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zur Macht
Ilko-Sascha Kowalczuk porträtiert Walter Ulbricht
und legt nichts weniger vor als eine Geschichte
des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert
VON DANIEL SIEMENS
Über Walter Ulbricht spricht heute kaum noch jemand, und noch seltener positiv. Im Auftrag Stalins 1945 aus dem Moskauer Exil ins besiegte Deutschland zurückgekehrt („Gruppe Ulbricht“), wurde er rasch zum starken Mann in der Sowjetischen Besatzungszone. Als Generalsekretär bzw. Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bestimmte er bis zu seiner Entmachtung durch Erich Honecker 1971 wie kein anderer deutscher Kommunist über die Entwicklungen in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR. Für die Niederschlagung des Volksaufstandes 1953 wie auch den Mauerbau war er politisch verantwortlich. Zu dieser Machtfülle will nicht recht passen, wie man Ulbricht heute überwiegend erinnert: als einen angepassten Handlanger Stalins mit Fistelstimme und ohne jedes Charisma.
Tatsächlich aber, so argumentiert der Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk in seiner neuen Biografie, gehöre Ulbricht zu den wichtigsten deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts, „in einer Reihe stehend mit Konrad Adenauer, Willy Brandt, Friedrich Ebert, Helmut Kohl oder Adolf Hitler“. Sympathien für einen Apparatschik wie Ulbricht ist Kowalczuk unverdächtig, aber er schreibt gegen das vorherrschende Zerrbild seines Protagonisten, das während des Kalten Kriegs besonders kommunistische Renegaten in der Bundesrepublik zeichneten und das bis heute nachwirke. Kowalczuk will Ulbricht Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne zu beschönigen.
Er tut dies, indem er offenbar nicht nur jedes auffindbare Archivdokument zu Ulbricht studiert hat, sondern auch, indem er zunächst den Bildungsweg des jungen Mannes, eines wissbegierigen ausgebildeten Tischlers aus Leipzig, der vom linken Flügel der Sozialdemokratie zu den Kommunisten kam, vorurteilsfrei nachzeichnet. Er bescheinigt dem Sport- und Naturliebhaber Ulbricht eine „hohe soziale Intelligenz und ein außerordentlich breites Wissen auch schon in jungen Jahren“. Auch als Redner sei er nicht so schlecht gewesen, wie es später behauptet wurde. In der Arbeiterbewegung vor 1945 hätten viele Zuhörer Rednern wie Ulbricht Respekt entgegengebracht, da sie wussten, mit welchen Entbehrungen und Mühen deren Bildungsweg verbunden war. „Es waren soziale Aufsteiger, die nur von jenen abwertend betrachtet wurden, die selbst nie hatten aufsteigen müssen, weil sie in wohlsituierte soziale und bildungshöhere Milieus hineingeboren wurden.“
In den ersten Jahren der zum Jahreswechsel 1918/19 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) stand Ulbricht in der zweiten Reihe, machte sich aber rasch einen Namen als Organisationsspezialist sowie als umtriebiger Redner und Vielschreiber in Parteizeitungen. 1926 wurde er im Alter von 33 Jahren in den Sächsischen Landtag gewählt, zwei Jahre später gewann er auch ein Reichstagsmandat. Ein besonderes Anliegen war ihm die Schaffung von „Betriebszellen“, also die feste Verankerung der Partei in den Großbetrieben. Schon sehr früh geriet die KPD unter den bestimmenden Einfluss der Kommunistischen Internationale in Moskau (Komintern), die nicht nur die Finanzierung der stets klammen Partei sicherstellte, sondern mit ihren Kurswechseln auch viel dazu beitrug, dass sich die kommunistischen Spitzenpolitiker in Deutschland mehr aneinander denn am politischen Gegner abarbeiteten. Als eigentliche Hauptfeinde ausgemacht waren die „Bürgerlichen“ und die Sozialdemokraten. Zur Destabilisierung der Demokratie als Voraussetzung für die erhoffte Revolution war fast jedes Mittel recht. Nachdem im Oktober 1923 ein gewaltsamer Aufstandsversuch in Mitteldeutschland gescheitert war, wurde die KPD für einige Monate verboten und viele ihrer Kader, unter ihnen auch Ulbricht, steckbrieflich gesucht.
Die Partei schickte ihn zunächst nach Wien, dann nach Prag und schließlich nach Moskau, wo er von 1925 an mit seiner ersten Frau Martha und Tochter Dora im „Hotel Lux“ wohnte, dem Wohnheim für Komintern-Funktionäre. Auch in der Welthauptstadt des Kommunismus waren die Lebensumstände bescheiden. Zum Schutz vor Kakerlaken stellten die Ulbrichts die Füße ihres Bettes in mit Wasser gefüllte Konservendosen. Es sind solche Details, die das aus Parteiakten, Erinnerungsschriften und Polizeidokumenten rekonstruierte Leben Ulbrichts plastisch werden lassen, ohne zu verdecken, dass es ihm und seinen Genossen in der Sache todernst war. Schon 1923 existierten von der Partei angelegte Erschießungslisten für den Fall einer gewaltsamen Machtübernahme, und 1929 rief Ulbricht unter dem Jubel der Delegierten auf dem KPD-Parteitag in Berlin aus, dass „Gewalt die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft“ sei.
Ulbricht war Thälmanns Mann in Moskau und arbeitete Stalin zu, ehe er ab 1929 als Führer der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz Grenzmark die arbeitslosen „Massen“ für die Partei zu mobilisieren versuchte. Das „Recht auf die Straße“ wollten sich Kommunisten wie Nationalsozialisten nicht nehmen lassen. Am 22. Januar 1931 kam es in Berlin-Friedrichshain zwischen Ulbricht und Goebbels zu einem direkten Rededuell, das in einer wüsten Schlägerei endete. Wenig später wurde Ulbricht vom Reichsgericht wegen fortgesetzter „hochverräterischer Unternehmen“ zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Die Strafe konnte nicht vollstreckt werden, da er als Abgeordneter Immunität genoss.
Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, zeigte sich die KPD weitgehend wehrlos, trotz jahrelanger Vorbereitung auf einen Kampf in der Illegalität. Im August lag ein Haftbefehl gegen Ulbricht vor; der Gang ins Exil wurde unausweichlich. In Prag, Paris und Moskau bemühte er sich in den folgenden Jahren als einer der wichtigsten KPD-Funktionäre mit mäßigem Erfolg um die Bildung einer linken „Volksfront“. Aus einem internen Machtkampf mit Willi Münzenberg ging er als Sieger hervor, was dem von 1938 an wieder in Moskau lebenden Ulbricht in den kommenden Jahren den Weg an die Spitze der KPD ebnete. Münzenberg kam 1940 in der Nähe von Grenoble unter ungeklärten Umständen ums Leben, während Ulbricht einem potenziell lebensbedrohlichen Parteiverfahren entging.
Er blieb ein „fanatischer Anhänger“ Stalins, kümmerte sich ab Sommer 1941 um die ideologische Bearbeitung deutscher Kriegsgefangener und gehörte von 1943 an zu den bestimmenden Akteuren des Nationalkomitees Freies Deutschland. Noch vor der deutschen Kapitulation, am 30. April 1945, flog er nach Deutschland zurück, im Gepäck „Richtlinien für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Sowjetunion besetzten deutschen Gebiet“.
Kowalczuks Darstellung verwebt Ereignis- und Parteiengeschichte gekonnt mit Ulbrichts eigenem Lebensweg, den man dank der genauen Angaben im Buch von Ort zu Ort und nicht selten straßengenau nachwandern könnte. Ulbricht war ein Parteisoldat, der für die KPD und ihre Ziele lebte, hart gegen sich und andere. Das Privatleben war nachrangig und wurde durch Phasen der Illegalität zusätzlich erschwert; seine erste Frau und die gemeinsame Tochter sah er kaum. In späteren Beziehungen hielt er es nicht anders. Was Ulbricht ganz abging, das waren Nachsichtigkeit und der Wille zum Kompromiss. Warum er solche Eigenschaften nicht ausbildete, versteht, wer Kowalczuks minutiöse Rekonstruktion der Flügelkämpfe in der KPD seit den frühen 1920er-Jahren gelesen hat und eingetaucht ist in die „mental maps“ der kommunistischen Avantgarde. Persönliche Loyalität konnte sich nämlich niemand leisten, der in diesem Milieu dauerhaft reüssieren wollte.
Viele ehemalige Weggefährten und Kommunisten der ersten Stunde, die vor Hitler in die Sowjetunion geflohen waren, wurden in den späten 1930er-Jahren von Stalins Henkern liquidiert oder nach Sibirien deportiert. Ulbricht trug diese „Säuberungen“ mit, der auch sein langjähriger Mentor Ossip Pjatnitzki, vormals einer der mächtigsten Politiker im Exekutivkomitee der Komintern, zum Opfer fiel. Gemeinsam mit Wilhelm Pieck – später Präsident der DDR – versuchte er gelegentlich zu intervenieren, doch ist unklar, ob solche Schritte tatsächlich Einfluss auf die Verfolgungen hatten.
Die knapp 1000 Seiten des Buches haben nur für die ersten Lebensabschnitte Ulbrichts gereicht; ein zweiter Band, der sich mit den Jahren ab 1945 beschäftigt, soll folgen. Diese Überlänge erklärt sich nicht zuletzt aus dem Anspruch des Autors, am Beispiel Ulbrichts eine Geschichte des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert vorzulegen, die auch internationale Entwicklungen einbezieht, vor allem die Geschichte der in Moskau ansässigen und von der sowjetischen Mutterpartei gesteuerten Komintern.
Das Genre der Biografie hat dabei Vor- und Nachteile. Während etwa Brigitte Studers „Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale“ ein breiteres Spektrum an kommunistischen Lebensentwürfen und -vorstellungen zeigt, schildert Kowalczuks Studie die konkrete politische Arbeit Ulbrichts und seiner Genossen mit unerhörter Genauigkeit. Mit einem langen Atem lässt sich so nicht nur einer der führenden Parteikommunisten neu entdecken, sondern auch besser verstehen, warum sich die Demokratie in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern Europas nach dem Ersten Weltkrieg nicht halten konnte.
Daniel Siemens ist Professor für europäische Geschichte an der Newcastle University in Großbritannien.
Kowalczuk will dem KPD-Politiker
Gerechtigkeit widerfahren lassen,
ohne zu beschönigen
Die 1000 Seiten haben
nur bis 1945 gereicht,
ein zweiter Teil wird folgen
Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht.
Der deutsche Kommunist. (1893-1945). Verlag C.H. Beck, München 2023.
1006 Seiten, 58 Euro.
E-Book: 49,99 Euro.
Auf der Rednertribüne: Kundgebung zur Reichstagswahl beim 2. Roten Arbeiter-, Sport- u. Kulturtag am 24. August 1930 im Sportpark Berlin-Neukölln (v. l.): Albert Kuntz, Walter Ulbricht und ein heute Unbekannter.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Kommunist, Staatsmann und aktenfressender Apparatschik: Ilko-Sascha Kowalczuk beschreibt den Aufstieg Walter Ulbrichts bis 1945 als biographisch getönte Institutionsgeschichte.
In die gegenwärtige Renaissance der DDR im kulturellen Gedächtnis fügt sich eine neue Biographie des Mannes, der die Geschichte des deutschen Kommunismus stärker und länger als jeder andere geprägt hat: Walter Ulbricht. Von einstigen Weggefährten gern als "Genosse Zelle" und "Professor Unrat der Revolution" tituliert, der seine präzis funktionierenden Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt, sagte man ihm schon in den Weimarer Jahren eine eisige Aura der Unnahbarkeit nach oder gar ein "vor Bosheit steifes Gesicht" (Gustav Regler). So ist er in die Geschichte eingegangen: ein humorloser Holzkopf von doktrinärer Härte, an dem selbst Heinrich Mann im Pariser Exil während der Volksfrontverhandlungen verzweifelte, weil er sich außerstande sah, mit einem Mann zu verhandeln, der plötzlich behaupte, dass der Tisch, an dem man säße, kein Tisch sei, sondern ein Ententeich.
Ilko-Sascha Kowalczuks Ulbricht-Biographie ist nicht das erste, aber das bei weitem gründlichste und in mancher Hinsicht auch erstaunlichste Porträt des Mannes, der sich vor 1933 bis in die Parteiführung der KPD hocharbeitete und dort auch im Moskauer und Pariser Exil behauptete, um nach 1945 für ein Vierteljahrhundert die kommunistische Herrschaft in Ostdeutschland zu verkörpern.
Für die Beweisführung wird aufgeboten, was nur gefordert werden kann: analytische Präzision und Mut zur Neudeutung. Die eintausend Seiten und über viertausend Fußnoten des vorliegenden ersten Bandes von Kowalczuks Ulbricht-Porträt künden von dem hartnäckigen und andauernden Ringen mit einem historischen Akteur, dessen persönliche Verschlossenheit und dessen konspiratives Politikverständnis sich solcher Spurenverfolgung mit derselben Hartnäckigkeit verweigert, mit der der Biograph sie betreibt.
Das Ergebnis ist beeindruckend. Detailliert und gründlich zeichnet der Autor die politische Karriere des Parteibürokraten nach, und er räumt mit vielen Unschärfen und Irrtümern der bisherigen Ulbricht-Biographik auf. Wie er belegen kann, folgte Ulbricht anders, als bislang angenommen, keineswegs sklavisch wechselnden Mehrheiten, sondern entwickelte sich als Parteichef erst in Thüringen und später in Berlin-Brandenburg zu einem eigenständigen Politiker, der in den Konflikten der Weimarer Jahre ebenso mutig Partei nahm wie später in den Fraktionskämpfen der Exilzeit, um schließlich in Moskau die Intrigen und Anschuldigungen während des Großen Terrors unbeschadet zu überstehen und keineswegs zufällig zum eigentlichen Parteiführer der illegalen KPD aufzusteigen.
Eine solche Urteilskorrektur war überfällig, und sie ist Kowalczuks Verdienst. Doch der Autor will mehr - er ficht für eine umfassende Neuzeichnung des Ulbricht-Bildes. Der farblose Unsympath mit dem kalten Blick und der dünnen Fistelstimme, der politische Befreiung in autoritäre Organisation übersetzte, er wird in der Sicht seines Biographen zum wichtigsten deutschen Kommunisten, ja sogar zum Staatsmann, in einer Reihe stehend mit seinen Bonner Kontrahenten Konrad Adenauer und Willy Brandt.
Wie passt dieses Urteil zu den entgegenstehenden Eindrücken und Urteilen so vieler einstiger Weggefährten aus der Zeit vor 1945? Deren fast durchweg kritische, häufig feindselige Bewertung führt Kowalczuk in seltsamer Annäherung an kommunistisches Lagerdenken zum einen darauf zurück, dass sie von später in den Westen geflohenen "Renegaten" stammten, und unterwirft sie zum anderen umstandslos den Wertmaßstäben der Gegenwart: Die herabsetzende Schilderung des unansehnlichen Mannes mit den schwimmenden Augen und der vermatschenden Sprache wird Kowalczuk zum irritierenden Bodyshaming; das Kehlkopfleiden, das Ulbricht so viel bösartige Häme eingetragen habe, deutet der Biograph als schmerzvoll erlittene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrung. Zuweilen nimmt Kowalczuks Argumentation sogar Anleihe bei der zeitgenössischen Hagiographik der frühen DDR. So, wenn es etwa heißt, dass Walter Ulbricht "ganz glücklich" sei, einen Flugblattdruck zustande gebracht zu haben, oder der Autor findet, dass sein Held "vielleicht kein Bibliophiler, aber ein großer Bücherfreund" war. Auch die Feststellung, dass tschechoslowakische Fragen zeitlebens ein besonderes Augenmerk für Ulbricht blieben, wirkt angesichts von dessen Bereitschaft zur Beteiligung am sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 doch allzu glättend.
Wie lässt sich eine solche Interpretation einordnen? Ist sie eine Folge der biographischen Falle des "tout comprendre, c'est tour pardonner", die jeder historischen Betrachtung droht, die sich zu tief in ihren Gegenstand versenkt? Eher lässt sie sich aus der besonderen Quellenlage herleiten, mit der die biographische Erschließung der kommunistischen Weltbewegung seit jeher zu kämpfen hat: Die oft genug mit Decknamen operierenden Akteure der kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit lassen sich nur schwer als Charaktere greifen; sie verbergen schon der Mitwelt und erst recht der Nachwelt ihr persönliches Denken und Fühlen hinter ihrer politischen Funktion, und sie verschwinden immer wieder gänzlich hinter der Partei, der sie dienen. Wohl ist die Überlieferung im deutschen wie im russischen Parteiarchiv denkbar breit - doch aus Redemanuskripten und Zeitungsartikeln oder sechshundert Seiten starken Wortprotokollen von vielstündigen Komintern-Beratungen lässt sich ebenso wenig wie aus Moskauer Kaderakten oder den in der DDR verfassten "Veteranenzeugnissen" ein farbiges Persönlichkeitsbild entwickeln; sie spiegeln vor allem die tote Blässe einer Bewegung, die ihre Lebendigkeit ganz auf die mythisierte Partei übertragen hat.
Umso dankbarer greift Kowalczuk nach den wenigen überlieferten Zeugnissen des privaten Lebens Ulbrichts. Doch selbst die etwa sechzig Briefe, die er mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Lotte Kühn während der Moskauer Exiljahre wechselte, bieten wenig Aufschluss. Sie geben Kowalczuk zu erkennen, dass Ulbricht nicht gern früh aufstand, und lassen den Biographen ernsthaft darüber rätseln, warum die beiden sich wechselseitig mit "Schufterle" anredeten. Mehr als die Erkenntnis, dass selbst ein Mann wie Ulbricht neben dem amtlichen ein privates Gesicht hatte, gibt auch diese Quellengattung nicht her.
Blutlos bleibt in Kowalczuks Buch insgesamt das Personal, das die historische Bühne der KPD-Geschichte in der Weimarer Zeit und dann in der Illegalität bevölkerte. Wie Schemen huschen Ernst Thälmann und Herbert Wehner, Wilhelm Pieck und Franz Dahlem, Dmitri Manuilski und Georgi Dimitroff und eine Fülle weiterer plötzlich auftauchender und wieder verschwindender Namen durch eine unendliche Abfolge von Konflikten und Episoden, die sich nicht leicht zu einer zusammenhängenden Erzählung fügen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Kowalczuks Biographie vielfach überlang an Einzelthemen der KPD-Geschichte wie der Rolle des Bezirks Thüringen oder der Verhaftung Thälmanns im März 1933 verweilt, in denen Ulbricht selbst nur am Rande erscheint.
So verkörpert Ulbricht am Ende auch für seinen jüngsten Biographen nur jenen aktenfressenden Apparatschik par excellence mit dem phänomenalen Gedächtnis, als der er schon den Zeitgenossen erschienen war und dem die Durchorganisierung der Partei als politische Hauptaufgabe galt. Zu diesem Ergebnis trägt bei, dass Kowalczuk den einschneidenden Zäsuren der Weimarer KPD-Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt und auch einer Unterscheidung von Leninismus und Stalinismus nichts abgewinnen kann. So gleicht sein Bild der kommunistischen Bewegung ungewollt dem ihres Parteisoldaten Ulbricht - beiden waren in Kowalczuks Verständnis stalinistische Zentralität und Moskauhörigkeit von Beginn an ebenso genetisch eingeschrieben wie die erbitterte Bekämpfung der unentwegt als "sozialfaschistisch" denunzierten SPD. Folgerichtig mischt sich auch in Kowalczuks Ulbricht-Porträt ein Farbton jener lebensgeschichtlichen Unwandelbarkeit, die das Grundmuster kommunistischer Ich-Erzählungen vor und nach 1989 bildet. Ganz in ihrem Duktus verfolgt er die unbeirrbare politische Haltung seines Helden bis in die Revolutionszeit 1918/19 zurück und schließt am Ende mit der Feststellung, dass Ulbricht wurde, was er werden wollte: der kommunistische Diktator in Deutschland.
Insgesamt erweist sich die überaus gründlich recherchierte Ulbricht-Biographie in ihrem ersten Band weniger als ein Politik und Persönlichkeit verknüpfendes Lebensbild denn als biographisch getönte Institutionsgeschichte. Sie veranschaulicht einmal mehr in bedrückender Intensität die Realitätsverkennung und Richtungskämpfe der früh unter Stalins Räder gekommenen KPD, die in ihrem heroischen Widerstand nach 1933 immer weiter auf ihre Führungszirkel zusammenschmolz. Aber die Menschen, die für diese Partei Opfer brachten und Opfer forderten, die für sie lebten und für sie starben, bleiben ausdruckslos. Vielleicht kann das allerdings auch nicht anders sein bei einer abgeschotteten kommunistischen Avantgarde, deren Charisma spätestens nach der Verhaftung von Ernst Thälmann im März 1933 nur mehr die Partei verkörperte und nicht ihre Träger. Es bleibt abzuwarten, ob in dem für das Frühjahr 2024 angekündigten Folgeband mehr Licht durch den Staub der archivierten Parteiunterlagen auf den "Karthekowitsch" Walter Ulbricht fallen wird, dessen Identität und Ausstrahlung zumindest bis 1945 allein in der Institution gründete, der er sein Leben gewidmet hatte. MARTIN SABROW
Ilko-Sascha Kowalczuk: "Walter Ulbricht". Der deutsche Kommunist. (1893-1945).
C. H. Beck Verlag, München 2023. 1006 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
ZEIT ONLINE, Alexander Cammann
"Kowalczuk gräbt tief und breit, um dem Phänomen Walter Ulbricht auf die Spur zu kommen"
Deutschlandfunk Andruck, Henry Bernhard
"Ein monumentales Werk ... Es ist der erste Teil eines geplanten Doppelwerks über einen der wirkmächtigsten deutschen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts und dürfte das bislang wichtigste Werk von Kowalczuk sein. ... Als weiteres Verdienst des Werks von Ilko-Sascha Kowalczuk ist mithilfe der Nachzeichnung der kommunistischen Karriere von Walter Ulbricht ein demaskierendes Porträt seiner Partei, der Kommunistischen Partei Deutschlands, entstanden."
Berliner Zeitung, Philipp Lengsfeld
"Mehr als eine Biografie, es ist eine deutsche Geschichte am Beispiel eines Mannes, der zu den wichtigsten Deutschen des 20. Jahrhunderts zählt."
n-tv.de, Hubertus Volmer
"Ilko-Sascha Kowalczuk porträtiert Walter Ulbricht und legt nichts weniger vor als eine Geschichte des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert. ... Kowalczuks Studie schildert die konkrete politische Arbeit Ulbrichts und seiner Genossen mit unerhörter Genauigkeit und so lässt sich nicht nur einer der führenden Parteikommunisten neu entdecken, sondern auch besser verstehen, warum sich die Demokratie in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern Europas nach dem Ersten Weltkrieg nicht halten konnte."
Süddeutsche Zeitung, Daniel Siemens
"Ilko-Sascha Kowalczuk hat das Leben von Walter Ulbricht tiefenerforscht. Dabei stellt der Historiker fest: Das öffentliche Bild des Politikers prägen persistente Klischees und Fehlurteile. ... Vier Jahre lang hat der Historiker an dem Mammutwerk geschrieben, 60 Archive in zwölf Ländern besucht und über 4000 Literaturtitel verarbeitet."
Berliner Zeitung, Anja Reich
"Weit mehr als eine Biographie ... man darf gespannt sein auf Teil zwei."
MDR Kultur, Stefan Nölke
"Eine monumentale wissenschaftliche Biografie Walter Ulbrichts .... Sie ist zugleich eine Geschichte des Kommunismus."
taz, Stefan Mahlke
"Ilko-Sascha Kowalczuks Annäherung an den Mann, der später zweieinhalb Jahrzehnte lang Herr über das Schicksal von 17 Millionen DDR-Bürgern sein wird, richtet nicht über Ulbrichts Tun und Lassen. Stattdessen schildert der Historiker die aus heutiger Sicht absurd wirkenden Richtungskriege in der KPD."
Mitteldeutsche Zeitung, Steffen Könau
"Der vermutlich profundeste Ulbricht-Kenner der deutschen Historiker-Gilde, über jeden Verdacht erhaben, ein 'Ostalgiker' oder Verklärer zu sein."
Dresdner Neueste Nachrichten, Harald Stutte
"Kowalczuk führt uns souverän in die sektiererischen und mit sich selbst beschäftigten KPD-Debattierclubs ein."
Münchner Merkur, Dirk Walter
"Die erste gründliche Biografie von Walter Ulbricht"
Abendzeitung, Robert Braunmüller
"Korrigiert das gängige Bild des KPD- und SED-Führers Walter Ulbricht."
mdr KULTUR, Stefan Nölke
"Seinem Untersuchungsgegenstand nähert sich Kowalczuk tastend. Statt auf schnelle Urteile setzt er auf Akribie und Detailtiefe. ... Liest sich trotz seiner Wissenschaftlichkeit recht mühelos. Das liegt auch daran, dass Kowalczuk Ulbricht nicht voreilig mit heutigem Wissen verurteilt, sondern dessen Leben ansprechend mit den Zeitumständen zu verweben versteht, also der Geschichte der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Kommunistischen Internationale."
Neue Züricher Zeitung, Florian Keisinger
"Zeiten, Strukturen, Ereignisse und Person mischen sich zu einem Geschichtsbuch und einem Porträt. Es wird nachvollziehbar, wie Ulbricht sich verändert - und warum."
Leipziger Volkszeitung
"Mit manchen Klischees räumt der Biograf auf. ... Die Passagen, in denen Kowalczuk den Terror analysiert, sind brillant."
Tagesspiegel, Christian Schröder
"Die bislang umfassendste Arbeit über diesen widersprüchlichen Mann. ... Ein in doppelter Hinsicht großes Buch."
Dresdner Morgenpost
"Kowalczuks Arbeit stellt alle bisherigen biografischen Veröffentlichungen weit in den Schatten. ... Ein neues, differenziertes Bild von Ulbricht."
Sächsische Zeitung, Mike Schmeitzner
"Die Biografie besticht vor allem durch ihre Unvoreingenommenheit, ihre faktengesättigte Dichte und sichere Kontextualisierung. Kowalczuk zeichnet das bislang differenzierteste Bild von Ulbrichts Charakter, Denken und Handeln bis 1945. Man darf auf den zweiten, für nächstes Jahr avisierten zweiten Band gespannt sein."
Das Parlament, Jörg von Bilavsky,
"Die Lektüre lohnt sich unbedingt ... Eine große Geschichte des Kommunismus im frühen 20. Jahrhundert."
SZ, Die wichtigsten Bücher des Jahres 2023, Robert Probst
"Ein neues Bild über die 'Lehrjahre' des Walter Ulbricht."
Die Presse, Hans Werner Scheidl