Seit ihre Mutter fortging, sind Pauli und ihre Schwester Karine auf sich allein gestellt. Pauli ist sechzehn und als Ältere darum bemüht, einen normalen Tagesablauf aufrechtzuerhalten. Doch die Vorräte, die ihre Mutter vor ihrem Verschwinden einkochte, gehen zur Neige, und obwohl noch nicht mal November ist, verheißt der Blick zum Himmel nichts Gutes. Nachdem auch die letzten Bewohner das Dorf verlassen haben und der Mond die Landschaft in ein unheilvolles, blassgrünes Licht taucht, ziehen die fernen Hügel Pauli magisch an. Denn dahinter liegt das Unbekannte, das alle verschluckt – zuerst ihren Vater und später auch Powel, den großen Jungen mit dem seltsamen Gesicht, ihren einzigen Vertrauten. Auf der Suche nach einer Erklärung wandern Paulis Gedanken in die Vergangenheit, und schicksalhafte Geschichten treten ans Licht. Pauli wird klar: Sie muss handeln, bevor der erste Schnee fällt. "Warten auf Schnee" ist ein schnörkelloses Debüt mit präziser Sprache, das durch seine atmosphärische Dichte besticht und eine hypnotische Ruhe ausstrahlt, die den Leser in ihren Bann zieht. Kunstvoll verwebt Karoline Menge archaische Märchenmotive zu einer modernen Geschichte, die einen anschwellenden Sog des Unheimlichen erzeugt. Gleichsam erzählt sie von einer Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig ins Verderben stürzen und in deren Zentrum eine mutige Heldin ihren Ängsten trotzt.
buecher-magazin.deWenn in einem Märchen etwas verschwindet, kann man davon ausgehen, dass es wiederkommt. Der Held oder die Heldin machen sich auf die Suche und am Ende ist alles gut. Im modernen Märchen, das der Debütroman von Karoline Menge auch ist, sind die Dinge nicht so einfach. Protagonistin ist die 16-jährige Pauli, die mit ihrer unberechenbaren Stiefschwester Karine und ihrer Mutter in einem Haus abseits eines kleinen Dorfes lebt. Ihre Geschichte ist eine Geschichte des Verschwindens. Zuerst verliert sie den Vater, dann die Großmutter und als schließlich auch die Dorfgemeinschaft ihre Häuser verlassen, geht auch die Mutter. Die beiden Mädchen bleiben zurück und für sie ist klar, irgendetwas Seltsames geht vor. Es müssen die Hügel jenseits des Dorfes sein, die alle so magisch anziehen. Es kommt die Frage auf, ob sich auch Pauli und Karine auf den Weg machen, bevor der Schnee kommt. Motive aus den Grimmmärchen "Frau Holle" und "Rotkäppchen und der Wolf" klingen in dem Roman an, Caroline Menge verwebt sie mit eigenen poetischen Ideen und der Wahrnehmungswelt eines Mädchens, in der magisches Denken überwiegt. Das Gefühl des Verlassenseins und die Hilflosigkeit, Geliebtes nicht halten zu können, vermittelt der Roman indes realitätsnah und beklemmend.
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2018Schlaf nur ruhig, die Hexe wird uns schon holen
Mädchen, in einem Märchen gefangen: Karoline Menges Debütroman „Warten auf Schnee“
Es liegt in der Natur des Märchens, dass es weder auf Kausalität noch auf Psychologie Wert legt. Letztere verlagert es zumeist auf die Motivebene. Die Dinge grundieren und spiegeln das Bewusstsein der Figuren. Es geschieht nichts, weil es plausiblerweise geschehen müsste, sondern weil die Welt wie selbstverständlich ihren Verlauf und die Menschen mit sich nimmt oder in den Sog des Geschehens hineinzieht.
So verhält es sich auch im Debütroman der 1986 geborenen Schriftstellerin Karoline Menge, die an der Universität Hildesheim das literarische Schreiben gelernt hat. Sie setzt ihr Personal in ein abgeschlossenes Szenario, das dann mit sprachlichem Können zu einem Universum aus Verfall, Absterben und Verwesung ausgebaut wird. Die Ich-Erzählerin heißt Pauline, genannt Pauli, und ist 16 Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Adoptivschwester Karine lebt sie in einem Dorf mit 69 Einwohnern und 51 Kühen.
Jedenfalls ist das noch so, als Karine im Alter von sieben Jahren in die Familie kommt. Die Familie wiederum befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Auflösung. Eines Tages, Pauli ist fünf Jahre alt, geht der Vater aus dem Haus und kommt nicht mehr zurück. Das Dorf entvölkert sich nach und nach. Und nun, das ist die Ausgangs-Erzählsituation des Romans, ist auch die Mutter verschwunden und hat die beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt zurückgelassen.
Warum sie plötzlich allein sind, wissen Pauli und Karine nicht. Erklärt wird nichts, weil nichts erklärbar, aber alles schicksalhaft ist. „Warten auf Schnee“ ließe sich ohne Mühe in eine realistische Lesart rückübersetzen und in ein thematisches Spektrum einsortieren. Wollte man dem Text seine archaische Doppelbödigkeit nehmen, könnte man ihn auf eine klassischen Dorfgeschichte unter den Bedingungen des Strukturwandels und auf die Darstellung einer zerrütteten Familie reduzieren.
Doch damit würde man dem Roman nicht gerecht. Denn obwohl er eindeutig in einer gegenwartsnahen Zeit angesiedelt ist (es gibt Autos und Waschmaschinen), hebt Menge ihre Geschichte auch im Tonfall aus der Zeit heraus. Es geht weniger um eine Handlung als um eine durch ästhetische Überhöhung erzeugte Stimmung des Verlorenseins, um eine namenlose Bedrohung, der sich die beiden in einem ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis verbundenen Mädchen ausgesetzt sehen.
Außenseiterinnen waren sie schon immer. Die Mutter ist – auch hier ist die Folie des Märchens unterlegt – eine Kräuter sammelnde Einzelgängerin, die nach und nach in einen verwirrten Geisteszustand abgleitet. Die böse Großmutter (auch sie gibt es, versteht sich) hat mit ihrer Tochter gebrochen, als sie sich mit dem Vater, der als Fremder ins Dorf gekommen ist, zusammengetan hat. Der Blick der Erzählerin ist zentriert auf ihren engen Kosmos, der aber von ihr wiederum als unwirklich empfunden wird: „Es fühlte sich sowieso nie so an“, sagt Pauli, „als gehöre unser Dorf zur richtigen Welt, so wie ich sie aus Büchern kannte. Die Dörfer in den Geschichten, die ich las, waren anders, aber nie konnte ich genau sagen, weshalb.“
Paulis Wahrnehmungsebene, ihre Perspektive auf die Welt, ist verrutscht, verzogen. Den Schwebezustand zwischen einer rein auf die Phänomene konzentrierten Beobachtung und dem Gefühl einer permanenten Bedrohung eben dieser beobachteten Phänomene inszeniert Karoline Menge zumindest im ersten Teil des Romans kunstvoll. In den besten Augenblicken erinnert „Warten auf Schnee“ an die Zwillings-Trilogie von Agota Kristof, in der das Erwachsenwerden als ein Exerzitium in Grausamkeit vorgeführt wird.
Allerdings setzt Menge die Bilder einer vergifteten Idylle, all die Hasen, Wildschweine, Wölfe und langsam verfallenden Häuser mit ihren düsteren Kellern, allzu inflationär ein. Zudem tritt der Roman mit zunehmender Dauer auf der Stelle, weswegen vor allem im zweiten Teil Horror- und Splattermotive eingeführt werden, die neue Reizpunkte setzen sollen.
In der Erzeugung einer in sich konsistenten Atmosphäre ist „Warten auf Schnee“ eine viel versprechende Talentprobe. Ob daraus gleich ein – wenn auch schmaler – Roman hätte werden müssen, bleibt aber fraglich.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Karoline Menge: Warten auf Schnee. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 200 Seiten, 20 Euro.
Die Wölfe sagen sich Gute
Nacht, und langsam verfallen
die Häuser im Dorf
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Mädchen, in einem Märchen gefangen: Karoline Menges Debütroman „Warten auf Schnee“
Es liegt in der Natur des Märchens, dass es weder auf Kausalität noch auf Psychologie Wert legt. Letztere verlagert es zumeist auf die Motivebene. Die Dinge grundieren und spiegeln das Bewusstsein der Figuren. Es geschieht nichts, weil es plausiblerweise geschehen müsste, sondern weil die Welt wie selbstverständlich ihren Verlauf und die Menschen mit sich nimmt oder in den Sog des Geschehens hineinzieht.
So verhält es sich auch im Debütroman der 1986 geborenen Schriftstellerin Karoline Menge, die an der Universität Hildesheim das literarische Schreiben gelernt hat. Sie setzt ihr Personal in ein abgeschlossenes Szenario, das dann mit sprachlichem Können zu einem Universum aus Verfall, Absterben und Verwesung ausgebaut wird. Die Ich-Erzählerin heißt Pauline, genannt Pauli, und ist 16 Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer zwei Jahre jüngeren Adoptivschwester Karine lebt sie in einem Dorf mit 69 Einwohnern und 51 Kühen.
Jedenfalls ist das noch so, als Karine im Alter von sieben Jahren in die Familie kommt. Die Familie wiederum befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Auflösung. Eines Tages, Pauli ist fünf Jahre alt, geht der Vater aus dem Haus und kommt nicht mehr zurück. Das Dorf entvölkert sich nach und nach. Und nun, das ist die Ausgangs-Erzählsituation des Romans, ist auch die Mutter verschwunden und hat die beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt zurückgelassen.
Warum sie plötzlich allein sind, wissen Pauli und Karine nicht. Erklärt wird nichts, weil nichts erklärbar, aber alles schicksalhaft ist. „Warten auf Schnee“ ließe sich ohne Mühe in eine realistische Lesart rückübersetzen und in ein thematisches Spektrum einsortieren. Wollte man dem Text seine archaische Doppelbödigkeit nehmen, könnte man ihn auf eine klassischen Dorfgeschichte unter den Bedingungen des Strukturwandels und auf die Darstellung einer zerrütteten Familie reduzieren.
Doch damit würde man dem Roman nicht gerecht. Denn obwohl er eindeutig in einer gegenwartsnahen Zeit angesiedelt ist (es gibt Autos und Waschmaschinen), hebt Menge ihre Geschichte auch im Tonfall aus der Zeit heraus. Es geht weniger um eine Handlung als um eine durch ästhetische Überhöhung erzeugte Stimmung des Verlorenseins, um eine namenlose Bedrohung, der sich die beiden in einem ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis verbundenen Mädchen ausgesetzt sehen.
Außenseiterinnen waren sie schon immer. Die Mutter ist – auch hier ist die Folie des Märchens unterlegt – eine Kräuter sammelnde Einzelgängerin, die nach und nach in einen verwirrten Geisteszustand abgleitet. Die böse Großmutter (auch sie gibt es, versteht sich) hat mit ihrer Tochter gebrochen, als sie sich mit dem Vater, der als Fremder ins Dorf gekommen ist, zusammengetan hat. Der Blick der Erzählerin ist zentriert auf ihren engen Kosmos, der aber von ihr wiederum als unwirklich empfunden wird: „Es fühlte sich sowieso nie so an“, sagt Pauli, „als gehöre unser Dorf zur richtigen Welt, so wie ich sie aus Büchern kannte. Die Dörfer in den Geschichten, die ich las, waren anders, aber nie konnte ich genau sagen, weshalb.“
Paulis Wahrnehmungsebene, ihre Perspektive auf die Welt, ist verrutscht, verzogen. Den Schwebezustand zwischen einer rein auf die Phänomene konzentrierten Beobachtung und dem Gefühl einer permanenten Bedrohung eben dieser beobachteten Phänomene inszeniert Karoline Menge zumindest im ersten Teil des Romans kunstvoll. In den besten Augenblicken erinnert „Warten auf Schnee“ an die Zwillings-Trilogie von Agota Kristof, in der das Erwachsenwerden als ein Exerzitium in Grausamkeit vorgeführt wird.
Allerdings setzt Menge die Bilder einer vergifteten Idylle, all die Hasen, Wildschweine, Wölfe und langsam verfallenden Häuser mit ihren düsteren Kellern, allzu inflationär ein. Zudem tritt der Roman mit zunehmender Dauer auf der Stelle, weswegen vor allem im zweiten Teil Horror- und Splattermotive eingeführt werden, die neue Reizpunkte setzen sollen.
In der Erzeugung einer in sich konsistenten Atmosphäre ist „Warten auf Schnee“ eine viel versprechende Talentprobe. Ob daraus gleich ein – wenn auch schmaler – Roman hätte werden müssen, bleibt aber fraglich.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Karoline Menge: Warten auf Schnee. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 200 Seiten, 20 Euro.
Die Wölfe sagen sich Gute
Nacht, und langsam verfallen
die Häuser im Dorf
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