„Carole Angier gelingt es, Sebald ehrlich in die Augen zu schauen und sich zugleich ihre Bewunderung zu bewahren.“ Observer
W.G. Sebald zählt zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, seine Arbeit beeinflusst Schreibende bis heute und löst noch immer internationale Debatten aus. Nun hat Carole Angier seine erste große Biografie geschrieben. Anhand seines Werks und der Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter und der letzten Zeitzeugen zeichnet sie das Porträt eines Autors, der sich den existenziellen Themen seiner Zeit auf besonders eindringliche Weise näherte. 1944 geboren, lebte und schrieb Sebald unter dem Eindruck von Holocaust und Krieg. Flucht, Exil und Verlust, das Erinnern und Vergessen wurden zu seinen zentralen Motiven. Carole Angier spürt diesen Motiven nach. Sie zeigt: Sebalds Leben und seine literarische Kunst zwischen Fiktion und Geschichte sind auf das Engste miteinander verknüpft.
W.G. Sebald zählt zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, seine Arbeit beeinflusst Schreibende bis heute und löst noch immer internationale Debatten aus. Nun hat Carole Angier seine erste große Biografie geschrieben. Anhand seines Werks und der Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter und der letzten Zeitzeugen zeichnet sie das Porträt eines Autors, der sich den existenziellen Themen seiner Zeit auf besonders eindringliche Weise näherte. 1944 geboren, lebte und schrieb Sebald unter dem Eindruck von Holocaust und Krieg. Flucht, Exil und Verlust, das Erinnern und Vergessen wurden zu seinen zentralen Motiven. Carole Angier spürt diesen Motiven nach. Sie zeigt: Sebalds Leben und seine literarische Kunst zwischen Fiktion und Geschichte sind auf das Engste miteinander verknüpft.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Emilia Kröger lernt von dieser Sebald-Biografie der englischen Schriftstellerin Carole Angiers unter anderem, dass das Schreiben für den Schriftsteller ein Mittel zur Verarbeitung früher Traumata war. Sie weist auf den Detailreichtum hin, mit dem die Autorin Menschen, die Sebald als Vorbilder für seine Figuren gedient haben (könnten), nachspürt. Dabei stellt Angiers, so die Rezensentin, wichtige ethische Fragen über die Legitimität solch literarischer Verarbeitung fremden Lebens. Zu kurz kommt der Kritikerin in diesem Zusammenhang allerdings die Diskussion des Vorwurfs, Sebald habe sich jüdisches Leid "angeeignet", weil er manche seiner Figuren als jüdisch beschrieb, obwohl sie es im echten Leben nicht waren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022Ungeheures
Anteilnehmen
Carole Angiers Biografie legt offen,
wie stark W.G. Sebalds gefeierte
Bücher auf der Aneignung fremder Leben
und fremder Werke beruhen
VON THOMAS STEINFELD
Von einer Rückkehr in die Heimat handelt die letzte Erzählung des Buches „Schwindel. Gefühle“, des zuerst im März 1990 erschienenen Prosawerks, mit dem der ebenso späte wie steile Aufstieg des Germanisten W. G. Sebald zu einem weltberühmten Schriftsteller begann. Dort wird von einer Reise in ein Allgäuer Dorf namens „W.“ berichtet, in dem der Erzähler, wie er behauptet, seit seiner „Kindheit nicht mehr gewesen“ sei. In seiner Darstellung gleicht der Weg zum Dorf einem Abstieg in eine ferne, fremde Welt, und der Erzähler ähnelt Kafka: Dass „W.“ dennoch als „Wertach“ zu lesen sei, dass der Autor tatsächlich aus diesem Dorf stammt und dass sich die meisten, wenn nicht alle Gestalten, die in diesem Buch auftreten, zumindest in der Nähe des tatsächlichen Lebens herumtreiben: Dieser Verdacht stellt sich dennoch bei der Lektüre ein, und der Leser ahnt zumindest, dass der Autor es mit der Fiktion nicht genau nahm. Die Einwohner von Wertach wussten es sofort.
Im Sommer 1990 veröffentlichte die Lokalzeitung die Erzählung „Wertach. Il ritorno in patria“ in 21 Folgen, vier Wochen lang, jeden Tag mit Ausnahme des Sonntags. Die Neugier der Dorfbevölkerung muss groß gewesen sein, bald auch die Bestürzung: Der nach England entlaufene und dort als Professor für deutsche Sprache und Literatur arbeitende Sebald hatte, wie Carole Angier nun in ihrer auf Deutsch erschienenen Biografie darlegt, über etliche Aufenthalte in seiner alten Heimat hinweg seine Verwandten und Bekannten ausgefragt und ihnen die Geheimnisse des Dorflebens entlockt. Manche der Informanten standen nun vor ihren Nachbarn als Verräter da. Am schlimmsten traf es, wie die Biografin einigen älteren Damen bei Kaffee und Kuchen entlockte, Sebalds Mutter: „Und sie konnte nie wieder nach Hause zurück.“
Die britische Publizistin Carole Angier hat mit ihrem Buch „Nach der Stille“ die erste umfassende Biografie des Schriftstellers verfasst, der im Dezember 2001 bei einem Autounfall in der Nähe von Norwich starb. Ihre Arbeit ist indessen mehr als eine Lebensgeschichte: Sie legt offen, was immer schon bekannt war, zuvor aber weder in dieser Tiefe noch in dieser Breite erschlossen wurde: nicht nur, dass die literarischen Arbeiten Sebalds in hohem Maße auf der Aneignung fremder Leben und fremder Werke beruhen, sondern auch, dass auf seine Selbstauskünfte kein Verlass war.
Alles wurde ihm zum Stoff, den er nach seinen Interessen (und oft ohne die Betroffenen zu fragen) veränderte, kombinierte, in seine langen, mäandrierenden Sätze fügte und in ein ebenso feines wie weit gespanntes Netz von Anspielungen und Bezügen verwebte, einem Ziel entgegen, das stets in Vernichtung und Untergang zu bestehen scheint. Und schließlich ist diese Biografie eine Huldigung an einen Mystiker, in dem sich die Wahrnehmung von allem und jedem wie bei Hofmannsthals Lord Chandos in ein „ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe“ verwandelt.
Die Aneignung fremden Lebens gehört zur Literatur ebenso wie die Erfindung. Dennoch wurde gegen Sebald der Vorwurf der Unredlichkeit erhoben: umso heftiger, je mehr Übernahmen man fand, und umso dringlicher, je mehr Sebalds Übergriffe Menschen zu Leidtragenden eines katastrophischen Weltgeschehens erklärten, mit dem sie tatsächlich wenig zu tun hatten. So geschah es etwa in dem von Angier aufgedeckten Fall des Dr. Henry Selwyn im Prosawerk „Die Ausgewanderten“. Die Figur ist einem Vermieter der Familie Sebald nachgebildet, den der Schriftsteller zu einem Juden und zu einem Opfer des Holocaust machte, obwohl er weder das eine noch das andere war.
Einen „Pantragismus“ sah der Schriftsteller Stephan Wackwitz in solchen Aneignungen am Werk mit stark vereinnahmenden Zügen. Zu der moralischen Kritik, Sebald habe es an Redlichkeit im Umgang mit seinen Quellen fehlen lassen, gesellte sich der Verdacht, so viel Leid in so schönen Sätzen verdanke sich im Grunde genommen einem sentimentalen Anliegen, in dem sich die Katastrophen gegenseitig nivellieren. Nicht nur, aber zuallererst wäre ein solches Verfahren dem Holocaust unangemessen. Carole Angier schwindelt es ob dieses Gedankens.
Die Biografin liest die Bücher nach angelsächsischer Art: Sebald gehört in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten, aber auch in den hispanischen Ländern, zu den großen Autoren der vergangenen Jahrzehnte, in einer Überhöhung, die ihn zuweilen als säkularen Heiligen erscheinen lässt. Sebald habe in seinen literarischen Werken stets das Fiktive im Faktischen gesucht, erklärt sie. Der „Völkermord an den Juden und die Bombardierung der deutschen Städte“ seien die Geheimnisse gewesen, die Sebald mit solchen Mitteln „unbedingt erforschen“ wollte, behauptet die Biografin. Aber was heißt „erforschen“?
Sebald selbst, das ist gewiss, ließ zwar Opfer des Holocaust in seinen Werken auftreten, und er warf den in Deutschland ansässigen Schriftstellern vor, nie angemessen über den Luftkrieg geschrieben zu haben. Aber hielt er sich tatsächlich für einen Autor des Völkermordes? Eine textkritische Lektüre gäbe diesen Befund nicht her: Vielmehr stellt der Holocaust in Sebalds Werk ein zwar einzigartig schlimmes, doch kein erstaunliches Ereignis in einer Weltgeschichte dar, die im Wesentlichen aus Verhängnissen zu bestehen scheint.
Die Biografin schließt die Lebensgeschichte, das Werk und die Verehrung eines Heiligen, der „ohne Haut geboren wurde“ und dem daher jedes Erlebnis zu einer existenziellen Erfahrung wurde, zusammen. So entsteht nicht nur eine in zahllosen Details ausgearbeitete gerade Linie, die von den Konflikten mit dem Vater, der Offizier der Wehrmacht gewesen und nach Gründung der Bundeswehr zur Armee zurückgekehrt war, über die frühe Entscheidung, Deutschland zu verlassen und nach England zu gehen, bis hin zu der abschließenden Frage Carole Angiers: „Warum war er derjenige, der für Deutschland litt, und über Deutschland hinaus für die ganze Welt?“ Aber war er das?
Gleich auf den ersten Seiten ihres Buches legt die Biografin dar, dass sie weder mit Sebalds Ehefrau noch mit deren Tochter hatte sprechen können. Sein englischer Lektor war ebenso wenig zu einem Gespräch bereit wie Uwe Schütte, ein Schüler Sebalds und innerhalb der Germanistik die erste Fachkraft für Werk und Leben des Schriftstellers. Und man muss hinzufügen: Carole Angier redete ebenso wenig mit Hans Magnus Enzensberger, dem ersten Verleger und Entdecker der literarischen Werke Sebalds, wie mit Michael Krüger, seinem späteren deutschen Verleger. Stattdessen erzählt sie von den Begegnungen mit den Informanten, die sie fand, sodass der Leser neben der Biografie auch eine Biografie der Biografie zu lesen bekommt.
Zu den Vorzügen ihres Buchs gehört die Genauigkeit, mit der sie von Sebalds Studium in Freiburg, von seinem kurzen Aufenthalt in der Schweiz und von seiner langsamen Karriere an einer englischen Universität berichtet. Zur Linie des Tragischen mag in dieser Hinsicht gehören, dass Sebald früh und mehr oder minder entschlossen ins Ausland ging. Doch warum brach er nicht mit Deutschland? Warum wurde er ein Germanist, eine Fachkraft nicht nur für die deutsche Literatur, sondern auch für das Land, für die Leute und die Sprache?
Vielleicht war Sebald, wie Angier annimmt, tatsächlich ein Dissident des Deutschen. Aber wenn er es war, betrieb er seinen Abschied von der Heimat in Gestalt einer geistigen Inbesitznahme. Eine Biografie hätte einen solchen Übergang zu erklären, ebenso wie zu begründen wäre, warum Sebald sich in seinen literaturwissenschaftlichen wie in seinen literarischen Arbeiten immer wieder mit Gestalten beschäftigte, die sich selbst als Randgestalten wahrnahmen. Weil er hoffte, sich über die Hinwendung zu den Marginalisierten von der eigenen Marginalisierung zu befreien? Und warum wäre er dann, als er die ersten literarischen Erfolge errungen hatte, gern als Professor nach Deutschland zurückgekehrt?
Antworten auf solche Fragen würden sich durchaus mit einer Bewunderung des Schriftstellers Sebald vertragen, mit der Hochachtung vor seinen Satzbögen, seinen Erfindungen, seiner Kombinationskunst. Mit der Verklärung des Dichters zu einem Heiligen vertragen sie sich nicht. Uwe Schütte hat nüchterne, klare Bücher über Sebald verfasst, die ihn in seiner literarischen Bedeutung nicht mindern. Carole Angiers Biografie wäre danebenzulegen, ihres Faktenreichtums wegen, aber auch als Einführung in ein mystisches Nachleben.
Trifft der Vorwurf,
er sei im Umgang mit
seinen Quellen nicht
redlich gewesen?
Carole Angier:
W.G. Sebald.
Nach der Stille. Biografie.
Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn.
Carl Hanser Verlag,
München 2022.
720 Seitem, 38 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Anteilnehmen
Carole Angiers Biografie legt offen,
wie stark W.G. Sebalds gefeierte
Bücher auf der Aneignung fremder Leben
und fremder Werke beruhen
VON THOMAS STEINFELD
Von einer Rückkehr in die Heimat handelt die letzte Erzählung des Buches „Schwindel. Gefühle“, des zuerst im März 1990 erschienenen Prosawerks, mit dem der ebenso späte wie steile Aufstieg des Germanisten W. G. Sebald zu einem weltberühmten Schriftsteller begann. Dort wird von einer Reise in ein Allgäuer Dorf namens „W.“ berichtet, in dem der Erzähler, wie er behauptet, seit seiner „Kindheit nicht mehr gewesen“ sei. In seiner Darstellung gleicht der Weg zum Dorf einem Abstieg in eine ferne, fremde Welt, und der Erzähler ähnelt Kafka: Dass „W.“ dennoch als „Wertach“ zu lesen sei, dass der Autor tatsächlich aus diesem Dorf stammt und dass sich die meisten, wenn nicht alle Gestalten, die in diesem Buch auftreten, zumindest in der Nähe des tatsächlichen Lebens herumtreiben: Dieser Verdacht stellt sich dennoch bei der Lektüre ein, und der Leser ahnt zumindest, dass der Autor es mit der Fiktion nicht genau nahm. Die Einwohner von Wertach wussten es sofort.
Im Sommer 1990 veröffentlichte die Lokalzeitung die Erzählung „Wertach. Il ritorno in patria“ in 21 Folgen, vier Wochen lang, jeden Tag mit Ausnahme des Sonntags. Die Neugier der Dorfbevölkerung muss groß gewesen sein, bald auch die Bestürzung: Der nach England entlaufene und dort als Professor für deutsche Sprache und Literatur arbeitende Sebald hatte, wie Carole Angier nun in ihrer auf Deutsch erschienenen Biografie darlegt, über etliche Aufenthalte in seiner alten Heimat hinweg seine Verwandten und Bekannten ausgefragt und ihnen die Geheimnisse des Dorflebens entlockt. Manche der Informanten standen nun vor ihren Nachbarn als Verräter da. Am schlimmsten traf es, wie die Biografin einigen älteren Damen bei Kaffee und Kuchen entlockte, Sebalds Mutter: „Und sie konnte nie wieder nach Hause zurück.“
Die britische Publizistin Carole Angier hat mit ihrem Buch „Nach der Stille“ die erste umfassende Biografie des Schriftstellers verfasst, der im Dezember 2001 bei einem Autounfall in der Nähe von Norwich starb. Ihre Arbeit ist indessen mehr als eine Lebensgeschichte: Sie legt offen, was immer schon bekannt war, zuvor aber weder in dieser Tiefe noch in dieser Breite erschlossen wurde: nicht nur, dass die literarischen Arbeiten Sebalds in hohem Maße auf der Aneignung fremder Leben und fremder Werke beruhen, sondern auch, dass auf seine Selbstauskünfte kein Verlass war.
Alles wurde ihm zum Stoff, den er nach seinen Interessen (und oft ohne die Betroffenen zu fragen) veränderte, kombinierte, in seine langen, mäandrierenden Sätze fügte und in ein ebenso feines wie weit gespanntes Netz von Anspielungen und Bezügen verwebte, einem Ziel entgegen, das stets in Vernichtung und Untergang zu bestehen scheint. Und schließlich ist diese Biografie eine Huldigung an einen Mystiker, in dem sich die Wahrnehmung von allem und jedem wie bei Hofmannsthals Lord Chandos in ein „ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe“ verwandelt.
Die Aneignung fremden Lebens gehört zur Literatur ebenso wie die Erfindung. Dennoch wurde gegen Sebald der Vorwurf der Unredlichkeit erhoben: umso heftiger, je mehr Übernahmen man fand, und umso dringlicher, je mehr Sebalds Übergriffe Menschen zu Leidtragenden eines katastrophischen Weltgeschehens erklärten, mit dem sie tatsächlich wenig zu tun hatten. So geschah es etwa in dem von Angier aufgedeckten Fall des Dr. Henry Selwyn im Prosawerk „Die Ausgewanderten“. Die Figur ist einem Vermieter der Familie Sebald nachgebildet, den der Schriftsteller zu einem Juden und zu einem Opfer des Holocaust machte, obwohl er weder das eine noch das andere war.
Einen „Pantragismus“ sah der Schriftsteller Stephan Wackwitz in solchen Aneignungen am Werk mit stark vereinnahmenden Zügen. Zu der moralischen Kritik, Sebald habe es an Redlichkeit im Umgang mit seinen Quellen fehlen lassen, gesellte sich der Verdacht, so viel Leid in so schönen Sätzen verdanke sich im Grunde genommen einem sentimentalen Anliegen, in dem sich die Katastrophen gegenseitig nivellieren. Nicht nur, aber zuallererst wäre ein solches Verfahren dem Holocaust unangemessen. Carole Angier schwindelt es ob dieses Gedankens.
Die Biografin liest die Bücher nach angelsächsischer Art: Sebald gehört in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten, aber auch in den hispanischen Ländern, zu den großen Autoren der vergangenen Jahrzehnte, in einer Überhöhung, die ihn zuweilen als säkularen Heiligen erscheinen lässt. Sebald habe in seinen literarischen Werken stets das Fiktive im Faktischen gesucht, erklärt sie. Der „Völkermord an den Juden und die Bombardierung der deutschen Städte“ seien die Geheimnisse gewesen, die Sebald mit solchen Mitteln „unbedingt erforschen“ wollte, behauptet die Biografin. Aber was heißt „erforschen“?
Sebald selbst, das ist gewiss, ließ zwar Opfer des Holocaust in seinen Werken auftreten, und er warf den in Deutschland ansässigen Schriftstellern vor, nie angemessen über den Luftkrieg geschrieben zu haben. Aber hielt er sich tatsächlich für einen Autor des Völkermordes? Eine textkritische Lektüre gäbe diesen Befund nicht her: Vielmehr stellt der Holocaust in Sebalds Werk ein zwar einzigartig schlimmes, doch kein erstaunliches Ereignis in einer Weltgeschichte dar, die im Wesentlichen aus Verhängnissen zu bestehen scheint.
Die Biografin schließt die Lebensgeschichte, das Werk und die Verehrung eines Heiligen, der „ohne Haut geboren wurde“ und dem daher jedes Erlebnis zu einer existenziellen Erfahrung wurde, zusammen. So entsteht nicht nur eine in zahllosen Details ausgearbeitete gerade Linie, die von den Konflikten mit dem Vater, der Offizier der Wehrmacht gewesen und nach Gründung der Bundeswehr zur Armee zurückgekehrt war, über die frühe Entscheidung, Deutschland zu verlassen und nach England zu gehen, bis hin zu der abschließenden Frage Carole Angiers: „Warum war er derjenige, der für Deutschland litt, und über Deutschland hinaus für die ganze Welt?“ Aber war er das?
Gleich auf den ersten Seiten ihres Buches legt die Biografin dar, dass sie weder mit Sebalds Ehefrau noch mit deren Tochter hatte sprechen können. Sein englischer Lektor war ebenso wenig zu einem Gespräch bereit wie Uwe Schütte, ein Schüler Sebalds und innerhalb der Germanistik die erste Fachkraft für Werk und Leben des Schriftstellers. Und man muss hinzufügen: Carole Angier redete ebenso wenig mit Hans Magnus Enzensberger, dem ersten Verleger und Entdecker der literarischen Werke Sebalds, wie mit Michael Krüger, seinem späteren deutschen Verleger. Stattdessen erzählt sie von den Begegnungen mit den Informanten, die sie fand, sodass der Leser neben der Biografie auch eine Biografie der Biografie zu lesen bekommt.
Zu den Vorzügen ihres Buchs gehört die Genauigkeit, mit der sie von Sebalds Studium in Freiburg, von seinem kurzen Aufenthalt in der Schweiz und von seiner langsamen Karriere an einer englischen Universität berichtet. Zur Linie des Tragischen mag in dieser Hinsicht gehören, dass Sebald früh und mehr oder minder entschlossen ins Ausland ging. Doch warum brach er nicht mit Deutschland? Warum wurde er ein Germanist, eine Fachkraft nicht nur für die deutsche Literatur, sondern auch für das Land, für die Leute und die Sprache?
Vielleicht war Sebald, wie Angier annimmt, tatsächlich ein Dissident des Deutschen. Aber wenn er es war, betrieb er seinen Abschied von der Heimat in Gestalt einer geistigen Inbesitznahme. Eine Biografie hätte einen solchen Übergang zu erklären, ebenso wie zu begründen wäre, warum Sebald sich in seinen literaturwissenschaftlichen wie in seinen literarischen Arbeiten immer wieder mit Gestalten beschäftigte, die sich selbst als Randgestalten wahrnahmen. Weil er hoffte, sich über die Hinwendung zu den Marginalisierten von der eigenen Marginalisierung zu befreien? Und warum wäre er dann, als er die ersten literarischen Erfolge errungen hatte, gern als Professor nach Deutschland zurückgekehrt?
Antworten auf solche Fragen würden sich durchaus mit einer Bewunderung des Schriftstellers Sebald vertragen, mit der Hochachtung vor seinen Satzbögen, seinen Erfindungen, seiner Kombinationskunst. Mit der Verklärung des Dichters zu einem Heiligen vertragen sie sich nicht. Uwe Schütte hat nüchterne, klare Bücher über Sebald verfasst, die ihn in seiner literarischen Bedeutung nicht mindern. Carole Angiers Biografie wäre danebenzulegen, ihres Faktenreichtums wegen, aber auch als Einführung in ein mystisches Nachleben.
Trifft der Vorwurf,
er sei im Umgang mit
seinen Quellen nicht
redlich gewesen?
Carole Angier:
W.G. Sebald.
Nach der Stille. Biografie.
Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn.
Carl Hanser Verlag,
München 2022.
720 Seitem, 38 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2023Die Schlingen des Saturn
Wenn eine Liebhaberin der Literatur W. G. Sebalds
zu dessen Biographin wird, ist das eine gute Idee?
An Carole Angiers Buch "Nach der Stille"
lässt es sich kritisch überprüfen.
Carole Angier beginnt ihre Biographie über W. G. Sebald nicht mit dessen Geburt, sondern mit einer Frage, auf die das Leben des Schriftstellers eine Antwort geben soll: Warum musste Sebald Schriftsteller werden? Sie versucht, sie zu beantworten, indem sie durch Sebalds Krisen führt. Dazu gehört das Bewusstsein für die beiden "lautlosen Katastrophen" in der deutschen Geschichte - den Holocaust und die Bombardierung deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs -, die ihn früh geprägt haben. Einem Abschnitt seines Langgedichts "Nach der Natur" folgend, behauptet Angier sogar, dass der Bombenangriff auf Nürnberg 1943, den Sebalds Mutter Rosa erlebte, als sie mit ihm schwanger war, Sebald schon vor seiner eigenen Geburt erschüttert habe. "Es war das erste Trauma in seinem Leben."
Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 geboren und verbrachte die ersten acht Jahre seines Lebens in Wertach, einem kleinem Dort im Allgäu. Trotz seines Aufwachsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebte er eine unbeschwerte Kindheit. Getrübt wurde diese nur durch den Konflikt mit seinem Vater, der 1947 aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Schon der kindliche Sebald hegte eine Abneigung ihm gegenüber, und "ab der Mitte der Pubertät machte Sebald seinem Vater bittere Vorwürfe wegen seiner Nazi-Vergangenheit". Daher war es auch kaum verwunderlich, dass Sebald der Wehrpflicht durch Vortäuschen schlechter Gesundheit entging und sich stattdessen für ein geisteswissenschaftliches Studium fern seiner elterlichen Heimat einschrieb.
1963 begann Sebald mit einem Germanistikstudium seine akademische Karriere, unter schlechten Vorzeichen. In Freiburg missfiel ihm die Einstellung seiner Mitstudierenden, deren Mehrheit "politisch rechts orientiert und Mitglied in den berüchtigten Burschenschaften" war, ebenso wie die seiner Professoren, von denen "fast alle das NS-Regime entweder aktiv unterstützt oder bestenfalls geschwiegen hatten". Auch der Literaturwissenschaft der frühen Sechzigerjahre stand Sebald kritisch gegenüber: Seine Überzeugung, dass Literatur nicht losgelöst von ethischen Überzeugungen und der Biographie eines Autors betrachtet werden könne, stand der damals verbreiteten werkimmanenten Interpretation entgegen.
Dieser Konflikt schlug sich auch in Sebalds Abschlussarbeit nieder, die er 1966 im schweizerischen Fribourg als Lizenziatsarbeit anfertigte, in Manchester 1968 zur Magisterarbeit erweiterte und 1969 schließlich veröffentlichte. Thema ist der Dramatiker Carl Sternheim und Sebalds These zu seinem Werk und Leben provokant: Sternheim unterlaufe den satirischen, gesellschaftskritischen Anspruch seiner Dramen durch sein eigenes bürgerliches Leben. In seinen Fußnoten brachte Sebald Belege teils durcheinander, teils waren Quellen auch erfunden. Literaturwissenschaftler waren erzürnt über die Dreistigkeit.
Obwohl Sebald schon als Student Schriftsteller werden wollte, kehrte er nach einer Lehrtätigkeit in St. Gallen 1969 nach Manchester zurück, um eine Dissertation über Alfred Döblin zu schreiben. Auch diese Arbeit ist ein polemischer Angriff gegen einen etablierten deutschen Autor und missachtet formale Standards des wissenschaftlichen Schreibens. Die These lautet, "dass Döblins Versuch, in seinem Werk von Gewalt und Schrecken zu warnen, aufgrund seiner Pathologien ins Gegenteil umschlug, nämlich in ein Schwelgen darin, ja sogar eine Verherrlichung derselben". Abermals war Sebald die Wut der Germanisten sicher, sodass Angier in ihrer Biographie fragt: Was hat Sebald dazu bewegt, sich mit deutsch-jüdischen Autoren auf diese aggressive Art und Weise auseinandersetzen? Sie kommt zu dem Schluss: "Ich glaube, dass Sebald in diesen Jahren verwirrt war und mit seinem eigenen irrationalen Verstand kämpfte."
Die Wut in seinem wissenschaftlichen Schreiben verschwand im Laufe der Achtzigerjahre. Sebald wurde 1988 Professor an der University of East Anglia in Manchester, wo er bereits seit achtzehn Jahren lehrte und forschte. 1990 erschien dann sein erstes Prosawerk "Schwindel. Gefühle". Mit "Die Ausgewanderten" gelang Sebald zwei Jahre später der literarische Durchbruch, und sein Leben wandelte sich zu dem eines Berufsschriftstellers.
Neben der Frage, welchen therapeutischen Wert literarisches Schreiben für Sebald hatte, stellt Angier auch die nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit in seinen Erzählungen. In größter Detailarbeit geht sie Personen aus dem Leben des Autors nach, die offensichtlich oder möglicherweise Vorbild für literarische Figuren gewesen sein könnten.
Beispielhaft kann dafür Max Ferber (beziehungsweise Max Aurach in der Originalausgabe) aus den "Ausgewanderten" stehen. In diese Figur flossen laut Sebald selbst nicht nur autobiographische Elemente ein, sondern auch zwei weitere reale Personen: sein Vermieter in Manchester Peter Jordan und der bekannte Künstler Frank Auerbach. Für Ferber hat Sebald somit fast die gesamte Lebensgeschichte von Peter Jordan übernommen, einschließlich einiger Passagen aus den schriftlichen Memoiren seiner Tante Thea Gebhardt, die in "Die Ausgewanderten" als Erinnerungen von Luisa Lanzberg auftauchen. Diese literarische Methode wirft weiterführende ethische Fragen auf, die auch Angier in der Biographie immer wieder stellt: "Inwieweit ist es legitim, das Leben anderer Menschen und sogar deren Texte für literarische Zwecke zu verwenden? Und welche Verantwortung hat man ihnen gegenüber, wenn man das tut?"
Angier hat dazu eine klare, aber sehr wohlwollende Haltung. Für den Fall Thea Gebhardt ist sie der Meinung, dass Sebald ihr gegenüber zwar rücksichtslos handelte, da er ihre Memoiren nicht als Vorlage erwähnte, seine Methode aber legitim sei, da die Fakten einer Lebensgeschichte niemandem allein gehören.
In diesem Zusammenhang steht auch Angiers Entdeckung, dass viele Vorbilder von jüdischen Figuren in Sebalds Prosa im echten Leben keine Juden waren. Dies ist vor allem angesichts von Vorwürfen, Sebald vollziehe in seinen Werken eine Aneignung jüdischen Leids, ausschlaggebend. Dass die Vorbilder etwa für die Figuren Dr. Henry Selwyn und Jacques Austerlitz im echten Leben nicht jüdisch waren, könnte den Vorwurf dieser Aneignung verschärfen: Anstatt eine wahre Geschichte zu erzählen von Juden, die den Holocaust erleiden mussten, erzählt Sebald Lebensgeschichten auf wahrer Grundlage, in die er aber das Element der jüdischen Identität hinzudichtet. Das ist, in Angiers Worten, "schrecklich - oder brillant. Auf jeden Fall löst es die Grenze zwischen Opfern und Tätern, Deutschen und Juden auf." Diesem Thema wird in der ansonsten sehr umfangreichen Biographie leider wenig Platz zugestanden, eine Einordnung in die Debatte wäre wünschenswert gewesen.
Angier durchbricht die "klassische" chronologisch erzählte Lebensgeschichte. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch ein eigenes erzählendes Moment, mit dem die Biographin ihre Leser am Recherche- und Schreibprozess teilhaben lässt. Welche Menschen aus Sebalds Leben mit ihr gesprochen haben und welche ihr keine Auskunft geben wollten - wie Sebalds Witwe -, beschreibt die Autorin ebenso wie ihre Quellensuche.
Das erweckt zwar den Eindruck, sie spiele mit offenen Karten, was ihr Wissen zu W. G. Sebald angeht - kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige ihrer Ausführungen auf Gefühlen oder Vermutungen beruhen. Negativ ins Gewicht fallen zudem die häufigen Lobbekundungen Angiers, denn obwohl sie zu Beginn klar ihre Position als "Sebald-Liebhaber" markiert, muten diese Passagen teilweise sehr verklärend an. Insgesamt ist Carole Angiers Biographie zwar sehr ausführlich, schafft es aber leider nicht, auch den kritischen Stimmen in den Debatten um das Werk des Autors nachzugehen. EMILIA KRÖGER
Carole Angier: "W. G. Sebald - Nach der Stille". Biografie.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Hanser Verlag, München 2022. 716 S., Abb., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn eine Liebhaberin der Literatur W. G. Sebalds
zu dessen Biographin wird, ist das eine gute Idee?
An Carole Angiers Buch "Nach der Stille"
lässt es sich kritisch überprüfen.
Carole Angier beginnt ihre Biographie über W. G. Sebald nicht mit dessen Geburt, sondern mit einer Frage, auf die das Leben des Schriftstellers eine Antwort geben soll: Warum musste Sebald Schriftsteller werden? Sie versucht, sie zu beantworten, indem sie durch Sebalds Krisen führt. Dazu gehört das Bewusstsein für die beiden "lautlosen Katastrophen" in der deutschen Geschichte - den Holocaust und die Bombardierung deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs -, die ihn früh geprägt haben. Einem Abschnitt seines Langgedichts "Nach der Natur" folgend, behauptet Angier sogar, dass der Bombenangriff auf Nürnberg 1943, den Sebalds Mutter Rosa erlebte, als sie mit ihm schwanger war, Sebald schon vor seiner eigenen Geburt erschüttert habe. "Es war das erste Trauma in seinem Leben."
Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 geboren und verbrachte die ersten acht Jahre seines Lebens in Wertach, einem kleinem Dort im Allgäu. Trotz seines Aufwachsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebte er eine unbeschwerte Kindheit. Getrübt wurde diese nur durch den Konflikt mit seinem Vater, der 1947 aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Schon der kindliche Sebald hegte eine Abneigung ihm gegenüber, und "ab der Mitte der Pubertät machte Sebald seinem Vater bittere Vorwürfe wegen seiner Nazi-Vergangenheit". Daher war es auch kaum verwunderlich, dass Sebald der Wehrpflicht durch Vortäuschen schlechter Gesundheit entging und sich stattdessen für ein geisteswissenschaftliches Studium fern seiner elterlichen Heimat einschrieb.
1963 begann Sebald mit einem Germanistikstudium seine akademische Karriere, unter schlechten Vorzeichen. In Freiburg missfiel ihm die Einstellung seiner Mitstudierenden, deren Mehrheit "politisch rechts orientiert und Mitglied in den berüchtigten Burschenschaften" war, ebenso wie die seiner Professoren, von denen "fast alle das NS-Regime entweder aktiv unterstützt oder bestenfalls geschwiegen hatten". Auch der Literaturwissenschaft der frühen Sechzigerjahre stand Sebald kritisch gegenüber: Seine Überzeugung, dass Literatur nicht losgelöst von ethischen Überzeugungen und der Biographie eines Autors betrachtet werden könne, stand der damals verbreiteten werkimmanenten Interpretation entgegen.
Dieser Konflikt schlug sich auch in Sebalds Abschlussarbeit nieder, die er 1966 im schweizerischen Fribourg als Lizenziatsarbeit anfertigte, in Manchester 1968 zur Magisterarbeit erweiterte und 1969 schließlich veröffentlichte. Thema ist der Dramatiker Carl Sternheim und Sebalds These zu seinem Werk und Leben provokant: Sternheim unterlaufe den satirischen, gesellschaftskritischen Anspruch seiner Dramen durch sein eigenes bürgerliches Leben. In seinen Fußnoten brachte Sebald Belege teils durcheinander, teils waren Quellen auch erfunden. Literaturwissenschaftler waren erzürnt über die Dreistigkeit.
Obwohl Sebald schon als Student Schriftsteller werden wollte, kehrte er nach einer Lehrtätigkeit in St. Gallen 1969 nach Manchester zurück, um eine Dissertation über Alfred Döblin zu schreiben. Auch diese Arbeit ist ein polemischer Angriff gegen einen etablierten deutschen Autor und missachtet formale Standards des wissenschaftlichen Schreibens. Die These lautet, "dass Döblins Versuch, in seinem Werk von Gewalt und Schrecken zu warnen, aufgrund seiner Pathologien ins Gegenteil umschlug, nämlich in ein Schwelgen darin, ja sogar eine Verherrlichung derselben". Abermals war Sebald die Wut der Germanisten sicher, sodass Angier in ihrer Biographie fragt: Was hat Sebald dazu bewegt, sich mit deutsch-jüdischen Autoren auf diese aggressive Art und Weise auseinandersetzen? Sie kommt zu dem Schluss: "Ich glaube, dass Sebald in diesen Jahren verwirrt war und mit seinem eigenen irrationalen Verstand kämpfte."
Die Wut in seinem wissenschaftlichen Schreiben verschwand im Laufe der Achtzigerjahre. Sebald wurde 1988 Professor an der University of East Anglia in Manchester, wo er bereits seit achtzehn Jahren lehrte und forschte. 1990 erschien dann sein erstes Prosawerk "Schwindel. Gefühle". Mit "Die Ausgewanderten" gelang Sebald zwei Jahre später der literarische Durchbruch, und sein Leben wandelte sich zu dem eines Berufsschriftstellers.
Neben der Frage, welchen therapeutischen Wert literarisches Schreiben für Sebald hatte, stellt Angier auch die nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit in seinen Erzählungen. In größter Detailarbeit geht sie Personen aus dem Leben des Autors nach, die offensichtlich oder möglicherweise Vorbild für literarische Figuren gewesen sein könnten.
Beispielhaft kann dafür Max Ferber (beziehungsweise Max Aurach in der Originalausgabe) aus den "Ausgewanderten" stehen. In diese Figur flossen laut Sebald selbst nicht nur autobiographische Elemente ein, sondern auch zwei weitere reale Personen: sein Vermieter in Manchester Peter Jordan und der bekannte Künstler Frank Auerbach. Für Ferber hat Sebald somit fast die gesamte Lebensgeschichte von Peter Jordan übernommen, einschließlich einiger Passagen aus den schriftlichen Memoiren seiner Tante Thea Gebhardt, die in "Die Ausgewanderten" als Erinnerungen von Luisa Lanzberg auftauchen. Diese literarische Methode wirft weiterführende ethische Fragen auf, die auch Angier in der Biographie immer wieder stellt: "Inwieweit ist es legitim, das Leben anderer Menschen und sogar deren Texte für literarische Zwecke zu verwenden? Und welche Verantwortung hat man ihnen gegenüber, wenn man das tut?"
Angier hat dazu eine klare, aber sehr wohlwollende Haltung. Für den Fall Thea Gebhardt ist sie der Meinung, dass Sebald ihr gegenüber zwar rücksichtslos handelte, da er ihre Memoiren nicht als Vorlage erwähnte, seine Methode aber legitim sei, da die Fakten einer Lebensgeschichte niemandem allein gehören.
In diesem Zusammenhang steht auch Angiers Entdeckung, dass viele Vorbilder von jüdischen Figuren in Sebalds Prosa im echten Leben keine Juden waren. Dies ist vor allem angesichts von Vorwürfen, Sebald vollziehe in seinen Werken eine Aneignung jüdischen Leids, ausschlaggebend. Dass die Vorbilder etwa für die Figuren Dr. Henry Selwyn und Jacques Austerlitz im echten Leben nicht jüdisch waren, könnte den Vorwurf dieser Aneignung verschärfen: Anstatt eine wahre Geschichte zu erzählen von Juden, die den Holocaust erleiden mussten, erzählt Sebald Lebensgeschichten auf wahrer Grundlage, in die er aber das Element der jüdischen Identität hinzudichtet. Das ist, in Angiers Worten, "schrecklich - oder brillant. Auf jeden Fall löst es die Grenze zwischen Opfern und Tätern, Deutschen und Juden auf." Diesem Thema wird in der ansonsten sehr umfangreichen Biographie leider wenig Platz zugestanden, eine Einordnung in die Debatte wäre wünschenswert gewesen.
Angier durchbricht die "klassische" chronologisch erzählte Lebensgeschichte. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch ein eigenes erzählendes Moment, mit dem die Biographin ihre Leser am Recherche- und Schreibprozess teilhaben lässt. Welche Menschen aus Sebalds Leben mit ihr gesprochen haben und welche ihr keine Auskunft geben wollten - wie Sebalds Witwe -, beschreibt die Autorin ebenso wie ihre Quellensuche.
Das erweckt zwar den Eindruck, sie spiele mit offenen Karten, was ihr Wissen zu W. G. Sebald angeht - kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige ihrer Ausführungen auf Gefühlen oder Vermutungen beruhen. Negativ ins Gewicht fallen zudem die häufigen Lobbekundungen Angiers, denn obwohl sie zu Beginn klar ihre Position als "Sebald-Liebhaber" markiert, muten diese Passagen teilweise sehr verklärend an. Insgesamt ist Carole Angiers Biographie zwar sehr ausführlich, schafft es aber leider nicht, auch den kritischen Stimmen in den Debatten um das Werk des Autors nachzugehen. EMILIA KRÖGER
Carole Angier: "W. G. Sebald - Nach der Stille". Biografie.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Hanser Verlag, München 2022. 716 S., Abb., geb., 38,- Euro.
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"W.G. Sebald hätte sich gar keine klügere und verständnisvollere Biografin wünschen können als Carole Angier. (...) Angiers Sebald-Biografie liest sich kapitelweise spannend wie ein Detektivroman." Oliver Pfohlmann, Der Tagesspiegel, 22.12.22