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Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser prägen das Weiterleben von Robert Walsers Werk bis heute. Sie zeigen den von 1933 bis 1956 in Herisau internierten, für die Welt ›verstummten‹ Dichter als einen bei aller Zurückhaltung höchst selbstbewussten Autor und hellwachen Zeitgenossen. Auf langen Spaziergängen und an gut gedeckten Tischen entfalten die Wanderungen eine Freiheit der Bewegung, der Gedanken und der Sprache, wie sie Walsers Werk von Anfang an bestimmt.
Die vorliegende Neuausgabe bringt den Text in seiner ursprünglichen Gestalt von 1957. Sie zeigt, dass Seelig weit mehr ist als
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Produktbeschreibung
Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser prägen das Weiterleben von Robert Walsers Werk bis heute. Sie zeigen den von 1933 bis 1956 in Herisau internierten, für die Welt ›verstummten‹ Dichter als einen bei aller Zurückhaltung höchst selbstbewussten Autor und hellwachen Zeitgenossen. Auf langen Spaziergängen und an gut gedeckten Tischen entfalten die Wanderungen eine Freiheit der Bewegung, der Gedanken und der Sprache, wie sie Walsers Werk von Anfang an bestimmt.

Die vorliegende Neuausgabe bringt den Text in seiner ursprünglichen Gestalt von 1957. Sie zeigt, dass Seelig weit mehr ist als Walsers ›Vormund‹ nämlich ein international vernetzter Herausgeber und Publizist, der zur Zeit des Nationalsozialismus auch Emigranten wie Alfred Polgar oder Robert Musil unterstützt.


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Autorenporträt
Carl Seelig (1894-1962) war ein Zürcher Kulturjournalist, Schriftsteller und unermüdlicher Unterstützer von Autorinnen und Autoren, insbesondere zur Zeit des Exils ab 1933. In seinem Nachlass befinden sich über 9000 Briefe von Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Als Freund und Vormund von Robert Walser begleitete er den Schriftsteller nach dessen Internierung in die Psychiatrie auf zahlreichen Spaziergängen (Wanderungen mit Robert Walser) und gab sein Werk neu heraus.

Reto Sorg, geboren 1960, unterrichtet Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne und leitet das Robert Walser- Zentrum in Bern. Zahlreiche Publikationen im Bereich moderne und zeitgenössische Literatur und Kunst. Mitherausgeber der Berner Ausgabe der Werke Robert Walsers im Suhrkamp Verlag.

Lukas Gloor, geboren 1985 bei Baden, promovierte in Basel zu Robert Walser, Franz Kafka und Theodor Fontane. Seit 2019 leitet er das Robert Walser-Archiv in Bern. 2021 gab er, gemeinsam mit Reto Sorg und Peter Utz, Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser neu heraus.

Peter Utz ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne mit den Forschungsschwerpunkten Goethezeit, Jahrhundertwende, literarisches Feuilleton, Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts und literarisches Übersetzen sowie zahlreichen Publikationen zu Robert Walser. Seit 2018 ist Utz Mitherausgeber der Berner Ausgabe.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2021

Zu viel Kunst!
Weshalb Robert Walser so gegenwärtig ist

Seine letzten 27 Jahre verbrachte der Schweizer Schriftsteller Robert Walser völlig zurückgezogen und ohne je wieder etwas zu schreiben, in Heil- und Pflegeanstalten, bevor er Weihnachten 1956 bei einem Spaziergang in den Schnee fiel und starb. Dabei hatte er einen Menschen, der ständig die Verbindung zu ihm hielt und nach seinem Tod auch diese Zeit der extremen Abgeschiedenheit seinem Werk eingliederte: den Publizisten, Verleger und Mäzen Carl Seelig, der mit dem 1957 erschienenen Bericht "Wanderungen mit Robert Walser" den fühlenden, denkenden, die Zeitläufe beobachtenden Autor hinter dem vergessenen Anstaltsinsassen öffentlich sichtbar machte und so den Boden für seine Wiederentdeckung vorbereitete.

Nun gibt der Suhrkamp Verlag das Buch in einer neuen Edition heraus, die eine Art Geschenkversion im Großformat ist, mit Fotos, schwyzerdeutschem Glossar und sogar einer penibel rekonstruierten Übersicht der 45 Wanderwege, die Walser und Seelig zwischen 1936 und 1956 gemeinsam abgeschritten hatten - und zugleich eine vorsichtige Distanzierung von dessen Autor.

Die skrupulös abwägenden Formulierungen des neuen, namentlich nicht gezeichneten Nachworts spiegeln den Konflikt, den es in der Walser-Gemeinde über die Bewertung Seeligs gibt. Bei allen ihm zugestandenen Verdiensten kreidet ihm das Nachwort an, dass er ein "Deutungsmonopol" auf den Schriftsteller beansprucht habe und in seinem Testament sogar verfügte, dass die ihm als Vormund anvertrauten handschriftlichen Notizen Walsers, die "Mikrogramme", vernichtet werden sollten - woran sich der Nachlassverwalter glücklicherweise nicht hielt. Deshalb stelle sich die Frage, wie authentisch Seeligs Walser und vor allem die von ihm in den Text eingestreuten Zitate eigentlich sind.

Worauf das Vorwort dabei nicht eingeht, ist der Hinweis von Bernhard Echte, dem Entzifferer und Herausgeber der Mikrogramme, dass eine Grundlage dieser eigenartigen Freundschaft - und mithin ein Argument für die Glaubwürdigkeit ihrer Aufzeichnung - womöglich das gemeinsame Misstrauen beider gegen den Literaturbetrieb war. Das ist um so bemerkenswerter, als man den einflussreichen Seelig durchaus als Vertreter dieses Betriebs bezeichnen könnte. Doch Echte deutet gerade dessen ausdauernde Hilfsbereitschaft in den ganz elementaren Nöten der von ihm geschätzten Autoren als Bemühen, das Korrupte des "Literatengetriebes" zu überwinden. In den "Wanderungen" findet sich ein ganz unmittelbares Dokument dieser Übereinstimmung. "Ich sage ihm scherzhaft", schreibt Seelig, "er müsse nun auch mich ein wenig respektieren, da mich der Stadtrat von Zürich in die Literaturkommission gewählt habe. Er biegt sich vor Lachen und steckt mich damit an: 'Aha, deshalb sehen Sie heute so stadträtlich und Röbeli Faesi-mässig aus! Da haben Sie aber schön Karriere gemacht!'" (Robert Faesi, erfährt man aus dem Register, war damals ein bekannter Züricher Literaturprofessor.)

Im Gelächter über die angesehenen Betriebsnudeln trafen sich die beiden, doch Walsers Ressentiments gingen offenbar noch darüber hinaus. Der stellvertretende Chefarzt informiert Seelig 1950 darüber, dass der Schriftsteller ein ganz normaler Patient sei; beginne man mit ihm allerdings "über Kunst zu sprechen, so werde er sofort bockig".

Tatsächlich war diese Bockigkeit eine Konstante seines ganzen Lebens. Schon vierzig Jahre zuvor, als er in seiner Berliner Zeit die intensivsten Berührungen mit der Kulturwelt hatte, brachten es seine einschlägigen Ausfälle zu einer gewissen Berühmtheit. Einmal soll er bei einem Empfang des Verlegers Samuel Fischer wütend dessen Caruso-Platten auf dem Grammophontisch zerschlagen haben, wie die Übersetzerin Fega Frisch bezeugte. Und am selben Abend beschied er den ihm preziös vorkommenden Hugo von Hofmannsthal: "Können Sie nicht ein wenig vergessen, berühmt zu sein?" Er selbst berichtete später in einem seiner Mikrogramme, wie er in einem Salon einmal dem Dramatiker Frank Wedekind, der gerade ein Stück mit dem Titel "Musik" geschrieben hatte, beiläufig sagte: "Es wird zu viel musiziert heutzutage" und dann beobachten konnte, wie dessen Miene sich versteinerte.

Der instinktive Widerwille gegen alles, wo er "Kunst" witterte, war bei Walser keine Ignoranz. Es war eine Art Selbstschutz gegen die robuste Selbstverständlichkeit, mit der die Kunst als Mittel für anderes gebraucht wird, für eine Stellung in der Welt, für Respektabilität, für Macht. Das war für ihn ein Zustand der Unfreiheit, gegen den er sich mit allen Mitteln zur Wehr setzte, und auch seine oft beschriebene Poetik der Selbstverkleinerung hat da eine Wurzel. "Vielleicht hat die Kunst im Laufe der Zeit ein zu hohes und zu solides Ansehen gewonnen", schrieb er einmal, "es ist zu gefahrlos geworden, sich mit ihr zu befassen, das mag die Ursache sein, warum jeder dritte oder vierte 'nette Mensch' Künstler werden will. Man sollte versuchen, dieses Gebiet zu diskreditieren, damit sich in Zukunft nur die Lumpen oder die Helden darauf zu tummeln wagen." Das gesellschaftliche Ansehen der "Kunst" ist seither noch gestiegen; kein Wunder also, dass manchen, denen es mit ihr ernst ist, Robert Walser so gegenwärtig vorkommt.

MARK SIEMONS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Lothar Müller begibt sich gern noch einmal mit Carl Seelig auf Wanderungen mit Robert Walser. Es ist beileibe nicht die erste Ausgabe, räumt der Kritiker ein, immer wieder sind Seeligs Notate der vielen gemeinsamen Wanderungen verlegt worden. Aber das vorliegende Buch bezieht sich auf den Text der Originalausgabe, selbst die schweizerischen Wendungen wurden übernommen und werden erst im Glossar erläutert, fährt Müller fort. Aber auch davon abgesehen lohne die Wiederlektüre: Aus Walser, aber auch Seeligs Nachlass sind immer weitere Texte veröffentlicht worden, die das Bild der Autoren und ihrer Beziehung nachhaltig veränderten, erklärt der Kritiker. Und so liest er hier nicht nur Gespräche über beide Weltkriege, über den spanischen Bürgerkrieg oder den Abessinien-Krieg, über Arbeitsprozesse und Schriftstellertätigkeit, sondern justiert auch seinen Blick auf die freundschaftliche Beziehung der beiden Autoren neu: Seelig, der bereits Ende Mai 1944 die Vormundschaft über Walser übernahm und auch hinter dessen Rücken Gespräche mit Ärzten führte, griff subtil, aber deutlich auch in Walsers schriftstellerisches Werk ein - Seeligs "Aneignungsernergie" bezeugen vor allem die letzten Seiten dieser neuen Edition, verrät der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2021

Wie gesprächig der Schweigsame war
Auch eine Geschichte der Entmündigung eines psychisch Kranken: Carl Seeligs „Wanderungen mit Robert Walser“ noch einmal zu lesen lohnt sich auch,
weil sich die Sicht auf beide Protagonisten in den Jahrzehnten seit ihrem Tod sehr verändert hat
VON LOTHAR MÜLLER
Robert Walser hatte eine gewisse Neigung, seine Figuren in Ordnungsraster einzufügen. Ebenso groß war seine Neigung, sie in Bewegung zu versetzen und scheinbar ziellos umherschweifen zu lassen. „Ich teile mit, dass ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau um wieviel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisterzimmer verließ, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen.“ So beginnt die Erzählung „Der Spaziergang“ (1917). Sie führt in eine Buchhandlung zu einem Bestseller, der dann aber nicht gekauft wird, in den Wald zu einem Riesen, in eine Bankfiliale oder sonst wohin. Sie zählte bei den Zeitgenossen zu seinen bekanntesten Texten.
„Lieber Herr Walser, wir sind alte Leute geworden, und mit dem Arbeiten will es nicht mehr gehen. Auch lesen kann ich nicht mehr viel. Aber hie und da, wenn ich etwas Schönes lesen will, nehme ich eins von Ihren lieben Büchern und lese darin, gehe mit Ihnen durch die schöne Welt spazieren und habe meine Freude daran. Das habe ich soeben wieder einmal getan und wollte es Ihnen sagen. Es grüsst Sie Ihr: H. Hesse.“
Als Hermann Hesse im August 1943 diesen Brief schrieb, war er 66 Jahre alt und sah der Erstausgabe seines Romans „Das Glasperlenspiel“ entgegen. Robert Walser, ein Jahr jünger, hatte schon seit geraumer Zeit nichts Neues mehr publiziert. Das letzte Buch, das er noch selbst herausgegeben hatte, „Die Rose“, eine Sammlung kleiner Prosa, war 1925 bei Rowohlt erschienen. Er war 1929 nach einer psychischen Krise in die Berner Heil- und Pflegeanstalt Waldau eingetreten, als „schizophren“ diagnostiziert und 1933 gegen seinen Willen nach Herisau im Kanton Appenzell verlegt worden, dem seine Familie entstammte. Er war zudem 1934 durch Gerichtsbeschluss unter Vormundschaft gestellt worden, auch dies gegen seinen erklärten Willen.
Hesse sandte seinen Brief nicht direkt an die Heil- und Pflegeanstalt in Herisau, sondern an Carl Seelig, von dem er wusste, dass er Robert Walser gelegentlich besuchte. Seelig, 1894 in Zürich geboren, entstammte einer Fabrikantenfamilie. Er war nach dem Tod seines Vaters, der 1917 in den Alpen verunglückte, finanziell gut gestellt, startete eine literarische und publizistische Karriere, war früh mit Hesse in Kontakt gekommen und über diesen auf Robert Walser aufmerksam geworden. Schon in den frühen Zwanzigerjahren wollte er Walser in eine Buchreihe aufnehmen, die er herausgab.
Daraus wurde nichts, aber 1935 unternahm Seelig, der inzwischen ein Netz von Autorenbeziehungen unterhielt und zahlreiche Emigranten unterstützte, einen neuen Versuch und schlug Walser vor, eine Anthologie aus seinen Werken herauszugeben. Daraus entstand die Sammlung
„Große kleine Welt“ (1937). Vor allem aber kam es im Juli 1936 zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Seelig und Walser. Sie wanderten gemeinsam von Herisau nach St. Gallen, behielten das als ein Ritual bei und durchwanderten die Ostschweiz, über die Kriegsjahre hinweg bis in die Nachkriegszeit.
44 Wanderungen in fast zwei Jahrzehnten waren es am Ende, am ersten Weihnachtstag 1956 starb Robert Walser bei einer Wanderung, die er allein unternahm. Auf den Fotografien des Ortspolizisten liegt der Tote im Schnee ausgestreckt am Hang, sein Hut etwas oberhalb des linken Arms. In den Augen der Nachwelt haben diese Bilder Robert Walser eng mit dem romantischen Bild des einsamen Wanderers verknüpft.
Es passte gut zur Vorstellung des verstummten Autors, der das Schreiben aufgegeben hatte. „Er ist ein großer Schweiger geworden“, schrieb Carl Seelig im September 1943 an Hermann Hesse, er habe auf dessen Brief „bisher nicht reagiert“. Seeligs „Wanderungen mit Robert Walser“ erschienen 1957 im Tschudy-Verlag in St. Gallen: „Ich schwieg. Er schwieg. Das Schweigen war der schmale Steg, über den wir uns entgegen kamen.“ Der Schweiger ist eine literarische Figur des Autors Carl Seelig. In einem Brief an Walsers Schwester Lisa hat er über diese Erstbegegnung am 26. Juli 1936 berichtet: „Robert selbst war eigentlich von der ersten Minute an erstaunlich aufgeschlossen und gesprächig.“ Misstrauisch und schweigsam war er im Buch vor allem, um von Carl Seelig dauerhaft aus dem Schweigen gelockt werden zu können. Rasch, schon auf der ersten Seite, verliert er seinen Nachnamen und ist fortan nur noch „Robert“. Die Wanderungen erwiesen sich als stabiles Gesprächsformat.
Immer wieder ist dieses Buch seit 1977 in Neuauflagen im Suhrkamp-Verlag erschienen, nicht zuletzt durch die Fotografien hat es das Bild Robert Walsers bei der Nachwelt geprägt. Der Kamera Carl Seeligs hat sich Robert Walser nicht verweigert, die zwischen 1937 und 1954 entstandenen Porträtaufnahmen zeigen ihn mal barhäuptig, mal mit Hut, im Anzug und mit dem Regenschirm. Zum ersten Mal ist dieses Buch nun wieder im Rückgang auf den Text der Originalausgabe erschienen, ohne die späteren Eingriffe, denen die schweizerischen Sprachgepflogenheiten und viele Schreibweisen zum Opfer gefallen waren. „I hätt’ de Saucheib chönne umbringe!“, sagt Robert Walser nun – „Ich hätte diesen Saukerl umbringen können!“, kommt das Echo aus dem Glossar. Mit einem Zugewinn an Mündlichkeit wandert der Schriftsteller nun ziemlich gesprächig durch die Ostschweiz. Die Landschaftsschilderungen, das häufige Einkehren in die Gasthöfe, das möglichst üppige Essen und Trinken scheint an lokaler Konkretion zu gewinnen. Das Rohmaterial des Buches, Seeligs Aufzeichnungen der Gespräche, sind nicht erhalten. Wie die Stimme Walsers durch die Autorschaft Seeligs geformt ist, bleibt im Ungewissen. Manchmal klingen Walsers Sätze, als wollten sie in einer künftigen Prosaanthologie Platz finden. „Es gefiel mir im Krankenzimmer ganz gut. Man liegt wie ein gefällter Baum da und braucht kein Glied zu rühren. Alle Wünsche schlafen wie vom Spielen müde gewordene Kinder ein.“
Häufig spricht die Walser-Stimme über die eigene und fremde Autorschaft. Sie formuliert Sottisen über Thomas Mann und Ehrenrettungen für Eugenie Marlitt, gibt dem Misstrauen gegenüber Jeremias Gotthelf oder der Bewunderung für Gottfried Keller Ausdruck. Sie blickt auf die vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin entstandenen eigenen Romane zurück, auf „Geschwister Tanner“, „Der Gehülfe“ und „Jakob von Gunten“, und bedauert, „dass ich mich auf eine Form kapriziert hatte, die für mein Talent zu weitläufig war. So zog ich mich in das Schneckenhaus der Kurzgeschichte und des Feuilletons zurück.“
In der Anstalt Waldau, zwischen 1929 und 1933, hatte Robert Walser die Zeitungen noch beliefert, darunter das Berliner Tageblatt. Seine Zwangsverlegung in die Kantons-Anstalt Herisau fiel mit dem Machantritt der Nationalsozialisten in Deutschland zusammen. Das findet in den „Wanderungen“ sein Echo: „In Herisau habe ich nichts mehr geschrieben. Wozu auch? Meine Welt wurde von den Nazis zertrümmert. Die Zeitungen, für die ich schrieb, sind eingegangen; ihre Redaktoren wurden verjagt oder sind gestorben. Da bin ich ja beinah zu einem Petrefakt geworden.“
Es gab kein abgedichtetes Abseits, in das sich Walser nach 1933 zurückgezogen hätte. In beklemmenden Passagen kommentiert seine Stimme den Spanischen Bürgerkrieg, den Aufstieg der Diktatoren, die Angriffe der Italiener auf Abessinien, den Zweiten Weltkrieg, die Bombenangriffe der Deutschen auf England, der Alliierten gegen die deutschen Städte – meist in einem sehr ungerührten, harten Ton. Der Patient Nr. 3561 hat das „Schriftstellergewerbe“ aufgegeben und hält sich peinlich genau an die Anstaltsordnung, vermeidet Wanderungen an Werktagen, um seine Arbeitspflichten, etwa beim Falten und Kleben von Papiertüten, nicht zu verletzen. In seiner Prosa war er ein Virtuose der Darstellung von Demut und Anpassungstechniken, in denen die Subversion rumorte. Nun formuliert er gelegentlich Kalendersprüche, deren Biederkeit von jeder Selbstparodie frei zu sein scheint: „Sorgen sind die besten Erzieher“. Wenn er aber als Autor spricht, ist er dort, wo es darauf ankommt, überhaupt nicht bescheiden: beim Honorar.
Zu einer Neulektüre laden die „Wanderungen“ auch deshalb ein, weil sich beide Protagonisten in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig verändert haben. Das „Schriftstellergewerbe“ Robert Walsers, zumal seine Produktivität als Feuilletonist und Autor kleiner Prosa, ist durch zahlreiche Auswahleditionen immer deutlicher hervorgetreten, und durch die „Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte“ in den Verlagen Schwabe und Stroemfeld. Die „Berner Ausgabe“, die bei Suhrkamp erscheint, hat 2018 den Briefschreiber Robert Walser mit mehr als dem Doppelten der bisher bekannten Briefe präsentiert.
2016 hat die Robert-Walser-Gesellschaft eine ganze Tagung Carl Seelig gewidmet. Seelig, der 1962 bei einem Verkehrsunfall in Zürich starb, ist nicht mehr nur der verdienstvolle Unterstützer und Herausgeber Robert Walsers, der für seinen wachsenden Nachruhm das Fundament legte. Er steht zugleich im Verdacht, allzu eifersüchtig über das Werk gewacht, es allzu eindeutig auf die eigene Lesart hin zugeschnitten zu haben. In seinem Testament hatte er verfügt, der gesamte handschriftliche Nachlass Robert Walsers solle vernichtet werden, darunter die in verkleinerter Schrift verfassten Bleistifttexte aus den Jahren zwischen 1924 und 1932, die Walsers Schwester Lisa ihm übergeben hatte.
Er mag davon ausgegangen sein, dass der Verfügung nicht entsprochen würde, eine Geste der Herrschaft über das Werk bleibt sie dennoch. Erst ab 1985 wurden alle „Mikrogramme“ Walsers publiziert. Ausführlich dokumentieren die Herausgeber dieser Neuausgabe die Publikationsstrategie Seeligs, aus einer diplomatischen Vermittlungsposition heraus, die seine Übergriffe festhält, ohne seine Verdienste zu schmälern. In der Rolle Max Brods für das Werk Kafkas sehen sie ein Modell, an dem Seelig sich orientierte. Seelig kannte Brod, wusste, wie sehr Kafka die Prosa Robert Walsers schätzte. Auch kannte er die „Gespräche mit Kafka“ (1951) von Gustav Janouch.
Ende Mai 1944 übernahm Carl Seelig die Vormundschaft für Robert Walser. In den Gesprächen der „Wanderungen“ kommt sie nicht vor. Dennoch ist die Geschichte von Mündel und Vormund in diesem Buch enthalten. Sie betrifft die Literatur und das Leben gleichermaßen. „Wortloser Kampf gegen sein Mißtrauen wegen meiner Besprechung mit dem Doktor“, heißt es im Bericht über die Wanderung am 25. Mai 1944. Mit großer Unbefangenheit lässt Seelig von Beginn an keinen Zweifel, dass er seine Gespräche mit den wechselnden Klinikchefs hinter dem Rücken des Patienten führt, der übrigens seinerseits ein subtil satirisches Porträt des literarisch dilettierenden Anstaltsdirektors Hinrichsen beisteuert.
Diese Unbefangenheit führt aus der Literaturgeschichte hinein in die Sozialgeschichte der Entmündigung und des Umgangs mit psychisch Kranken. Sie bereitet der Ausdehnung der Vormundschaft auf das Werk den Boden. Am Ende der „Wanderungen mit Robert Walser“ wird die Aneignungsenergie sichtbar. In der letzten Wanderung tritt Carl Seelig als imaginärer Begleiter Robert Walsers an seinem Todestag auf. „Robert lässt es sich im Kreis der Mitpatienten gut schmecken; das Geräusch von Gabeln, Löffeln und Messern tönt ihm wie heitere Musik.“ „Mit vollen Zügen saugt der einsame Wanderer die klare Winterluft ein.“ „Es überfällt ihn die Lust, eine Zigarette anzuzünden. Aber er gibt ihr nicht nach.“ „Da beginnt der Herzschlag des Wanderers plötzlich zu stocken. Es wird ihm schwindlig.“ So geht es im Stil einer fiktiven Reportage weiter, bis der Tote an der Schneehalde liegt und man in seiner Brusttasche drei Briefe und eine Postkarte findet. In den bearbeiteten Ausgaben nach 1977 war die handschriftlich faksimilierte Signatur weggelassen, mit der Carl Seelig das Buch hat enden lassen. Jetzt ist das Faksimile wieder da. Es zeigt nicht seine eigene Unterschrift, sondern die von Robert Walser.
Als „schizophren“ diagnostiziert
war er gegen seinen Willen unter
Vormundschaft gestellt worden
„Meine Welt wurde von den Nazis
zertrümmert. Die Zeitungen, für
die ich schrieb, sind eingegangen“
„Wortloser Kampf gegen sein
Mißtrauen wegen meiner
Besprechung mit dem Doktor“
Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Herausgegeben von Lukas Gloor, Reto Sorg und Peter Utz.
Suhrkamp, Berlin 2021.
256 Seiten, 22 Euro.
Mal mit Hut, mal mit Regenschirm: Robert Walser als Spaziergänger.
Foto: Keystone/Robert Walser-Stiftung Bern
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»Wer auf den Spuren des Schriftstellers durchs Appenzellerland spaziert, dem öffnen sich bald Abgründe.« Manuel Müller Neue Zürcher Zeitung 20210703