Der Wannsee ist ein See im Süden Berlins – und er ist viel mehr als das. Er steht für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte. Im 19. Jahrhundert wurde er zum Sehnsuchtsort für die stadtgeplagten Eliten; auf der Wannsee-Konferenz wurde die Ermordung der europäischen Juden organisiert; die USA und die Sowjetunion tauschten im Kalten Krieg auf der Glienicker Brücke Spione aus; und er inspirierte zahlreiche Künstler und Schriftsteller. Die Häuser an seinen Ufern gehören zu den teuersten Deutschlands, während sich im Strandbad die erholen, die der Stadt nur stundenweise entfliehen können. Hunderttausende Touristen besuchen ihn jedes Jahr. Der Wannsee ist so nicht nur ein Schicksalsort der Deutschen, sondern auch ein Mythos, der bis heute weitergesponnen, besungen und vereinnahmt wird.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joachim Käppner empfiehlt das Buch der Journalisten Jochen Arntz und Holger Schmale. Die Autoren erzählen Geschichte und Geschichten rund um den Wannsee, und zwar auf unterhaltsame wie lehrreiche Weise, findet Käppner. Alltag und kritische Historie finden dabei zusammen, meint er. Über Kleists Freitod, Freizeitspaß und "faschistischen Mordgeist" berichten Arntz und Schmale laut Käppner stark verdichtet und so, dass der Wannsee für den Leser als besonderer, fast mythologischer Ort erfahrbar wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2024Ein Ort für alle und alles
Holger Schmale und Jochen Arntz porträtieren den Berliner Wannsee als Symbol
für die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – und die leichtesten.
Manchmal scheinen die radikalsten Ideen zur Weltverbesserung besonders dort zu gedeihen und Blüten zu treiben, wo man von dieser Welt nicht so viel mitbekommt. So sammelte auf der Insel Schwanenwerder, bis heute ein höchst exklusiver Wohnort, der sozialistische Millionär und Verleger Alexander Helphand in den Zwanzigerjahren ein Völkchen in seiner Villa, über das ein Bekannter später schrieb: „Er kannte keine größere Freude, als alte Mitkämpfer und Gesinnungsgenossen wie begabte junge Adepten des Sozialismus in seinem schönen Haus am Wannsee zu sehen, an seinem gastlichen Tische zu bewirten.“ Hier, am stillen Seeufer und umgeben von herrlichen Gründerzeitvillen, verfassten und debattierten sie moralische Postulate, die freilich ebenso vom Wind der Zeit verweht wurden wie die Namen ihrer Urheber.
Der Wannsee natürlich ist noch da, und anders als die Luxusinsel hat er seinen Charakter immer wieder geändert. Oder besser gesagt, die Menschen gaben ihm fast mit jeder Generation ein neues Gepräge. „Der Wannsee – An den Ufern deutscher Geschichte“ heißt daher treffend ein schönes Buch von Jochen Arntz und Holger Schmale, dem die beiden Journalisten vorausschicken: „Wenn Weimar ein Symbol für die deutsche Geschichte war und ist, dann steht der Wannsee für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte.“
Das ist treffend gesagt. Hier am Wannsee, im Januar 1942, organisierten unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich die Funktionäre des Terrorstaates die „Endlösung“, den Genozid an Millionen jüdischer Menschen im deutschen Machtbereich. Und an denselben Gestaden, so das Autorenduo weiter, „wurde wenige Jahre später versucht, das alles zu vergessen, mit einem Schlager, der die deutsche Nachkriegszeit prägte: ,Pack die Badehose ein / Nimm dein kleines Schwesterlein / und dann nischt wie raus nach Wannsee ...‘“
Das Buch ist eine interessante und empfehlenswerte Mischung aus unterhaltsamer Alltagsgeschichte und kritischer Historie, stellenweise fast eine heimliche Liebeserklärung an diesen sehr besonderen Ort am Rande der Metropole Berlin. Dessen Geschichte beginnt in den 1790er-Jahren. Während in Frankreich die Revolution tobte und ein neuer Geist mit Blut und Feuer die gewohnte feudale Ordnung Europas herausforderte, ließ Preußens König eine befestigte Straße zwischen Berlin und Potsdam anlegen, und hier am nahen See gab es nur ein einziges Gebäude, den „Neuen Krug“ der Wirtsfamilie Stimming. Der Ort ging auf traurige Weise in die Geschichte ein.
Hier nahmen im Herbst 1811 der Dramatiker Heinrich von Kleist und seine todkranke Gefährtin Henriette Vogel Quartier, um gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Kleist, mittellos, von Zensur und Schwermut geplagt, „so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert“, erschoss anderntags erst sie und dann sich.
„Die Geschichte und die Geschichten rund um den Wannsee tragen auch deshalb mythologische Züge, weil hier alles zusammenkam, immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten“: proletarischer Freizeitspaß und Exklusivität der Oberschicht, Weimarer Lebenskultur und faschistischer Mordgeist, nach 1945 das US-Hauptquartier und die Gruppe 47 und, endlich, 1992 die Gedenkstätte an die „Wannseekonferenz“.
Es ist die Stärke des Buchs, all diese Dinge gekonnt miteinander zu verbinden und so den besonderen Ort zu einer jener deutschen Topografien zu erheben, „an denen sich Geschichte besonders stark verdichtet hat, an denen gesellschaftliche Weggabelungen deutlich werden und wurden, die woanders nie so klar zutage getreten sind“.
So verhält es sich auch mit der Wannseekonferenz und der Erinnerung an diesen Abgrund des Bösen, das menschlicher Geist dort ersann. Ausführlich berichten die Verfasser über die Eröffnung der Ausstellung im Haus am Großen Wannsee 56-58, in jenem nun denkmalgeschützten Gebäude im Januar 1992, ein halbes Jahrhundert, nachdem die Täter dort getagt hatten. Viele prominente deutsche Politiker, allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), blieben lieber fern. Aber immerhin, seither war „die jahrzehntelange Ausblendung der Geschichte“ an diesem Ort selbst Teil dieser Geschichte geworden.
Das Buch endet mit einem versöhnlichen Blick in die Vergangenheit, nämlich auf den alten Friedhof an der Lindenstraße, der Ende des 19. Jahrhunderts letzte Ruhestätte für Christen und Juden zugleich war. An der Friedhofsmauer entdeckten die Verfasser ein Kreuz, das in seiner Mitte den Davidstern trägt. Es steht, schreiben Arntz/Schmale, „für die helle Seite der Geschichte und des Sees“.
JOACHIM KÄPPNER
Unterhaltsame
Alltagsgeschichte
und kritische Historie
„... und dann nischt wie raus nach Wannsee“: Szene um 1966.
Foto: Imago
Jochen Arntz, Holger Schmale: Wannsee – An den Ufern der Geschichte. Herder-Verlag, Freiburg 2024. 224 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Holger Schmale und Jochen Arntz porträtieren den Berliner Wannsee als Symbol
für die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – und die leichtesten.
Manchmal scheinen die radikalsten Ideen zur Weltverbesserung besonders dort zu gedeihen und Blüten zu treiben, wo man von dieser Welt nicht so viel mitbekommt. So sammelte auf der Insel Schwanenwerder, bis heute ein höchst exklusiver Wohnort, der sozialistische Millionär und Verleger Alexander Helphand in den Zwanzigerjahren ein Völkchen in seiner Villa, über das ein Bekannter später schrieb: „Er kannte keine größere Freude, als alte Mitkämpfer und Gesinnungsgenossen wie begabte junge Adepten des Sozialismus in seinem schönen Haus am Wannsee zu sehen, an seinem gastlichen Tische zu bewirten.“ Hier, am stillen Seeufer und umgeben von herrlichen Gründerzeitvillen, verfassten und debattierten sie moralische Postulate, die freilich ebenso vom Wind der Zeit verweht wurden wie die Namen ihrer Urheber.
Der Wannsee natürlich ist noch da, und anders als die Luxusinsel hat er seinen Charakter immer wieder geändert. Oder besser gesagt, die Menschen gaben ihm fast mit jeder Generation ein neues Gepräge. „Der Wannsee – An den Ufern deutscher Geschichte“ heißt daher treffend ein schönes Buch von Jochen Arntz und Holger Schmale, dem die beiden Journalisten vorausschicken: „Wenn Weimar ein Symbol für die deutsche Geschichte war und ist, dann steht der Wannsee für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte.“
Das ist treffend gesagt. Hier am Wannsee, im Januar 1942, organisierten unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich die Funktionäre des Terrorstaates die „Endlösung“, den Genozid an Millionen jüdischer Menschen im deutschen Machtbereich. Und an denselben Gestaden, so das Autorenduo weiter, „wurde wenige Jahre später versucht, das alles zu vergessen, mit einem Schlager, der die deutsche Nachkriegszeit prägte: ,Pack die Badehose ein / Nimm dein kleines Schwesterlein / und dann nischt wie raus nach Wannsee ...‘“
Das Buch ist eine interessante und empfehlenswerte Mischung aus unterhaltsamer Alltagsgeschichte und kritischer Historie, stellenweise fast eine heimliche Liebeserklärung an diesen sehr besonderen Ort am Rande der Metropole Berlin. Dessen Geschichte beginnt in den 1790er-Jahren. Während in Frankreich die Revolution tobte und ein neuer Geist mit Blut und Feuer die gewohnte feudale Ordnung Europas herausforderte, ließ Preußens König eine befestigte Straße zwischen Berlin und Potsdam anlegen, und hier am nahen See gab es nur ein einziges Gebäude, den „Neuen Krug“ der Wirtsfamilie Stimming. Der Ort ging auf traurige Weise in die Geschichte ein.
Hier nahmen im Herbst 1811 der Dramatiker Heinrich von Kleist und seine todkranke Gefährtin Henriette Vogel Quartier, um gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Kleist, mittellos, von Zensur und Schwermut geplagt, „so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert“, erschoss anderntags erst sie und dann sich.
„Die Geschichte und die Geschichten rund um den Wannsee tragen auch deshalb mythologische Züge, weil hier alles zusammenkam, immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten“: proletarischer Freizeitspaß und Exklusivität der Oberschicht, Weimarer Lebenskultur und faschistischer Mordgeist, nach 1945 das US-Hauptquartier und die Gruppe 47 und, endlich, 1992 die Gedenkstätte an die „Wannseekonferenz“.
Es ist die Stärke des Buchs, all diese Dinge gekonnt miteinander zu verbinden und so den besonderen Ort zu einer jener deutschen Topografien zu erheben, „an denen sich Geschichte besonders stark verdichtet hat, an denen gesellschaftliche Weggabelungen deutlich werden und wurden, die woanders nie so klar zutage getreten sind“.
So verhält es sich auch mit der Wannseekonferenz und der Erinnerung an diesen Abgrund des Bösen, das menschlicher Geist dort ersann. Ausführlich berichten die Verfasser über die Eröffnung der Ausstellung im Haus am Großen Wannsee 56-58, in jenem nun denkmalgeschützten Gebäude im Januar 1992, ein halbes Jahrhundert, nachdem die Täter dort getagt hatten. Viele prominente deutsche Politiker, allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), blieben lieber fern. Aber immerhin, seither war „die jahrzehntelange Ausblendung der Geschichte“ an diesem Ort selbst Teil dieser Geschichte geworden.
Das Buch endet mit einem versöhnlichen Blick in die Vergangenheit, nämlich auf den alten Friedhof an der Lindenstraße, der Ende des 19. Jahrhunderts letzte Ruhestätte für Christen und Juden zugleich war. An der Friedhofsmauer entdeckten die Verfasser ein Kreuz, das in seiner Mitte den Davidstern trägt. Es steht, schreiben Arntz/Schmale, „für die helle Seite der Geschichte und des Sees“.
JOACHIM KÄPPNER
Unterhaltsame
Alltagsgeschichte
und kritische Historie
„... und dann nischt wie raus nach Wannsee“: Szene um 1966.
Foto: Imago
Jochen Arntz, Holger Schmale: Wannsee – An den Ufern der Geschichte. Herder-Verlag, Freiburg 2024. 224 Seiten, 25 Euro.
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Das Buch richtet einen unverklärten Blick auf die Schönheit und das Grauen, zeichnet ein Bild der Berliner Stadtgesellschaft und von Persönlichkeiten, die diesen Ort prägten. Kulturmagazin rbb TV 20240831