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Ein Flüchtlingsmädchen im Deutschland der Nachkriegszeit kämpft gegen das Schweigen
Sommer 1948: Die 16-jährige Martha ist ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Dass ihre Familie nicht dazugehört, bekommt sie täglich zu spüren. Mit ihrem Vater und zwei Geschwistern ist sie in einem ausrangierten Bahnwaggon am Rand eines bayerischen Dorfes untergekommen. Um den Waggon ranken sich Gerüchte, vor allem um seinen früheren Bewohner Alois Roth. Der Mann ist in der Nazizeit spurlos verschwunden. Als Martha davon erfährt, wird sie neugierig. Was war Alois Roth für ein Mensch? Warum lebte er in…mehr

Produktbeschreibung
Ein Flüchtlingsmädchen im Deutschland der Nachkriegszeit kämpft gegen das Schweigen

Sommer 1948: Die 16-jährige Martha ist ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Dass ihre Familie nicht dazugehört, bekommt sie täglich zu spüren. Mit ihrem Vater und zwei Geschwistern ist sie in einem ausrangierten Bahnwaggon am Rand eines bayerischen Dorfes untergekommen. Um den Waggon ranken sich Gerüchte, vor allem um seinen früheren Bewohner Alois Roth. Der Mann ist in der Nazizeit spurlos verschwunden.
Als Martha davon erfährt, wird sie neugierig. Was war Alois Roth für ein Mensch? Warum lebte er in diesem einsamen Waggon? Sie beginnt nachzufragen. Aber im Ort möchte niemand darüber sprechen. Es gibt Dinge, die sollte man besser ruhen lassen, heißt es nur. Doch Martha lässt sich nicht beirren. Sie will herausfinden, was wirklich mit ihm passiert ist.
Der bewegende Roman von Robert Domes (»Nebel im August«) beruht auf wahren Begebenheiten und gründlicher Recherche. Sensibel erzählt er von Kriegstrauma und Verdrängen, von der Frage nach Schuld und der Suche nach der Wahrheit.
Autorenporträt
Robert Domes, geboren 1961 im bayerischen Ichenhausen, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften in München. Er arbeitete jahrelang als Redakteur bei der Allgäuer Zeitung, zuletzt als Leiter der Lokalredaktion in Kaufbeuren, bevor er sich 2002 als Journalist und Autor selbstständig machte. 'Nebel im August', sein erstes Jugendbuch über ein "Euthanasie"-Opfer im Dritten Reich, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Inzwischen gibt es davon eine hochkarätige, vielfach ausgezeichnete Verfilmung von Kai Wessel mit Ivo Pietzcker in der Hauptrolle.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2022

Die Geschichte eines „Asozialen“
In seinem Roman „Waggon vierter Klasse“ erzählt Robert Domes das Schicksal eines Allgäuers, der nach Auschwitz deportiert wurde – aus einer wenig
beachteten NS-Opfergruppe. Aber der alte Eisenbahnwaggon am Rande des Ortes birgt noch andere Geheimnisse
VON FLORIAN FUCHS
Obergünzburg – Sie haben ihn von der Seite fotografiert und von vorne, so wie alle Häftlinge. Alois Roth hat in Auschwitz eine Nummer bekommen, 173690. Und doch sind das keine üblichen Häftlingsbilder. „Er wirkt nicht wie jemand, der gerade in der Hölle angekommen ist“, sagt Robert Domes. Alois Roth blickt nach seiner Ankunft in Auschwitz stolz in die Kamera, er reckt seinen Kopf. Auch bei seinen Recherchen in der Gedenkstätte in Auschwitz, erzählt Autor Domes, haben die Mitarbeiter dort gestaunt, als sie die Bilder genau betrachtet haben: Einen Mann, der bei seiner Ankunft im Konzentrationslager fast so etwas wie Zuversicht ausstrahlt, haben sie hier nicht oft gesehen.
„Diese Geschichte ist ein Geschenk“, sagt Robert Domes über den Stoff, den er zu einem Buch verarbeitet hat. „Waggon vierter Klasse“ handelt nicht nur davon, wie der Gastwirtssohn Alois Roth aus Obergünzburg auf die schiefe Bahn gerät und schließlich nach Auschwitz deportiert wird. Es ist auch eine Geschichte über das Ankommen, über das Flüchtlingsmädchen Martha, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Bahnwaggon am Rande von Obergünzburg hausen muss, dort, wo vor seiner Verhaftung auch Alois Roth lebte. Und die Nachforschungen anstellt über den Mann, zu dem sie im Dorf lieber schweigen.
Ein Geschenk ist die Geschichte tatsächlich. Weil Kleinkriminelle wie Alois Roth, von den Nazis als „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ stigmatisiert, erst 2020 vom Bundestag offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden – und Robert Domes die Geschichte eines Betroffenen mit Leben füllt. Und weil das Buch über die Figur Martha gleichzeitig die Zeit zwischen Kriegsende und Gründung der BRD beleuchtet, mit der mühsamen Integration der Vertriebenen und der kollektiven Verdrängung der NS-Verbrechen.
Schon in seinem ersten Buch „Nebel im August“ hat Robert Domes die Geschichte des Euthanasie-Opfers Ernst Lossa nacherzählt, der in der psychiatrische Anstalt in Kaufbeuren die Todesspritze verabreicht bekam. Das Buch war ein großer Erfolg, es wurde verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Domes wohnt im Allgäu, als langjähriger Redakteur kennt er sich hier bestens aus. Trotzdem hat er gezögert, ob er „Waggon vierter Klasse“ aufschreiben soll. Schon wieder ein Stoff aus der NS-Zeit, in diese Schublade will er als Autor eigentlich gar nicht. „Und ich wusste, das tut mir beim Recherchieren weh“, sagt der 60-Jährige, als er gerade den Weg hinauf zum Obergünzburger Friedhof wandert.
Es ist ja noch vieles da im Ort: das Gasthaus zum Lamm, in dem Alois Roth aufgewachsen ist. Domes zeigt die Knabenschule, von der Roth nur gute Noten nach Hause gebracht hat. Und der Friedhof mit dem Familiengrab, auf dem sie nach dem Krieg sogar Roths Namen vermerkt haben, obwohl er doch das schwarze Schaf war. Und obwohl er da drin gar nicht liegt, er starb 1945 nach einem Todesmarsch im KZ Mauthausen. Von hier oben, über die Friedhofsmauer hinweg, ist auch der Platz außerhalb der damaligen Dorfgrenzen zu sehen, auf dem der ausrangierte Waggon stand, in dem Roth und dann nach dem Krieg das Flüchtlingsmädchen wohnten. „Ostbahnhof“ haben die Leute den Waggon damals genannt, der abgeschieden an einem kleinen Bach stand und nicht richtig dazu gehörte.
Auch die Figur Martha hat ein reales Vorbild: Eva Schwertner kam als 17-Jährige von Königsberg in Ostpreußen nach Obergünzburg. Etwa ein Jahr lebte sie auf ein paar Quadratmetern in dem Waggon gemeinsam mit ihrem Vater. Sie hat Domes ihre Geschichte erzählt, wie sie sich fremd fühlte in dem Dorf und wie sie fremd blieb, während andere aus der Familie, ihre Eltern und ihre Brüder, sich später gut integrierten. Ihre Erzählungen hat Domes detailgetreu nacherzählt. Nur die Nachforschungen der Romanfigur Martha nach Alois Roth, die sind erfunden. „Sie wusste gar nicht, wer vor ihr im Waggon gelebt hat“, sagt Domes.
Dafür wussten es Zeitzeugen aus dem Ort noch. Sie erinnern sich an Roth als „Bauernphilosophen“, als Sonderling, der gerne Geschichten erzählte und irgendwie eigensinnig war. Wilhelm Weinbrenner ist zunächst auf den Waggon und seinen Bewohner aufmerksam geworden. Der Obergünzburger hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Lokalgeschichte des Dorfs initiiert, irgendwann hat er sein Material über Roth an Robert Domes übergeben, der die Recherchen vertiefte: im Gemeindearchiv, in Augsburg, in Auschwitz. „Am Ende“, sagt Domes, „hatte ich ein relativ gutes Bild, wann er wo war und was mit ihm passiert ist.“ Was die Dokumente aber nie hergeben, ist das Alltagsleben, sein Gefühlsleben, wie er geredet hat. „In die Fakten schreibe ich ein Drehbuch rein, und bleibe dabei möglichst nah an der Realität.“
So ist unklar, warum genau Roth 1943 schließlich verhaftet wurde. Im Buch lässt Domes ihn bei einem Bier zu viel im Wirtshaus einen abfälligen Spruch zu viel über die Nazis sagen. Klar ist, dass der „Lamm-Wirts Luis“, wie sie ihn hier nannten, sich nicht in das für ihn vorgesehene Leben pressen lassen wollte. Er hatte beste Noten, er hätte einen guten Job anvisieren können, stattdessen musste er bei seinem Vater eine Lehre machen. Er stand dann vor der Entscheidung, als Knecht für seinen älteren Bruder zu arbeiten, der den Betrieb übernahm. Oder sich woanders als einfacher Arbeiter zu verdingen. Stattdessen driftete er langsam ab, hauste im Waggon, zwischen 1919 und 1938 sind zwanzig Straftaten eingetragen: Schleichhandel, Hehlerei, Diebstahl.
Günzburg war ein sehr braunes Nest damals. „Das lässt sich nicht leugnen“, sagt Domes. Und so ist „Waggon vierter Klasse“ auch ein Buch über die Radikalisierung einer Gesellschaft und die Bereitschaft zur Integration. „Wobei sich die Geschichte in jedem anderen Ort in Deutschland auch so zugetragen haben könnte“, betont Domes.
Tatsächlich gab es in Obergünzburg besorgte Stimmen, dass ein Buch über den Waggon und über den Lamm-Wirts Luis ein schlechtes Licht auf den Ort werfen könnte. Wilhelm Weinbrenner aber hat inzwischen zahlreiche positive Rückmeldungen erhalten. Zumal das Buch die Person Alois Roth wieder aufleben lässt, der Markt Obergünzburg auf Initiative Weinbrenners hin aber noch weitere Anstrengungen unternimmt, die Erinnerung wach zu halten. So war es der Hobby-Historiker, der den genauen Stellplatz des verschollenen Waggons herausgefunden hat. Außen herum stehen inzwischen Einfamilienhäuser, Weinbrenner selbst wohnt nicht weit entfernt. Genau der Stellplatz am Bach aber ist unbebaut geblieben, verwildert und zugewachsen.
Die Gemeinde hat nun ein grünes Klassenzimmer daraus gemacht, eine „Denkstätte“, wie es Weinbrenner nennt. Schulklassen sollen hier unterrichtet werden. Und auf der anderen Seite des Baches, auf einem Spielplatz, entsteht bald ein neues Klettergerät mit Rutsche. Es ist einem Bahnwaggon nachempfunden, darauf ein Schild: „Ostbahnhof“.
Robert Domes: Waggon vierter Klasse. Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit. cbj, Penguin Random House Verlagsgruppe. 348 Seiten.
Autor Robert Domes hat gezögert, ob er „Waggon vierter Klasse“ wirklich aufschreiben soll.
Alois Roth (oben) wurde, wie alle Häftlinge, nach seiner Ankunft in
Auschwitz fotografiert. Auf dem Familiengrab der Roths in
Obergünzburg ist auch der Name von Alois vermerkt – obwohl er doch das schwarze Schaf war. Und obwohl er hier gar nicht
begraben liegt. Das Gasthaus zum Lamm gibt es bis heute im Ort.
Fotos: Archive of the Auschwitz-Birkenau State Museum, ffu (3)
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»In seinem Roman 'Waggon vierter Klasse' erzählt Robert Domes das Schicksal eines Allgäuers, der nach Auschwitz deportiert wurde - aus einer wenig beachteten NS-Opfergruppe.« Süddeutsche Zeitung über »Waggon vierter Klasse«