In den 1950er Jahren setzte in der Bundesrepublik die so genannte Konsumrevolution ein, die die individuellen Konsumgewohnheiten sowie die gesamte soziale und wirtschaftliche Ordnung grundlegend veränderte. Die Geschwindigkeit des Übergangs in den Massenkonsum hat schon die zeitgenössischen Beobachter überrascht. Detlef Briesen zeigt, wie die Konsumrevolution bereits seit der Jahrhundertwende gesellschaftlich präsent war. Er beleuchtet die historischen Debatten zu den neuen Möglichkeiten und Gefahren des Konsums und sieht im Wandel der Diskurse eine bedeutsame Ursache für die tatsächliche Modernität der frühen Bundesrepublik. Unveränderter Nachdruck
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2001Konsumkritik? Zweite Etage links, bitte
Freunde des Einkaufens: Detlef Briesen über die Geschichte des Warenhauses und die Konstruktion kleptomanischer Kundinnen
Das Warenhaus ist längst nicht mehr der glitzernde Konsumtempel der vorletzten Jahrhundertwende und vermag heftige Reaktionen oder Debatten kaum noch auszulösen - weder in emotionaler noch in politischer oder ökonomischer Hinsicht. Als Einzelhandelsform ist das gemeinhin "Kaufhaus" genannte innerstädtische Warenhaus seit drei Jahrzehnten unter immer größeren Druck der Discountmärkte und sogenannter "SB-Warenhäuser" in profitableren, parkplatzgünstigen Randlagen außerhalb der Citys geraten: Sie verkörpern die heutige Kultur des Massenkonsums mindestens ebensosehr, wie das Wertheim-Haus am Leipziger Platz in Berlin vor hundert Jahren ein Symbol seiner Zeit war. Deshalb ist es nun Aufgabe der Historiker, zu rekonstruieren, welche Bedeutung das Warenhaus für die Entwicklung von Einzelhandel und Konsumgesellschaft seit dem späten neunzehnten Jahrhundert hatte und warum es darüber hinaus von den Zeitgenossen geradezu als Brennpunkt, als symbolische Verdichtung all dessen verstanden werden konnte, was an der modernen Gesellschaft und Kultur so faszinierend oder so hassenswert war.
Detlef Briesen hat in dieser Siegener Habilitationsschrift Ausschnitte aus den lebhaften Debatten ans Tageslicht befördert, die zwischen dem späten Kaiserreich und den Anfängen der Bundesrepublik über das Warenhaus und seine vermeintliche moralische Verderbnis geführt worden sind. Denn der auch die NS-Zeit durchziehende, erst in den fünfziger Jahren abebbende Streit unter Ökonomen, Wissenschaftlern und Politikern war, so seine Ausgangsthese, vor allem eine Auseinandersetzung über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft und ihrer ökonomischen Kultur. Das Warenhaus bedrohte nämlich für viele Zeitgenossen nicht nur die Substanz des "ehrenwerten" und angeblich so traditionsreichen Einzelhandels selbständiger Kaufleute (der in Wirklichkeit selber ein neues Phänomen des neunzehnten Jahrhunderts war), sondern gefährdete vor allem die moralische Festigkeit seiner Kundinnen und Kunden: Die Warenpräsentation weckte Versprechen, die nicht eingelöst werden konnten; sie forderte die Tugend bürgerlicher Sparsamkeit heraus und bildete gefährliches Terrain für labile Persönlichkeiten, die der Versuchung zum Ladendiebstahl nicht mehr widerstehen konnten.
Eine ausgewogene, abgerundete Darstellung der Warenhausgeschichte - oder auch nur des Diskurses über das Warenhaus - in Deutschland bietet dieses Buch nicht. Der Autor konzentriert sich auf zwei große Themenausschnitte, und darin wie überhaupt ist ihm eine gewisse Eigenwilligkeit der Auswahl wie des Urteils nicht abzusprechen. Einen ersten Schwerpunkt bildet die ausführliche kriminalwissenschaftliche und psychologische Debatte des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts über die Kleptomanie als eine spezifisch weibliche Erkrankung des "nervösen" Zeitalters mit seinen schon von Georg Simmel beschriebenen Reizüberflutungen. Das war übrigens eine sehr internationale Debatte, und es gibt dazu bereits eine interessante Studie von Elaine Abelson, die Briesen leider nicht kennt. Wenn Ehemänner sich darum sorgten, ob sie ihre Frauen noch ins Warenhaus zum Einkaufen schicken konnten, wurde damit aber nicht nur ein bestimmter Typus von Weiblichkeit konstruiert (der auf Stammtischniveau bis heute nachwirkt). Der Diskurs über Frauen als Kundinnen und Kleptomaninnen war zugleich in hohem Maße sexualisiert, indem Mediziner, Kriminologen und Psychiater die weibliche Neigung zum Ladendiebstahl mit der Sexualität der Frau, mit Menstruation, Schwangerschaft und genereller "Verführbarkeit" in Zusammenhang brachten.
Sehr viel spezifischer für die deutsche Entwicklung ist die zweite große Linie, die Briesen verfolgt: nämlich die interessen- und wirtschaftspolitische Debatte über das Warenhaus, die ihren Anfang mit dem Kampf um besondere "Warenhaussteuern" im Kaiserreich nahm. Der Schwerpunkt liegt hier aber auf der Einzelhandelspolitik zu Beginn des "Dritten Reiches" und in den fünfziger Jahren. Nicht nur an dieser Stelle geht dem Verfasser der Fokus auf das Warenhaus verloren - der Rezensent muß gestehen, noch nie ein Buch über dieses Sujet gelesen zu haben, in dem diese faszinierende Institution so "abwesend" war, so wenig plastisch hervortrat. Auch über Briesens Interpretation des Übergangs von der nationalsozialistischen Handelsregulierung zu derjenigen der Bundesrepublik kann man geteilter Meinung sein; man muß darin nicht unbedingt einen "Lernprozeß" sehen, der nach 1945 sehr schnell in eine "umfassende Deregulierung" des westdeutschen Einzelhandels gemündet habe. Diese Sichtweise unterschätzt Kontinuität in mindestens zweierlei Hinsicht: Erstens stand der Ordoliberalismus der "Freiburger Schule" dem klassischen ethischen Impuls der deutschen Nationalökonomie näher, als Briesen zugesteht.
Zweitens änderte sich sehr wohl in den fünfziger und sechziger Jahren, mit dem Verschwinden der alten Kulturkritik, die generelle Haltung zu Konsum und Massenkultur, aber gerade die Gesetzgebung blieb dagegen auffällig resistent. Der Ladenschluß wurde zunächst sogar noch stärker reglementiert, und erst vor wenigen Wochen verloren Rabattgesetz und Zugabeverordnung aus den ersten Monaten des "Dritten Reiches" ihre Gültigkeit. Schon diese Aktualität zeigt, daß man aus der Frage nach der "Sozialmoral" des Massenkonsums wesentlich mehr hätte machen können, als es dem Verfasser hier gelungen ist.
PAUL NOLTE
Detlef Briesen: "Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral". Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001. 300 S., br., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Freunde des Einkaufens: Detlef Briesen über die Geschichte des Warenhauses und die Konstruktion kleptomanischer Kundinnen
Das Warenhaus ist längst nicht mehr der glitzernde Konsumtempel der vorletzten Jahrhundertwende und vermag heftige Reaktionen oder Debatten kaum noch auszulösen - weder in emotionaler noch in politischer oder ökonomischer Hinsicht. Als Einzelhandelsform ist das gemeinhin "Kaufhaus" genannte innerstädtische Warenhaus seit drei Jahrzehnten unter immer größeren Druck der Discountmärkte und sogenannter "SB-Warenhäuser" in profitableren, parkplatzgünstigen Randlagen außerhalb der Citys geraten: Sie verkörpern die heutige Kultur des Massenkonsums mindestens ebensosehr, wie das Wertheim-Haus am Leipziger Platz in Berlin vor hundert Jahren ein Symbol seiner Zeit war. Deshalb ist es nun Aufgabe der Historiker, zu rekonstruieren, welche Bedeutung das Warenhaus für die Entwicklung von Einzelhandel und Konsumgesellschaft seit dem späten neunzehnten Jahrhundert hatte und warum es darüber hinaus von den Zeitgenossen geradezu als Brennpunkt, als symbolische Verdichtung all dessen verstanden werden konnte, was an der modernen Gesellschaft und Kultur so faszinierend oder so hassenswert war.
Detlef Briesen hat in dieser Siegener Habilitationsschrift Ausschnitte aus den lebhaften Debatten ans Tageslicht befördert, die zwischen dem späten Kaiserreich und den Anfängen der Bundesrepublik über das Warenhaus und seine vermeintliche moralische Verderbnis geführt worden sind. Denn der auch die NS-Zeit durchziehende, erst in den fünfziger Jahren abebbende Streit unter Ökonomen, Wissenschaftlern und Politikern war, so seine Ausgangsthese, vor allem eine Auseinandersetzung über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft und ihrer ökonomischen Kultur. Das Warenhaus bedrohte nämlich für viele Zeitgenossen nicht nur die Substanz des "ehrenwerten" und angeblich so traditionsreichen Einzelhandels selbständiger Kaufleute (der in Wirklichkeit selber ein neues Phänomen des neunzehnten Jahrhunderts war), sondern gefährdete vor allem die moralische Festigkeit seiner Kundinnen und Kunden: Die Warenpräsentation weckte Versprechen, die nicht eingelöst werden konnten; sie forderte die Tugend bürgerlicher Sparsamkeit heraus und bildete gefährliches Terrain für labile Persönlichkeiten, die der Versuchung zum Ladendiebstahl nicht mehr widerstehen konnten.
Eine ausgewogene, abgerundete Darstellung der Warenhausgeschichte - oder auch nur des Diskurses über das Warenhaus - in Deutschland bietet dieses Buch nicht. Der Autor konzentriert sich auf zwei große Themenausschnitte, und darin wie überhaupt ist ihm eine gewisse Eigenwilligkeit der Auswahl wie des Urteils nicht abzusprechen. Einen ersten Schwerpunkt bildet die ausführliche kriminalwissenschaftliche und psychologische Debatte des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts über die Kleptomanie als eine spezifisch weibliche Erkrankung des "nervösen" Zeitalters mit seinen schon von Georg Simmel beschriebenen Reizüberflutungen. Das war übrigens eine sehr internationale Debatte, und es gibt dazu bereits eine interessante Studie von Elaine Abelson, die Briesen leider nicht kennt. Wenn Ehemänner sich darum sorgten, ob sie ihre Frauen noch ins Warenhaus zum Einkaufen schicken konnten, wurde damit aber nicht nur ein bestimmter Typus von Weiblichkeit konstruiert (der auf Stammtischniveau bis heute nachwirkt). Der Diskurs über Frauen als Kundinnen und Kleptomaninnen war zugleich in hohem Maße sexualisiert, indem Mediziner, Kriminologen und Psychiater die weibliche Neigung zum Ladendiebstahl mit der Sexualität der Frau, mit Menstruation, Schwangerschaft und genereller "Verführbarkeit" in Zusammenhang brachten.
Sehr viel spezifischer für die deutsche Entwicklung ist die zweite große Linie, die Briesen verfolgt: nämlich die interessen- und wirtschaftspolitische Debatte über das Warenhaus, die ihren Anfang mit dem Kampf um besondere "Warenhaussteuern" im Kaiserreich nahm. Der Schwerpunkt liegt hier aber auf der Einzelhandelspolitik zu Beginn des "Dritten Reiches" und in den fünfziger Jahren. Nicht nur an dieser Stelle geht dem Verfasser der Fokus auf das Warenhaus verloren - der Rezensent muß gestehen, noch nie ein Buch über dieses Sujet gelesen zu haben, in dem diese faszinierende Institution so "abwesend" war, so wenig plastisch hervortrat. Auch über Briesens Interpretation des Übergangs von der nationalsozialistischen Handelsregulierung zu derjenigen der Bundesrepublik kann man geteilter Meinung sein; man muß darin nicht unbedingt einen "Lernprozeß" sehen, der nach 1945 sehr schnell in eine "umfassende Deregulierung" des westdeutschen Einzelhandels gemündet habe. Diese Sichtweise unterschätzt Kontinuität in mindestens zweierlei Hinsicht: Erstens stand der Ordoliberalismus der "Freiburger Schule" dem klassischen ethischen Impuls der deutschen Nationalökonomie näher, als Briesen zugesteht.
Zweitens änderte sich sehr wohl in den fünfziger und sechziger Jahren, mit dem Verschwinden der alten Kulturkritik, die generelle Haltung zu Konsum und Massenkultur, aber gerade die Gesetzgebung blieb dagegen auffällig resistent. Der Ladenschluß wurde zunächst sogar noch stärker reglementiert, und erst vor wenigen Wochen verloren Rabattgesetz und Zugabeverordnung aus den ersten Monaten des "Dritten Reiches" ihre Gültigkeit. Schon diese Aktualität zeigt, daß man aus der Frage nach der "Sozialmoral" des Massenkonsums wesentlich mehr hätte machen können, als es dem Verfasser hier gelungen ist.
PAUL NOLTE
Detlef Briesen: "Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral". Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001. 300 S., br., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Bekittelte Verkäufer, Kaufzwang bei Betreten des Ladens und wie das alles unterging in den Schlussverkaufsorgien der Warenhäuser - alles hochspannend, meint Ralph Bollmann. Schade nur, dass der Historiker-Autor das Ganze in einer Habilitationsschrift behandeln muss und über dem hoffnungslosen, akademischen Kampf um Vollständigkeit nicht nur den Leser einschläfert, sondern auch "das große Ganze" darüber aus dem Auge verliert. Um die versprochene "Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert" aber fühlt sich der Rezensent auch deshalb betrogen, weil so eine Habilschrift ja ausschließlich Neues enthalten muss. "Deshalb dürfte das Buch für den Laien über weite Strecken fast unverständlich sein."
© Perlentaucher Medien GmbH
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