren Quellen auch erfunden. Literaturwissenschaftler waren erzürnt über die Dreistigkeit.
Obwohl Sebald schon als Student Schriftsteller werden wollte, kehrte er nach einer Lehrtätigkeit in St. Gallen 1969 nach Manchester zurück, um eine Dissertation über Alfred Döblin zu schreiben. Auch diese Arbeit ist ein polemischer Angriff gegen einen etablierten deutschen Autor und missachtet formale Standards des wissenschaftlichen Schreibens. Die These lautet, "dass Döblins Versuch, in seinem Werk von Gewalt und Schrecken zu warnen, aufgrund seiner Pathologien ins Gegenteil umschlug, nämlich in ein Schwelgen darin, ja sogar eine Verherrlichung derselben". Abermals war Sebald die Wut der Germanisten sicher, sodass Angier in ihrer Biographie fragt: Was hat Sebald dazu bewegt, sich mit deutsch-jüdischen Autoren auf diese aggressive Art und Weise auseinandersetzen? Sie kommt zu dem Schluss: "Ich glaube, dass Sebald in diesen Jahren verwirrt war und mit seinem eigenen irrationalen Verstand kämpfte."
Die Wut in seinem wissenschaftlichen Schreiben verschwand im Laufe der Achtzigerjahre. Sebald wurde 1988 Professor an der University of East Anglia in Manchester, wo er bereits seit achtzehn Jahren lehrte und forschte. 1990 erschien dann sein erstes Prosawerk "Schwindel. Gefühle". Mit "Die Ausgewanderten" gelang Sebald zwei Jahre später der literarische Durchbruch, und sein Leben wandelte sich zu dem eines Berufsschriftstellers.
Neben der Frage, welchen therapeutischen Wert literarisches Schreiben für Sebald hatte, stellt Angier auch die nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit in seinen Erzählungen. In größter Detailarbeit geht sie Personen aus dem Leben des Autors nach, die offensichtlich oder möglicherweise Vorbild für literarische Figuren gewesen sein könnten.
Beispielhaft kann dafür Max Ferber (beziehungsweise Max Aurach in der Originalausgabe) aus den "Ausgewanderten" stehen. In diese Figur flossen laut Sebald selbst nicht nur autobiographische Elemente ein, sondern auch zwei weitere reale Personen: sein Vermieter in Manchester Peter Jordan und der bekannte Künstler Frank Auerbach. Für Ferber hat Sebald somit fast die gesamte Lebensgeschichte von Peter Jordan übernommen, einschließlich einiger Passagen aus den schriftlichen Memoiren seiner Tante Thea Gebhardt, die in "Die Ausgewanderten" als Erinnerungen von Luisa Lanzberg auftauchen. Diese literarische Methode wirft weiterführende ethische Fragen auf, die auch Angier in der Biographie immer wieder stellt: "Inwieweit ist es legitim, das Leben anderer Menschen und sogar deren Texte für literarische Zwecke zu verwenden? Und welche Verantwortung hat man ihnen gegenüber, wenn man das tut?"
Angier hat dazu eine klare, aber sehr wohlwollende Haltung. Für den Fall Thea Gebhardt ist sie der Meinung, dass Sebald ihr gegenüber zwar rücksichtslos handelte, da er ihre Memoiren nicht als Vorlage erwähnte, seine Methode aber legitim sei, da die Fakten einer Lebensgeschichte niemandem allein gehören.
In diesem Zusammenhang steht auch Angiers Entdeckung, dass viele Vorbilder von jüdischen Figuren in Sebalds Prosa im echten Leben keine Juden waren. Dies ist vor allem angesichts von Vorwürfen, Sebald vollziehe in seinen Werken eine Aneignung jüdischen Leids, ausschlaggebend. Dass die Vorbilder etwa für die Figuren Dr. Henry Selwyn und Jacques Austerlitz im echten Leben nicht jüdisch waren, könnte den Vorwurf dieser Aneignung verschärfen: Anstatt eine wahre Geschichte zu erzählen von Juden, die den Holocaust erleiden mussten, erzählt Sebald Lebensgeschichten auf wahrer Grundlage, in die er aber das Element der jüdischen Identität hinzudichtet. Das ist, in Angiers Worten, "schrecklich - oder brillant. Auf jeden Fall löst es die Grenze zwischen Opfern und Tätern, Deutschen und Juden auf." Diesem Thema wird in der ansonsten sehr umfangreichen Biographie leider wenig Platz zugestanden, eine Einordnung in die Debatte wäre wünschenswert gewesen.
Angier durchbricht die "klassische" chronologisch erzählte Lebensgeschichte. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch ein eigenes erzählendes Moment, mit dem die Biographin ihre Leser am Recherche- und Schreibprozess teilhaben lässt. Welche Menschen aus Sebalds Leben mit ihr gesprochen haben und welche ihr keine Auskunft geben wollten - wie Sebalds Witwe -, beschreibt die Autorin ebenso wie ihre Quellensuche.
Das erweckt zwar den Eindruck, sie spiele mit offenen Karten, was ihr Wissen zu W. G. Sebald angeht - kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige ihrer Ausführungen auf Gefühlen oder Vermutungen beruhen. Negativ ins Gewicht fallen zudem die häufigen Lobbekundungen Angiers, denn obwohl sie zu Beginn klar ihre Position als "Sebald-Liebhaber" markiert, muten diese Passagen teilweise sehr verklärend an. Insgesamt ist Carole Angiers Biographie zwar sehr ausführlich, schafft es aber leider nicht, auch den kritischen Stimmen in den Debatten um das Werk des Autors nachzugehen. EMILIA KRÖGER
Carole Angier: "W. G. Sebald - Nach der Stille". Biografie.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Hanser Verlag, München 2022. 716 S., Abb., geb., 38,- Euro.
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