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Im Herbst 2023 erschien der erste Teil einer Biographie Walter Ulbrichts, der den kommunistischen Berufsrevolutionär der Weimarer Jahre und des Moskauer Exils porträtierte. Der jetzt publizierte zweite Band zeichnet die Lebens- und Wirkungsgeschichte jenes Mannes nach, der nach 1945 wie kein anderer außer seinem Nachfolger Erich Honecker zur Personifikation des zweiten deutschen Staates geworden worden war. Erstaunlicherweise ist Ulbricht bislang von der zeithistorischen Diktaturforschung weitgehend randständig behandelt wurde. Dies zu ändern ist das Anliegen Ilko-Sascha Kowalczuks. Er nimmt seine Leser auf eine biographische Reise mit, die den ostdeutschen Machthaber als Staatsmann porträtiert, der auf Augenhöhe mit seinem Gegenspieler Konrad Adenauer agierte und in seiner historischen Bedeutung in einer Reihe mit Willy Brandt und Helmut Kohl, wenn nicht gar Hitler zu stellen sei.
Das passt zu der aktuellen Debatte über die Geringschätzung des ostdeutschen Anteils an der vereinigten Bundesrepublik und ist trotzdem viel verlangt von dem kargen Stoff, den der zeitlebens als sächsischer Spitzbart verspottete und bei Freund wie Feind als humorloser Apparatschik ohne Charisma empfundene Machthaber seinem Biographen offeriert. Kowalczuk begegnet seiner Aufgabe mit einer Akribie, die ihresgleichen sucht. Kein noch so entlegenes Zeitzeugnis, keine noch so undeutliche Spur, der er nicht mit der Ausdauer eines Fährtenlesers nachgeht. Noch jedes der 3500 Bücher aus der nachgelassenen Bibliothek Ulbrichts mustert er in der vergeblichen Hoffnung durch, dass deren Zusammensetzung oder wenigstens die eine oder andere Widmung oder Anstreichung Rückschlüsse auf individuelle Vorlieben und eigene Gedanken seines Protagonisten erlaubt. Die Wiedergabe des von Kowalczuk in vieljähriger Arbeit gesammelten Wissens droht den erzählerischen Rahmen zu sprengen. Der in sechs Zeitabschnitte mit jeweils bis zu siebzig Teilkapiteln gegliederte Stoff verwandelt die Biographie passagenweise geradezu in ein Ulbricht-Lexikon, das mit Exkursen über Ulbricht-Briefmarken, Ulbricht-Karikaturen und Ulbricht-Gemälde zu allem erschöpfend Auskunft erteilt, was nur irgend mit der Person und Vita des Porträtierten zu tun hat.
Kowalczuk folgt dem Ende April 1945 aus Moskau nach Berlin zurückgekehrten Parteiorganisator von der Wiederherstellung der Verwaltung in der zerstörten Reichshauptstadt über die unter sowjetischem Druck zustande gekommene Verschmelzung von KPD und SPD bis zur Festigung der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetischen Besatzungszone, die ihn 1952 auf einer Parteikonferenz unter tosendem Beifall der Delegierten den Aufbau des Sozialismus verkünden ließ. Nur ein Jahr später aber stand er, der seine politische Vision gegen immer stärkeren Widerstand immer rücksichtsloser durchzusetzen suchte, nach Stalins Tod am Randes des Sturzes, vor dem ihn paradoxerweise eben die in den Juniaufstand 1953 gipfelnde Empörung der unterdrückten Bevölkerung bewahrte: Als die Sowjets mit Panzermacht eingriffen, wussten sie in ihrer eigenen Herrschaftskrise niemanden, der die Macht besser zu sichern vermochte als er, und zu demselben Ergebnis kamen auch Ulbrichts Mitspieler und Kontrahenten in der SED-Spitze, die ihm zögernd neues Vertrauen entgegenbrachten und in der Folgezeit entmachtet wurden, sofern sie sich nicht unterordneten. In der Folge beschreibt Kowalczuk einen Machthaber, der unbeirrt sein persönliches Regime festigte und mit dem Mauerbau 1961 den Zenit einer unbeschränkten Machtfülle erreichte, die er erst am Ende des Jahrzehnts Stück um Stück einbüßte, bis ihm sein Nachfolger Erich Honecker 1971 das Zepter aus der Hand nahm.
Nichts an dieser Erzählung mag grundstürzend neu sein, aber es malt das üblicherweise grau gehaltene Bild des Ost-Berliner Machthabers mit frischer Farbe neu aus. Bemerkenswert ist vor allem, mit welcher Verve der Autor gegen das Klischee des beschränkten Apparatschik anschreibt, das sich bis heute im öffentlichen Gedächtnis hält. Der buchstäblich an allem interessierte Politiker Ulbricht habe mit dieser Vielseitigkeit die Grundvoraussetzung für höchste Staatsämter erfüllt, urteilt der Biograph; sein Machtinstinkt und Herrschaftswille zeugten von einer außergewöhnlichen sozialen wie kognitiven Intelligenz, und der angeblich sture Parteibürokrat habe mehr ideologische Beweglichkeit besessen, als das tradierte biographische Klischee zuzugestehen bereit war. Im Bemühen, seinem Mann durch alle Schleier kommunistischer Arkanpolitik hindurch auf den Fersen zu bleiben, büßt der Biograph dabei zuweilen sogar seine analytische Distanz ein und wandelt sich gleichsam vom historischen Beobachter zum postumen Berater, der der parteiinternen Überwachungspraxis rationalen Sinn zubilligt und die Schnelligkeit nicht kritisiert wissen will, mit der Ulbricht dem nach dem Mauerbau innerlich gefestigten Staat einen neue Verfassung verordnet habe.
Schwerer wiegen methodische Probleme. Es gelingt Kowalczuks Biographie trotz allen Bemühens nicht wirklich, die Persönlichkeit Ulbrichts hinter seiner politischen Rolle anschaulich werden zu lassen, weil das verfügbare Material es einfach nicht hergibt. Kowalczuk musste sich bevorzugt auf die im SED-Parteiarchiv abgelegten Unterlagen der Ära Ulbrichts stützen und sie mit vorliegenden Quelleditionen und zeitgenössischen Memoiren, aber auch den von der Staatssicherheit gesammelten Informationen und nicht zuletzt Moskauer Archivbeständen abgleichen, um sein Bild des Mannes zu entwickeln, der das zweite Deutschland ein Vierteljahrhundert lang mit eiserner Hand steuerte.
So kann Kowalczuk trotz der vorhandenen Materialfülle über Ulbrichts innere Persönlichkeit vielfach nur Mutmaßungen äußern. Er habe sich zeitlebens für Kunst und Kultur interessiert und sich gern mit einem Buch in der Hand fotografieren lassen, ging wohl auch in Theater- und Opernaufführungen, erfährt der Leser und bleibt doch im Ungewissen: "Über Ulbrichts diesbezügliche Erlebnisse ist wenig zu erfahren." Folgerichtig fallen Kowalczuks Urteile häufig ambivalent aus. Zwar weist er das in der bisherigen Forschung vertretene Urteil zurück, dass Ulbricht nur der opportunistische Vollstreckungsbeamte Moskaus gewesen sei. Ob sein harter Kurs gegenüber der Bevölkerung aber innerer Überzeugung entsprach oder doch vor allem dem Willen der Sowjets folgte, "muss dahingestellt bleiben"; ob er selbst an seine vielen gesamtdeutschen Vorschläge glaubte, "ist nicht eindeutig zu beantworten".
So bleibt Kowalczuks Ulbricht-Biographie seltsam statuarisch; sie erfasst immerfort politische Strategie- und Taktikwechsel, aber so gut wie nie lebensgeschichtliche Veränderung und Reifung; ein einziges Mal entschlüpft dem Biographen die Feststellung, dass Ulbricht fünf Jahre vor seinem Tod "sichtlich gealtert" wirkt. Mehr Erschließungstiefe verspricht ein anderer Zugang, der den biographischen Zugang als Schlüssel zum Verständnis des politischen Systems nutzt. Nicht eine einzige Seite lang lässt Kowalczuks Buch Zweifel darüber aufkommen, dass es sich bei seinem Helden um einen kommunistischen Alleinherrscher von geradezu absolutistischer Macht gehandelt habe. Diese Macht allerdings habe sich nicht aus den inneren Verhältnissen entwickelt - Ulbricht war vielmehr, so Kowalczuk, ein Diktator "neuen Typs", der von einer fremden Macht eingesetzt worden war, weil er als Moskau-Emigrant die besten Voraussetzungen mitbrachte, den Willen der Besatzungsmacht zu vollstrecken. Die DDR also eine bloße Satrapie von Stalins Gnaden und ihr absolutistischer Herrscher in Wahrheit ein bloßer Diktaturgehilfe?
Dieser inneren Widersprüchlichkeit sucht Kowalczuk zu entkommen, indem er Ulbrichts Regime als allmähliche Emanzipation von der Besatzungsherrschaft auf dem Weg zu einer eigenständigen kommunistischen Diktatur auffasst. Nach der Abrechnung mit seinen innerparteilichen Widersachern von Rudolf Herrnstadt bis zu Wilhelm Zaisser wurde Ulbricht demnach noch in den Fünfzigerjahren zu einem Teil des Moskauer Machtsystems mit eigenen Befugnissen. Die Schließung der Grenze nach West-Berlin 1961 forcierte er als entschiedenster Antreiber im Ostblock, und in den Folgejahren entwickelte der vom Politbürokraten zum technokratischen Reformer gewandelte DDR-Staatschef ein solches Maß an unbequemer Eigeninitiative, dass Moskau 1971 schließlich seiner Ablösung durch den leichter lenkbaren Honecker zustimmte, damit die ständigen Alleingänge der sowjetischen Satrapie fortan unterbunden würden.
Um die Konturen eines solchen Herrschaftstypus schärfer zu zeichnen, hätte sich der Vergleich mit anderen Machthabern im sowjetischen Herrschaftsbereich wie Wladyslaw Gomulka in Polen oder János Kádár in Ungarn angeboten. Auf solche Blickerweiterungen verzichtet Kowalczuk jedoch, so wie er auch die permanente Herausforderung durch Ulbrichts westdeutsche Gegenspieler eher an den Rand der Betrachtung drängt, um sich ganz auf dessen Rolle als kommunistischer Diktator zu konzentrieren. Dieser Schreibhaltung fallen freilich die Mitspieler zum Opfer. Undeutlich bleibt die Beziehung zum SED-Vorsitzenden und einzigem DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, den die Sowjets lange als zentrale Führungsfigur ansahen, und mehr noch zu Ulbrichts Zögling Erich Honecker, der in Kowalczuks Schilderung überhaupt erst im Zuge der Ablösung des sich sträubenden Diktators Profil gewinnt und auf die Schurkenrolle des Königsmörders reduziert wird, der am Ende noch den entmachteten Greis in Pantoffeln zur Schau stellt, um sein eigenes Regime zu festigen.
Aber der Alleinherrscher Ulbricht bleibt in Kowalczuks Buch ein blasser Diktator. Nie fand in der DDR ein Attentat auf den ersten Mann im Staate statt; der Tyrannenmord spielt auf der kommunistischen Bühne keine Rolle. Hing dies womöglich mit dem Zweifel seiner Feinde zusammen, ob Ulbricht überhaupt ein "richtiger Diktator" war, fragt Kowalczuk sich deswegen selbst, und sein Buch bezeugt, was der Autor nicht wahrhaben will: Die DDR war unter Ulbricht eine brutale Zwangsherrschaft, aber deren diktatorische Verfassung bedurfte nicht der Figur eines allmächtigen Diktators. Die Rolle des Alleinherrschers übernahm im Staatssozialismus die Partei. Sie war es, die mit all den vergötternden Attributen ausgestattet wurde, in denen sich zeitweise auch ihre obersten Repräsentanten sonnen konnte, bis sie sie im Namen der Partei wieder verloren. Selbstkritisch musste sich der unmittelbar vor dem Machtverlust stehende Ulbricht nach dem niedergeschlagenen Juniaufstand von dem um ihn entstandenen Personenkult distanzieren, um so seine Stellung als Erster SED-Sekretär zu behaupten; im Namen eines brüskierten SED-Führungskollektivs stieß Honecker knapp zwanzig Jahre später den sich auf eine Stufe mit Marx stellenden und für unfehlbar haltenden Alten aus seiner Machtstellung, um das System der kollektiven Führung zu erneuern. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall ließ diese Entkleidung das Herrschaftssystem wanken; auch in der DDR blieb der Staatssozialismus noch in der zeitweiligen Machtkonzentration auf ihren Repräsentanten eine Parteidiktatur und nicht eine Tyrannenherrschaft.
So schreibt Kowalczuks Ulbricht-Biographie beständig gegen ihre eigene These an und ist trotzdem eine bewundernswerte Leistung. MARTIN SABROW
Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945 -1973)
C.H. Beck Verlag, München 2024. 956 S., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Eine detaillierte Erzählung eines Lebens, ohne das die DDR nicht zu verstehen ist."
"So differenziert wie aufschlussreich ... die Biografie wird für Jahre, eher Jahrzehnte den Maßstab setzen."
Deutschlandfunk Andruck, Henry Bernhard
"In zwei Bänden die verblüffende Vita dieses Manns nachgezeichnet."
Die Presse, Hans Werner Scheidl
"Ilko-Sascha Kowalczuk zeigt in seiner monumentalen Biographie über Walter Ulbricht, wie man mit einem erfolgreichen deutschen Kommunisten abrechnet - historisch-wissenschaftlich und politisch-engagiert ... Eine mit Gewinn zu lesende Biographie."
h-soz-kult, Thomas Lindenberger
"Mehr als eine aus den Quellen und überaus lebendig geschriebene Biografie, nämlich eine Art Sittengemälde des deutschen Kommunismus."
Cicero, Eckhard Jesse
"Die Biografie wird Standardwerk sein."
Bayern 2, Niels Beintker
"Eine wissenschaftliche Biografie mit populärem Anspruch - und umgekehrt. Das Buch ist randvoll von interessanten, oft investigativ ermittelten Fakten."
Mitteldeutsche Zeitung, Christian Eger
"Der zweite Band seiner akribisch recherchierten Biographie zeigt, dass die DDR der 1950er-, 1960er- und frühen 1970er-Jahre ständigem Wandel unterlag."
NDR Kultur, Heiko Kreft
"Kowalczuk zeichnet Ulbricht überaus plastisch ... ein Grundlagenwerk."
taz, Stefan Mahlke