In 'Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert' taucht der Leser ein in die nostalgische Welt der Kindheit des renommierten Autors Walter Benjamin im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts. Das Buch präsentiert eine einzigartige Mischung aus autobiografischen Erinnerungen und literarischer Reflexion. Benjamins präziser und poetischer Schreibstil verleiht jedem Moment eine tiefgründige Bedeutung und bringt die Vergangenheit auf beeindruckende Weise zum Leben. Das Werk offenbart nicht nur Benjamins persönliche Erfahrungen, sondern wirft auch ein Licht auf die soziale und kulturelle Atmosphäre Berlins zu dieser Zeit. Durch die Verknüpfung von individueller und kollektiver Geschichte bietet das Buch einen faszinierenden Einblick in die frühe Entwicklung eines der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Empfehlung: 'Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert' ist ein absolutes Muss für Leser, die an autobiografischer Literatur, deutscher Geschichte und der Entwicklung des Denkens interessiert sind. Es ist ein bewegendes Werk, das sowohl intellektuell anspruchsvoll als auch emotional berührend ist.
"Bei der Berliner Kindheit um neunzehnhundert ... handelt es sich um weit mehr als eine Autobiographie. Es geht vorrangig nicht um die Rekonstruktion des eigenen Lebens, sondern um die Freilegung des gesellschaftlichen und historischen Kontextes, der 'blitzartig' in einem verdichteten Bild sichtbar werden soll."
junge Welt 05.04.2019
junge Welt 05.04.2019
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2019Das bucklichte Männlein steht immer am Schluss
Ungedruckt lässt grüßen: In Berlin wurde die textkritische Ausgabe von Walter Benjamins "Berliner Kindheit" vorgestellt
Als Walter Benjamin 1940 auf der Flucht die letzte Fassung seiner "Berliner Kindheit" Georges Bataille zur Verwahrung in der Bibliothèque Nationale anvertraute, war der jahrelange Versuch einer Buchpublikation des literarischen Herzstücks seines Werks endgültig gescheitert. Erst 1981 wurde das Manuskript dort von Giorgio Agamben wieder entdeckt. Seitdem erneuerte sich mit jeder Ausgabe die Frage, was nun "eigentlich" die "Berliner Kindheit" sei. Der Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste ist voll besetzt, als diese Frage wieder einmal im Raum schwebt. Der Ort am Pariser Platz scheint passend, um an den Schriftsteller und Philosophen zu erinnern, der hier geboren und von hier vertrieben wurde, der früh hier seine Gedankenfäden wob und spät, schon als Erwachsener, die Kunst, sich zu verirren, übte.
Auch in den Labyrinthen der Erinnerung. Zu Beginn des Stückes "Tiergarten" heißt es: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. (...) Diese Kunst habe ich spät erlernt."
Zusammen mit der "Berliner Chronik", die der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vorausging, ist diese nun als Band 11 der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv getragenen textkritischen Edition bei Suhrkamp erschienen. In zwei Halbbänden umfasst die neue Ausgabe alle zwischen 1932 und 1938 entstandenen Fassungen, Entwürfe, Notizen, Einzeldrucke und Dokumente bis zu jener als "Pariser Typoskript" bezeichneten Fassung letzter Hand vom Mai 1938, die eine einschneidende Überarbeitung, vor allem Kürzung der früheren Texte darstellt.
Souverän und anschaulich führte Nadine Werner - mit dem 2015 verstorbenen Burkhardt Lindner Herausgeberin dieses Bandes - durch das Gestrüpp der Editionsgeschichte und ihrer Darstellung, der sich als Novum die digitale Edition der betreffenden Manuskripte anschließt. Alle handschriftlichen Dokumente, welche das Berliner und das Marbacher Archiv aufbewahren, lassen sich nun am Bildschirm einsehen - ein nahezu intimer Blick in die Schreibwerkstatt Benjamins, in die Entstehung von Gedanken und Motiven, ihre Verknüpfung in unterschiedlichen Kontexten, in Akzentverschiebungen, Verweise und Verwerfungen und in immer wieder neu sich erhellende Bedeutungszusammenhänge. Paradox genug, wie erst im technisch fortgeschrittensten Medium die mit Feder und Tinte gewobene winzige, minutiöse Schrift ihres Verfassers zur Lesbarkeit gelangt. Dennoch bleibt bedauerlich, dass man in der Buchausgabe auf die Beigabe von Faksimiles völlig verzichtete.
Alles in allem schwere "Gewichte", schwer an Geschichte und Erfahrung, die doch wie mit leichter Hand an diesem Abend von den Vortragenden - dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, dem Typographen Friedrich Forssman, der Lyrikerin Monika Rinck, dem vorlesenden Schauspieler Christoph Gavenda - geschoben wurden. Mit der Präsentation dieser Ausgabe wurde auch der Schriftsteller Benjamin sichtbar und hörbar, all sein poetisches Potential, das sich mit dem philosophisch-theoretischen durchdringt.
Nur Jan Philipp Reemtsma, intellektueller Mäzen der Edition, setzte mit leiser Ironie Fragezeichen an suggestiv-apodiktische Wendungen des Autors und einzelne Textstellen wie jene zur "Kunst" des Verirrens. Worum aber ging es Benjamin bei dieser gewissermaßen mnemotechnischen Übung, die er schon in der "Berliner Chronik" erwähnt, samt dem Vermerk: "Diese Irrkunst hat mich Paris gelehrt"? Ein Hinweis sei hier nachgereicht. Noch früher, in der "Einbahnstraße", ist zu lesen: "Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen." Um dieses früheste Bild, das die Zukunft berge, so Peter Szondi in einer schönen Erläuterung von 1960, geht es ihm.
Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem "Passagenwerk". Einer Suche im Exil, das Vertreibung aus Land und Kindheit zugleich für ihn war. Bei der auch das "Bucklichte Männlein" aus den alten Wunderhorn-Liedern begegnet, das dem Verfasser immer wieder schicksalhaft den Weg verstellte. Als wollte er das Männlein auch für die Bruchlandschaft seines Werks und Lebens verantwortlich machen, hat Benjamin diesen Text stets ans Ende des geplanten Buches gesetzt. "Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich", heißt es in der 1933 noch in der "Frankfurter Zeitung" publizierten Fassung. "Es hat längst abgedankt" wird es 1938 heißen. Aufgestaut in diesem "längst" ist alle bittere Ironie.
Wie das "Passagenwerk", dieser funkelnde Gedanken-Steinbruch, stellt auch die "Berliner Kindheit" sich als Torso dar. Aber ist diese Edition wirklich, wie die Mitherausgeberin meint, die Antwort auf die Frage, was nun die "Berliner Kindheit" sei? Ist Erinnerung je abschließbar? Man kann über all das weiter nachsinnen, dem scheinbar verschollenen Ton dieser Jahrhundert-Recherche nachlauschen, sich in dem Dickicht des Überlieferten vielleicht so glücklich verirren, um auf Funde zu stoßen gleich jenem "Bratapfel" (ein hier erstmals publizierter Text), den die Ofenröhre dem kleinen Walter als Trost fürs frühe Aufstehen im Winter bereithielt.
MARLEEN STOESSEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ungedruckt lässt grüßen: In Berlin wurde die textkritische Ausgabe von Walter Benjamins "Berliner Kindheit" vorgestellt
Als Walter Benjamin 1940 auf der Flucht die letzte Fassung seiner "Berliner Kindheit" Georges Bataille zur Verwahrung in der Bibliothèque Nationale anvertraute, war der jahrelange Versuch einer Buchpublikation des literarischen Herzstücks seines Werks endgültig gescheitert. Erst 1981 wurde das Manuskript dort von Giorgio Agamben wieder entdeckt. Seitdem erneuerte sich mit jeder Ausgabe die Frage, was nun "eigentlich" die "Berliner Kindheit" sei. Der Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste ist voll besetzt, als diese Frage wieder einmal im Raum schwebt. Der Ort am Pariser Platz scheint passend, um an den Schriftsteller und Philosophen zu erinnern, der hier geboren und von hier vertrieben wurde, der früh hier seine Gedankenfäden wob und spät, schon als Erwachsener, die Kunst, sich zu verirren, übte.
Auch in den Labyrinthen der Erinnerung. Zu Beginn des Stückes "Tiergarten" heißt es: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. (...) Diese Kunst habe ich spät erlernt."
Zusammen mit der "Berliner Chronik", die der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vorausging, ist diese nun als Band 11 der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv getragenen textkritischen Edition bei Suhrkamp erschienen. In zwei Halbbänden umfasst die neue Ausgabe alle zwischen 1932 und 1938 entstandenen Fassungen, Entwürfe, Notizen, Einzeldrucke und Dokumente bis zu jener als "Pariser Typoskript" bezeichneten Fassung letzter Hand vom Mai 1938, die eine einschneidende Überarbeitung, vor allem Kürzung der früheren Texte darstellt.
Souverän und anschaulich führte Nadine Werner - mit dem 2015 verstorbenen Burkhardt Lindner Herausgeberin dieses Bandes - durch das Gestrüpp der Editionsgeschichte und ihrer Darstellung, der sich als Novum die digitale Edition der betreffenden Manuskripte anschließt. Alle handschriftlichen Dokumente, welche das Berliner und das Marbacher Archiv aufbewahren, lassen sich nun am Bildschirm einsehen - ein nahezu intimer Blick in die Schreibwerkstatt Benjamins, in die Entstehung von Gedanken und Motiven, ihre Verknüpfung in unterschiedlichen Kontexten, in Akzentverschiebungen, Verweise und Verwerfungen und in immer wieder neu sich erhellende Bedeutungszusammenhänge. Paradox genug, wie erst im technisch fortgeschrittensten Medium die mit Feder und Tinte gewobene winzige, minutiöse Schrift ihres Verfassers zur Lesbarkeit gelangt. Dennoch bleibt bedauerlich, dass man in der Buchausgabe auf die Beigabe von Faksimiles völlig verzichtete.
Alles in allem schwere "Gewichte", schwer an Geschichte und Erfahrung, die doch wie mit leichter Hand an diesem Abend von den Vortragenden - dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, dem Typographen Friedrich Forssman, der Lyrikerin Monika Rinck, dem vorlesenden Schauspieler Christoph Gavenda - geschoben wurden. Mit der Präsentation dieser Ausgabe wurde auch der Schriftsteller Benjamin sichtbar und hörbar, all sein poetisches Potential, das sich mit dem philosophisch-theoretischen durchdringt.
Nur Jan Philipp Reemtsma, intellektueller Mäzen der Edition, setzte mit leiser Ironie Fragezeichen an suggestiv-apodiktische Wendungen des Autors und einzelne Textstellen wie jene zur "Kunst" des Verirrens. Worum aber ging es Benjamin bei dieser gewissermaßen mnemotechnischen Übung, die er schon in der "Berliner Chronik" erwähnt, samt dem Vermerk: "Diese Irrkunst hat mich Paris gelehrt"? Ein Hinweis sei hier nachgereicht. Noch früher, in der "Einbahnstraße", ist zu lesen: "Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen." Um dieses früheste Bild, das die Zukunft berge, so Peter Szondi in einer schönen Erläuterung von 1960, geht es ihm.
Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem "Passagenwerk". Einer Suche im Exil, das Vertreibung aus Land und Kindheit zugleich für ihn war. Bei der auch das "Bucklichte Männlein" aus den alten Wunderhorn-Liedern begegnet, das dem Verfasser immer wieder schicksalhaft den Weg verstellte. Als wollte er das Männlein auch für die Bruchlandschaft seines Werks und Lebens verantwortlich machen, hat Benjamin diesen Text stets ans Ende des geplanten Buches gesetzt. "Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich", heißt es in der 1933 noch in der "Frankfurter Zeitung" publizierten Fassung. "Es hat längst abgedankt" wird es 1938 heißen. Aufgestaut in diesem "längst" ist alle bittere Ironie.
Wie das "Passagenwerk", dieser funkelnde Gedanken-Steinbruch, stellt auch die "Berliner Kindheit" sich als Torso dar. Aber ist diese Edition wirklich, wie die Mitherausgeberin meint, die Antwort auf die Frage, was nun die "Berliner Kindheit" sei? Ist Erinnerung je abschließbar? Man kann über all das weiter nachsinnen, dem scheinbar verschollenen Ton dieser Jahrhundert-Recherche nachlauschen, sich in dem Dickicht des Überlieferten vielleicht so glücklich verirren, um auf Funde zu stoßen gleich jenem "Bratapfel" (ein hier erstmals publizierter Text), den die Ofenröhre dem kleinen Walter als Trost fürs frühe Aufstehen im Winter bereithielt.
MARLEEN STOESSEL
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2019Philologie mit E-Antrieb Hybride Editionen verwandeln Werke in Werkstätten und die Leser in Archivbesucher
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Die kritische Gesamtausgabe präsentiert Walter Benjamins
„Berliner Kindheit“ als gescheitertes Buch
VON LOTHAR MÜLLER
Seit 1926 hat der Schriftsteller Walter Benjamin auf das Buch hingearbeitet, auf dessen Niederschrift und Publikation er in den letzten Jahren der Weimarer Republik und noch im Exil viel Zeit, Kraft und Geld verwandte. Aber er fand für die „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ keinen Verlag, es blieb bei diversen Aufzeichnungen, Entwürfen und Fassungen, ein 1938 entstandenes Typoskript versteckte er nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen in der Pariser Nationalbibliothek. Erst im Herbst 1950 erschien im Suhrkamp Verlag die erste Buchausgabe, zehn Jahre, nachdem sich der Autor im spanisch-französischen Grenzort Portbou das Leben genommen hatte.
Die „Berliner Kindheit“ ist zum wohl bekanntesten Buch Walter Benjamins geworden. In den Umkreis der „Urgeschichte der Moderne“ hat es sein erster Herausgeber Theodor W. Adorno gestellt, als subjektives Gegengewicht zu den Exzerpten und Stoffmassen, die Benjamin für seine geplante Arbeit über die Pariser Passagen zusammentrug. Nun ist die „Berliner Kindheit“ im Rahmen der Kritischen Benjamin-Gesamtausgabe erschienen, gemeinsam mit dem zwischen April und Juli 1932 auf Ibiza entstandenen Konvolut „Berliner Chronik“.
Ein Buch, einmal gedruckt, kann in der zweiten Auflage umgearbeitet, revidiert, erweitert werden. Aber in der Erstauflage hat es, wie vorläufig auch immer, eine feste Gestalt angenommen. Was ihm vorausliegt, die Entwürfe, Anläufe, Varianten, lässt es an der Grenze zwischen dem Gedruckten und Ungedruckten hinter sich. Auf diese Grenze bezieht sich die Wendung, ein Text erblicke das Licht der Öffentlichkeit. Ein Buch, das sie nicht überschreitet, ist ein gescheitertes Buch.
Die Editionsphilologen haben immer schon daran gearbeitet, die Grenze zwischen dem Gedruckten und dem Ungedruckten durchlässig zu machen. In den historisch-kritischen Ausgaben bleibt kein Fehler unbemerkt, der beim Überqueren der Grenze entstanden ist, keine in den Manuskripten oder Typoskripten zu findende Variante von Schreibweisen oder Formulierungen undokumentiert.
Mit dem einen Auge blickt die Editionsphilologie in die Archive, in denen die Nachlässe aufbewahrt werden, mit dem anderen in die verschiedenen Druckfassungen. Und wenn sie die beiden abgeglichen hat, konsultiert sie die Bibliotheken und Enzyklopädien, um ihnen Sacherläuterungen und Auskünfte über Personen und Ereignisse abzugewinnen. Lange Zeit war in den kritischen Ausgaben für den Blick auf die Druckvarianten und das Ungedruckte der „Apparat“ zuständig, als Teil des gedruckten Buches. Das Bündnis der Philologie mit den Technologien der Digitalisierung erlaubt es nun, dem klassischen „Apparat“ und den Faksimiles im gedruckten Buch den Online-Zugriff auf ungedruckte Archivbestände an die Seite zu stellen.
Das gescheiterte Buch eines bedeutenden Autors ist ein ideales Terrain für die Erprobung der Möglichkeiten einer solchen „Hybridedition“. Die Herausgeber der „Berliner Kindheit“ in der Kritischen Gesamtausgabe, der 2015 während der Vorarbeiten verstorbene Burkhardt Lindner und Nadine Werner, haben sich, finanziell gestützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, für ein sehr opulentes Verfahren entschieden.
Sie drucken im Textband zwei Manuskript- und zwei Typoskriptfassungen vollständig ab, sodass man dem bucklichten Männlein wie dem Weihnachtsengel, dem Kaiserpanorama wie der Siegessäule wie auf einem Karussell immer wieder begegnet. Hinzu kommen Inhaltsverzeichnisse, separate Entwürfe und Textfassungen sowie die in der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und der Zeitschrift Mass und Wert erschienenen Teildrucke. Mit allem Nachdruck wird so ein gescheitertes Buch präsentiert, von dem es keine definitive Fassung gibt, nur Varianten voller Streichungen und Zusätzen.
Der Kommentarband fügt eine minutiöse Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Lesarten und Varianten, von denen nicht wenige hier erstmals gedruckt werden, ausgewählte Dokumente, vor allem Briefe hinzu und Synopsen zur Anordnung der einzelnen Stücke in den verschiedenen Fassungen. Der entscheidende Schritt über die Vielzahl der bisherigen Ausgaben hinaus, einschließlich der Edition der „Berliner Kindheit“ in den „Gesammelten Schriften“ (1972-1989), ist die digitale Publikation der Manuskripte zur „Berliner Chronik“ wie zur „Berliner Kindheit“ auf der Website https:www.walter-benjamin.online.
Wer sich auf diese Website begibt, entfernt sich mehr und mehr von der linearen Lektüre eines fortlaufenden Textes. Wer will, kann unter der Rubrik „Edition“ die Texte in der Anordnung lesen, die auch die gedruckte Ausgabe bietet. Vor allem aber gerät er unter der Rubrik „Archive“ in die Welt einer nicht leicht zu entziffernden, auf kleinstem Raum operierenden Handschrift, die aber durch einen digitalen Zaubertrick einen lesbaren Schatten wirft. Denn die Transkription der nach ihrem Archivzusammenhang geordneten, mit Signaturen versehenen Manuskripte in Druckbuchstaben ist hier wie ein Schleier über die Manuskripte gelegt.
Man kann die einzelnen Blätter vergrößern und verkleinern, die zeitliche Abfolge ihrer Entstehung rekonstruieren, die einzelnen Stücke in alphabetischer Ordnung anklicken und ihre Verwandlungen verfolgen. Warum es kleine Prosastücke sind, hat man schon auf den ersten Seiten der „Berliner Chronik“ erfahren. Benjamin, der mit Franz Hessel einzelne Bände der „Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust übersetzt hatte, legte sich einen „Verzicht auf jedes Spielen mit verwandten Möglichkeiten“ auf. Am Beginn der „Berliner Kindheit“ stand die Entscheidung gegen die Großform des Romans, für eine Folge kleiner Prosastücke.
Hybrideditionen nehmen den Werken ihre Abgeschlossenheit nicht zuletzt dadurch, dass sie zugleich Suchmaschinen sind. Vielleicht ist ihnen nur gewachsen, wer der suggestiven Verführungskraft, mit der sie dazu einladen, Details im Labyrinth der Texte zu verfolgen, immer wieder auf die Ebene der Gesamtlektüre eines Textes zurückkehrt. Müßig aber ist die Orientierung auf das Detail nicht. Wer einmal bemerkt hat, eine welch große Rolle in der „Berliner Kindheit“ neben der Erinnerung an Orte und Figuren der Stadt die Kinderspiele und ihre Requisiten spielen, der kann in der Onlineedition durch Suchbefehle wie „Ankersteinbaukasten“ auf Schlüsselmotive Benjamins stoßen.
Eines freilich fällt gerade wegen der Opulenz dieser Edition auf. Die einzigen Drucke der „Berliner Kindheit“ sind Zeitungs- und Zeitschriftendrucke, die meisten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschienen, nicht wenige unter Pseudonym. Was hätte näher gelegen, als diese Stücke, statt sie lediglich abzudrucken und online zur Verfügung zu stellen, an ihrem Erscheinungsort aufzusuchen, auf der Zeitungsseite, umgeben vom Zeitklima, Texten der Zeit? Aber hier privilegiert die Online-Edition noch das gescheiterte Buch, statt auch ins Zeitungsarchiv zu gehen. Schade.
Walter Benjamin: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Hrsg. von Burkhardt Lindner und Nadine Werner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 652 und 466 Seiten, zus. 89 Euro.
Ein digitaler Zaubertrick
macht die winzige Handschrift
lesbar
Neben Orten und Figuren der
Stadt spielen Requisiten und
Kinderspiele eine große Rolle
Walter Benjamin, geboren 1892 in Berlin, nahm sich 1940 das Leben. Die „Berliner Kindheit“ war für ihn eine „Impfung, die mich gegen das Heimweh nach der Stadt immun machen sollte.“
Foto: dpa
Berlin um 1900: „Komme ich heute zufällig durch die Straßen des Viertels, so betrete ich sie mit der gleichen Beklommenheit wie eine Bodenkammer, in die man seit Jahren nicht mehr gekommen ist. Und wirklich ist dies tote Viertel mit seinen hohen Mietshäusern heute der Abstellraum des Bürgertums aus dem Westen.“
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
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Die kritische Gesamtausgabe präsentiert Walter Benjamins
„Berliner Kindheit“ als gescheitertes Buch
VON LOTHAR MÜLLER
Seit 1926 hat der Schriftsteller Walter Benjamin auf das Buch hingearbeitet, auf dessen Niederschrift und Publikation er in den letzten Jahren der Weimarer Republik und noch im Exil viel Zeit, Kraft und Geld verwandte. Aber er fand für die „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ keinen Verlag, es blieb bei diversen Aufzeichnungen, Entwürfen und Fassungen, ein 1938 entstandenes Typoskript versteckte er nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen in der Pariser Nationalbibliothek. Erst im Herbst 1950 erschien im Suhrkamp Verlag die erste Buchausgabe, zehn Jahre, nachdem sich der Autor im spanisch-französischen Grenzort Portbou das Leben genommen hatte.
Die „Berliner Kindheit“ ist zum wohl bekanntesten Buch Walter Benjamins geworden. In den Umkreis der „Urgeschichte der Moderne“ hat es sein erster Herausgeber Theodor W. Adorno gestellt, als subjektives Gegengewicht zu den Exzerpten und Stoffmassen, die Benjamin für seine geplante Arbeit über die Pariser Passagen zusammentrug. Nun ist die „Berliner Kindheit“ im Rahmen der Kritischen Benjamin-Gesamtausgabe erschienen, gemeinsam mit dem zwischen April und Juli 1932 auf Ibiza entstandenen Konvolut „Berliner Chronik“.
Ein Buch, einmal gedruckt, kann in der zweiten Auflage umgearbeitet, revidiert, erweitert werden. Aber in der Erstauflage hat es, wie vorläufig auch immer, eine feste Gestalt angenommen. Was ihm vorausliegt, die Entwürfe, Anläufe, Varianten, lässt es an der Grenze zwischen dem Gedruckten und Ungedruckten hinter sich. Auf diese Grenze bezieht sich die Wendung, ein Text erblicke das Licht der Öffentlichkeit. Ein Buch, das sie nicht überschreitet, ist ein gescheitertes Buch.
Die Editionsphilologen haben immer schon daran gearbeitet, die Grenze zwischen dem Gedruckten und dem Ungedruckten durchlässig zu machen. In den historisch-kritischen Ausgaben bleibt kein Fehler unbemerkt, der beim Überqueren der Grenze entstanden ist, keine in den Manuskripten oder Typoskripten zu findende Variante von Schreibweisen oder Formulierungen undokumentiert.
Mit dem einen Auge blickt die Editionsphilologie in die Archive, in denen die Nachlässe aufbewahrt werden, mit dem anderen in die verschiedenen Druckfassungen. Und wenn sie die beiden abgeglichen hat, konsultiert sie die Bibliotheken und Enzyklopädien, um ihnen Sacherläuterungen und Auskünfte über Personen und Ereignisse abzugewinnen. Lange Zeit war in den kritischen Ausgaben für den Blick auf die Druckvarianten und das Ungedruckte der „Apparat“ zuständig, als Teil des gedruckten Buches. Das Bündnis der Philologie mit den Technologien der Digitalisierung erlaubt es nun, dem klassischen „Apparat“ und den Faksimiles im gedruckten Buch den Online-Zugriff auf ungedruckte Archivbestände an die Seite zu stellen.
Das gescheiterte Buch eines bedeutenden Autors ist ein ideales Terrain für die Erprobung der Möglichkeiten einer solchen „Hybridedition“. Die Herausgeber der „Berliner Kindheit“ in der Kritischen Gesamtausgabe, der 2015 während der Vorarbeiten verstorbene Burkhardt Lindner und Nadine Werner, haben sich, finanziell gestützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, für ein sehr opulentes Verfahren entschieden.
Sie drucken im Textband zwei Manuskript- und zwei Typoskriptfassungen vollständig ab, sodass man dem bucklichten Männlein wie dem Weihnachtsengel, dem Kaiserpanorama wie der Siegessäule wie auf einem Karussell immer wieder begegnet. Hinzu kommen Inhaltsverzeichnisse, separate Entwürfe und Textfassungen sowie die in der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und der Zeitschrift Mass und Wert erschienenen Teildrucke. Mit allem Nachdruck wird so ein gescheitertes Buch präsentiert, von dem es keine definitive Fassung gibt, nur Varianten voller Streichungen und Zusätzen.
Der Kommentarband fügt eine minutiöse Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Lesarten und Varianten, von denen nicht wenige hier erstmals gedruckt werden, ausgewählte Dokumente, vor allem Briefe hinzu und Synopsen zur Anordnung der einzelnen Stücke in den verschiedenen Fassungen. Der entscheidende Schritt über die Vielzahl der bisherigen Ausgaben hinaus, einschließlich der Edition der „Berliner Kindheit“ in den „Gesammelten Schriften“ (1972-1989), ist die digitale Publikation der Manuskripte zur „Berliner Chronik“ wie zur „Berliner Kindheit“ auf der Website https:www.walter-benjamin.online.
Wer sich auf diese Website begibt, entfernt sich mehr und mehr von der linearen Lektüre eines fortlaufenden Textes. Wer will, kann unter der Rubrik „Edition“ die Texte in der Anordnung lesen, die auch die gedruckte Ausgabe bietet. Vor allem aber gerät er unter der Rubrik „Archive“ in die Welt einer nicht leicht zu entziffernden, auf kleinstem Raum operierenden Handschrift, die aber durch einen digitalen Zaubertrick einen lesbaren Schatten wirft. Denn die Transkription der nach ihrem Archivzusammenhang geordneten, mit Signaturen versehenen Manuskripte in Druckbuchstaben ist hier wie ein Schleier über die Manuskripte gelegt.
Man kann die einzelnen Blätter vergrößern und verkleinern, die zeitliche Abfolge ihrer Entstehung rekonstruieren, die einzelnen Stücke in alphabetischer Ordnung anklicken und ihre Verwandlungen verfolgen. Warum es kleine Prosastücke sind, hat man schon auf den ersten Seiten der „Berliner Chronik“ erfahren. Benjamin, der mit Franz Hessel einzelne Bände der „Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust übersetzt hatte, legte sich einen „Verzicht auf jedes Spielen mit verwandten Möglichkeiten“ auf. Am Beginn der „Berliner Kindheit“ stand die Entscheidung gegen die Großform des Romans, für eine Folge kleiner Prosastücke.
Hybrideditionen nehmen den Werken ihre Abgeschlossenheit nicht zuletzt dadurch, dass sie zugleich Suchmaschinen sind. Vielleicht ist ihnen nur gewachsen, wer der suggestiven Verführungskraft, mit der sie dazu einladen, Details im Labyrinth der Texte zu verfolgen, immer wieder auf die Ebene der Gesamtlektüre eines Textes zurückkehrt. Müßig aber ist die Orientierung auf das Detail nicht. Wer einmal bemerkt hat, eine welch große Rolle in der „Berliner Kindheit“ neben der Erinnerung an Orte und Figuren der Stadt die Kinderspiele und ihre Requisiten spielen, der kann in der Onlineedition durch Suchbefehle wie „Ankersteinbaukasten“ auf Schlüsselmotive Benjamins stoßen.
Eines freilich fällt gerade wegen der Opulenz dieser Edition auf. Die einzigen Drucke der „Berliner Kindheit“ sind Zeitungs- und Zeitschriftendrucke, die meisten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschienen, nicht wenige unter Pseudonym. Was hätte näher gelegen, als diese Stücke, statt sie lediglich abzudrucken und online zur Verfügung zu stellen, an ihrem Erscheinungsort aufzusuchen, auf der Zeitungsseite, umgeben vom Zeitklima, Texten der Zeit? Aber hier privilegiert die Online-Edition noch das gescheiterte Buch, statt auch ins Zeitungsarchiv zu gehen. Schade.
Walter Benjamin: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Hrsg. von Burkhardt Lindner und Nadine Werner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 652 und 466 Seiten, zus. 89 Euro.
Ein digitaler Zaubertrick
macht die winzige Handschrift
lesbar
Neben Orten und Figuren der
Stadt spielen Requisiten und
Kinderspiele eine große Rolle
Walter Benjamin, geboren 1892 in Berlin, nahm sich 1940 das Leben. Die „Berliner Kindheit“ war für ihn eine „Impfung, die mich gegen das Heimweh nach der Stadt immun machen sollte.“
Foto: dpa
Berlin um 1900: „Komme ich heute zufällig durch die Straßen des Viertels, so betrete ich sie mit der gleichen Beklommenheit wie eine Bodenkammer, in die man seit Jahren nicht mehr gekommen ist. Und wirklich ist dies tote Viertel mit seinen hohen Mietshäusern heute der Abstellraum des Bürgertums aus dem Westen.“
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
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