Jedes Warten hat seine Geschichte. Friederike Gräff ergründet, was dieser Zustand in uns auslöst. Sie steigt in die Tiefen des Wartens hinab und kommt heraus in einer schnelllebigen Gegenwart, die die Vorzüge des Wartens aus den Augen verloren hat. Ihre vielstimmige Erkundung ermutigt uns, Warteräume zu schaffen und sie selbstbestimmt zu nutzen.
Friederike Gräff ist eine Erzählerin, wie ein Leser sie sich wünscht. Ihre Geschichten lassen uns staunend, manchmal auch ein bisschen verunsichert zurück, aber zugleich getröstet. Franz Kafka müsste lächeln.
(Jurybegründung für den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2012)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Friederike Gräff weiß, was
Warten in uns auslöst
Kaum etwas ist so schwierig, wie der Gegenwart eine Diagnose zu stellen. Manchmal aber gelingt es, die Krankheit oder Gesundheit der eigenen Epoche dadurch zu erfassen, dass man eine alltägliche Verrichtung betrachtet. In ihrem kleinen, feinen Buch über das Warten gelingt der taz-Redakteurin Friederike Gräff dieses Kunststück. Noch vor dreißig Jahren verbrachten polnische Frauen im Durchschnitt täglich drei Stunden und 37 Minuten mit ihren Einkäufen, weil sie in der sozialistischen Mangelwirtschaft so lange in Warteschlangen stehen mussten. Das ist in der heutigen Zeit der „1-Click“-Einkäufe und der „Just-in-time“-Lieferungen nicht mehr denkbar.
Es scheint, als wäre das Warten aus dem öffentlich sichtbaren Leben verschwunden. Dabei könnte es – freiwillig gewählt – der Psychohygiene dienlich sein: als souveränes Abstandnehmen von unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, als innere Vorbereitung auf spontanes Erleben. Doch das bleibt für die meisten Zeitgenossen eine nur theoretisch attraktive Option. Denn jeder weiß, dass Warten immer mit Macht und Ungerechtigkeit zu tun hat. Kassenpatienten warten eben länger als Privatversicherte.
Mit journalistischem Spürsinn, einfühlsamer Nachdenklichkeit und leichter Hand erkundet Gräff die unterschiedlichsten Formen und Figuren des Wartens. Sie befragt eine Schauspielerin, wie man auf Rollen und Auftritte wartet. Eine Partnervermittlerin erzählt ihr, weshalb die Liebe erst kommt, wenn man sie nicht mehr erstrebt. Oder ein Asylbewerber beschreibt, wie ihn sein jahrelanges Verfahren krank macht. Es gibt viel mehr Wartende, als man vermuten würde. Schließlich ist das Warten auch ein metaphysischer Zustand. Die klassischen Religionen wussten darüber viel zu sagen. Doch das scheint weit zurückzuliegen. Nur noch eine säkulare Schwundstufe entdeckt Gräff bei den Nachbarn, die statt des rituellen Kirchgangs am Sonntagmorgen in langer Schlange vor ihrem Bäcker stehen und dabei endlich zur Ruhe kommen.
In einem Essay von Siegfried Kracauer über „Die Wartenden“ (1922) hätte Gräff dem Gedanken begegnen können, dass das religiöse Warten eine Grundsignatur der Moderne darstellt. Da die heutigen Menschen nicht mehr glauben können, es aber gern würden, bestehe ihr Verhältnis zur Religion in einem „zögernden Geöffnetsein“ – was eine der schönsten und klügsten Umschreibungen für „Warten“ sein dürfte.
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Friederike Gräff: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands. Ch. Links Verlag, Berlin 2014. 189 Seiten, 14,90 Euro.
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