Ivna Zic öffnet in ihrer autofiktionalen Reflexion Zugänge zu den völlig unterschiedlichen Welten ihrer beiden Großmütter und des schweigsamen Großvaters, in deren Leben sich europäische Geschichte und eine untergegangene Welt spiegeln, die nach wie vor in uns weiterlebt und unser Handeln bestimmt.
In zärtlicher Prosa und mit präzisen Beschreibungen geht Ivna Zic den Spuren ihrer Ahnen nach und eröffnet einen Ort des Wiedererkennens im anderen und des anderen. Diversität ist horizontal und vertikal, diachron und synchron. Zic' Text öffnet sich in einem Durchgang von der Vergangenheit in eine europäische Zukunft, in der sich eine neue, radikale Vielsprachigkeit längst Raum geschaffen hat, und lässt dadurch aus dem Privaten das Politische und aus den neuen Verhältnissen neue Erzählungen entstehen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Im Sozialismus tabu: Ivna Zic erkundet das Schweigen über den Mord an Tausenden Flüchtlingen aus Jugoslawien im Mai 1945
Geheimnisvoll, womöglich gefährlich, vielleicht auch tückisch und böse: Dem Kind, das Ivna Zic war, und der jungen Frau, zu der Ivna Zic wurde, muss das Wort "Bleiburg" bedrohlich vorgekommen sein. Bleiburg, das war "eine Lücke, die von Fragen gefüllt wurde", schreibt die Autorin. "Es wurde mir sofort klar, wie aufgeladen dieses Wort in unserer Familie war, aber anscheinend auch außerhalb." Wenn das Wort fiel, "entstand sehr schnell eine Atmosphäre im Raum, in der man nicht weiter nachfragt".
Dabei ist Bleiburg zunächst einmal nur der Name einer kleinen Gemeinde von wenigen Tausend Einwohnern im Süden Kärntens an der Grenze zu Slowenien. Doch dieser Name ist unauflöslich verbunden mit dem größten Massenmord, der sich in Europa nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 ereignet hat. Etwa 150.000 Menschen hatten Mitte Mai 1945 auf der Flucht vor den Partisanen versucht, von Jugoslawien aus österreichisches Territorium zu erreichen, um sich dort britischen Truppen zu ergeben. Doch die waren an solchen Gefangenen nicht interessiert und trieben sie unter Androhung von Waffengewalt zurück nach Jugoslawien. Dort wurden Zehntausende der Zwangsrepatriierten bei Todesmärschen in einem sich über Wochen hinziehenden Massaker getötet und in Massengräbern verscharrt. Die Überlebenden kamen in Arbeitslager. Zu Letzteren gehörte auch einer der Großväter von Ivna Zic.
Was ist damals geschehen? Und warum wurde darüber in der Familie noch Jahrzehnte später nicht oder nur in Andeutungen gesprochen? In ihrem Buch "Wahrscheinliche Herkünfte" nähert sich Zic solchen Fragen an. Sie muss dafür einen weiten Weg gehen. Geboren 1986 in Zagreb, wuchs sie als Tochter akademischer Einwanderer in Zürich auf. Sie studierte Theaterwissenschaft und Regie, veröffentlichte Bücher, schrieb oder inszenierte Stücke, erhielt Preise, ist längst arriviert. Doch auf der Suche nach dem, was ihrem Großvater in Bleiburg widerfahren sein und was das mit ihr selbst zu tun haben könnte, muss sie fast bei null anfangen. Der Großvater hatte dazu geschwiegen.
"Was hätte es ihn gekostet, nicht zu schweigen? Was hätte es uns alle gekostet?", fragt Zic und deutet an anderer Stelle die Antwort an: Im sozialistischen Jugoslawien Titos war Bleiburg tabu: "Ein Sprechen darüber war verboten." Eine Annäherung an Bleiburg ist auch deshalb kompliziert, weil zwar alle Opfer des Massakers im Moment ihrer Ermordung wehrlos, aber längst nicht alle unschuldig waren. In dem kilometerlangen Flüchtlingstreck befanden sich Tausende Kämpfer der Ustascha, also des kroatischen faschistischen Regimes, das zwischen 1941 und 1945 Hunderttausende Menschen ermordet hatte, vor allem Serben, Juden und Roma. Hinzu kamen serbische, montenegrinische, slowenische, bosnisch-muslimische und andere regionale Kollaborateure der deutschen Besatzer. Im sozialistischen Jugoslawien galt Bleiburg deshalb nicht als Verbrechen, sondern wurde allenfalls erwähnt als gerechte Rache, als Abrechnung zwischen Gut und Böse, als verdiente Strafe für die Verbrecher des faschistischen "Unabhängigen Staats Kroatien", kurz NDH. In Sachen Bleiburg "wurde die kollektive Schuld ausschließlich den faschistischen Anhängern der NDH zugeschrieben, während die Taten der Partisanen, die unzähligen Ermordungen und Verschleppungen auf dem Territorium Jugoslawiens (. . .) in der kollektiven Erinnerung verdrängt und verboten wurden", schreibt Zic und weist auf die Gefahren eines solchen Verfahrens hin: "Eine Erzählung voller Verbote provoziert Konflikte. Verwandelt Schweigen in Gewalt."
Als Ende der Achtzigerjahre der Zerfall Jugoslawiens einsetzte und erst in Belgrad der serbische Nationalist Slobodan Milosevic, dann in Zagreb der kroatische Nationalist Franjo Tudjman an die Macht kam, wurde einst Verschwiegenes und Verbotenes zum dominierenden Narrativ, wogegen zuvor Erzähltes nunmehr unterdrückt wurde. Während "Bleiburg" im Sozialismus tabuisiert war, "findet in den neunziger Jahren, im autoritären System unter Tudjman, eine Umkehrung statt und man darf dieses staatsbegründende Bleiburg-Narrativ nicht mehr infrage stellen". Fortan ist offiziell nur noch von den vermeintlich unschuldigen Opfern des Massakers die Rede, aber nicht mehr von den Verbrechen, in die viele von ihnen zuvor verstrickt waren. Zics Bleiburg-Großvater (der andere war bei den Partisanen gewesen, also auf der Gegenseite) erlebte diese erzählerische Schubumkehr noch mit, schwieg aber auch dazu.
Ivna Zic will verstehen. Sie besucht Überlebende, reist schließlich selbst nach Bleiburg. Dorthin, wo der Massenmord seinen Ausgang nahm, auch wenn das eigentliche Blutvergießen nicht in diesem österreichischen Marktflecken stattfand, sondern südlich davon, in Slowenien und Kroatien. Bei Bleiburg, auf einem in den Fünfzigerjahren von radikalen kroatischen Emigranten gekauften und zum Mahnmalsgelände umgebauten Feld, erlebt sie die rechtsradikale Kehrseite sozialistischer Geschichtsklitterung: "Ein Feld wurde gekauft und ein Raum wurde geöffnet für die verbotene Geschichte. Doch auf einem privat erworbenen Feld kann auch Geschichte privatisiert werden." Auf dem Gelände fanden über Jahrzehnte hinweg Gedächtnisfeiern statt, die mit der Zeit immer deutlicher von Rechtsradikalen unterwandert wurden. Von "kruden Kostümfesten" und "militanter Erinnerung, verkleidet als Gedenken an die Toten", schreibt Zic.
Auf einem Gedenkstein des privaten Areals prangt das kroatische Wappen, allerdings in der Farbanordnung der Ustascha, beginnend mit einem weißen statt mit einem roten Karo links oben. Das kroatische Wappen ist Jahrhunderte alt, es bestand lange vor den Ustascha, doch wer es heute in deren farblicher Anordnung verwendet, also beginnend mit weißer Farbe, macht damit unweigerlich auch eine Aussage, die hochpolitisch ist oder zumindest so gedeutet werden kann. Der Ustascha-Staat habe sich "dieses alte Wappen angeeignet" und es "zu einem faschistischen Zeichen erhoben, und auch wenn genau dort der Schmerz liegt, ist dies nicht mehr anders zu erzählen. Ist es nicht mehr wegzuerzählen", schreibt die Enkelin über den Gedenkstein.
Zic, in das Schweigen ihres Großvaters gehüllt, in ihre Familiensprache verstrickt, zeigt in "Wahrscheinliche Herkünfte", wie sich schwierige Geschichte und Geschichten erzählen lassen. In kluger, vorsichtiger und präziser Prosa wird hier aus der Perspektive einer Nachgeborenen von einem in Europa kaum bekannten Großverbrechen berichtet. MICHAEL MARTENS
Ivna Zic: "Wahrscheinliche Herkünfte".
Verlag Matthes & Seitz,
Berlin 2023. 217 S., geb., 20,- Euro.
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