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Ein Handbuch gegen die systematische Desinformation: Thomas K. Bauer, Gerd Gigerenzer und Walter Krämer rücken unserer Ahnungslosigkeit in Sachen Statistik erfolgreich zu Leibe.
Politiker brauchen kein sprachliches Geschick, um die Wirklichkeit zu beschönigen, es reicht, nicht rechnen zu können, oder die Dreistigkeit, sich mit Vorsatz zu verrechnen. Gegen Ende der siebziger Jahre beschloss die mexikanische Regierung, die Kapazität einer vierspurigen Autobahn auf preisgünstige Weise zu erhöhen: Sie ließ die Fahrbahnmarkierungen ändern, statt vier Spuren ließ sie sechs zeichnen, eine Kapazitätssteigerung um fünfzig Prozent. Auf Grund der nun engeren Spuren kam es aber häufiger zu Unfällen, weshalb die Änderungen rückgängig gemacht wurden: Aus sechs Spuren wurden wieder vier Spuren, ein Rückgang um etwa dreiunddreißig Prozent.
Das unnötige Hin und Her hinderte die mexikanische Regierung nicht daran, eine positive Bilanz zu ziehen: Nach einer Kapazitätsteigerung um fünfzig und einer Kapazitätssenkung um dreiunddreißig Prozent bleibe doch immerhin noch eine Differenz von siebzehn Prozent Zuwachs! Man kann an den sechs Fingern einer Hand abzählen, dass an dieser Prozentrechnung irgendetwas nicht stimmt, das ist aber nur so einfach, weil man die absoluten Häufigkeiten, in diesem Fall die Zahl der Fahrspuren, gleich mitgeliefert bekommt.
Man muss sich nicht verrechnen, um mit Prozentzahlen in die Irre zu führen. Von den vielen Beispielen, die Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer und Walter Krämer in "Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet" am Statistiker-Stammtisch zusammentragen, ist wohl die Wirksamkeit des Brustkrebsscreenings das gravierendste. So sei rechnerisch nichts falsch daran, zu behaupten, dass das Brustkrebsscreening die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu sterben, um zwanzig Prozent senkt. Betrachte man aber die absoluten Zahlen, finde man unter tausend Frauen fünf, die an Brustkrebs sterben. Unter den Frauen, die zehn Jahre lang am Screening teilgenommen haben, seien es nur vier.
Eine von tausend Frauen werde also durch das Screening gerettet. Zwanzig Prozent klingt da schon eindrucksvoller. Darüber hinaus bleibe meist unerwähnt, dass durch das Screening hundert von tausend Frauen falsch alarmiert und fünf von tausend sogar fälschlich diagnostiziert und behandelt würden. Gleichzeitig verändere sich durch das Brustkrebsscreening nicht die Wahrscheinlichkeit, an irgendeinem Krebs zu sterben: Sowohl mit als auch ohne regelmäßige Mammographie stürben einundzwanzig von tausend Frauen an Krebs.
Die vielen dargestellten Arten, ein- und dieselben statistischen Ergebnisse auf verschiedene Art zu berichten, laden dazu ein, selbst manipulativ tätig zu werden: "Die Wirksamkeit des Brustkrebsscreenings ist mit einer Risikoreduktion von zwanzig Prozent überwältigend. Hingegen bekommen nur verschwindend geringe 0,5 Prozent der Screeningteilnehmer eine Fehldiagnose." Man sucht sich einfach die Prozente, die einem am besten passen, wechselt die Bezugsgrößen nach Belieben und belässt die absoluten Zahlen im Dunkeln. Absolute Zahlen nämlich sind dem Menschen, im Gegensatz zu Prozenten und Wahrscheinlichkeiten, eine verständliche Sprache und somit zu durchschaubar für Manipulation.
In den abschließenden Sätzen zum Thema Brustkrebsscreening kann man die Motivation der drei Autoren erkennen. Es ist nämlich kein professoraler Ekel vor schlechten Rechnungen, der sie antreibt, sondern die Mündigkeit der Bürger. "Schreiend bunte Screening-Aufrufe erinnern uns an nicht allzu weit zurückliegende Zeiten, in denen Frauen bis auf wenige Ausnahmen ihr ganzes Leben lang bevormundet wurden. Der Brustkrebsmonat Oktober steht noch heute in dieser Tradition: Man redet zwar von Bewusstsein und Aufklärung, liefert aber immer noch systematische Desinformation."
Die Vielfalt der statistischen Desinformation fächern die Autoren in knackigen Kapiteln auf, mit zahlreichen Beispielen, die schon auf ihrer Internetseite unstatistik.de präsentiert wurden. Alle Stolperfallen der Statistik werden dabei ordentlich abgearbeitet. Höhepunkte bietet das Buch dort, wo es über den üblichen Kanon hinausgreift und sich etwa dem Signifikanztest als Fetisch der quantitativen Wissenschaften widmet. Hier werden auf verständliche Weise Probleme erörtert, die selbst viele Wissenschaftler anscheinend nicht verstehen können oder wollen. Genauso lobenswert sind die Erklärungen, wie man mit Risiken vernünftig umgeht, statt sie komplett ausschalten zu wollen. Letzteres klappt nämlich nicht.
Das Buch bietet nichts grundsätzlich Neues, aber dafür etwas grundsätzlich Nötiges. Das Verständnis von Statistiken und die Fähigkeit, sie kritisch zu hinterfragen, wirkt auf den ersten Blick wie ein Orchideenfachwissen, wie ein Unterpunkt der verhassten Mathematik, deren Unkenntnis man sich selbst in gebildeten Kreisen nicht schämen muss. Doch eine Grundausbildung in Statistik ist so wichtig wie Lesen und Schreiben - behauptete H. G. Wells schon 1938. Wenn wir Statistiken nicht verstehen, nicht kritisch einordnen können, fehlt uns ein wichtiges Sinnesorgan für jene Strukturen der Wirklichkeit, die mit bloßem Auge nicht erfassbar sind. Dazu gehören etwa Krankheitsrisiken, Renditeversprechen oder auch die Kennzahlen, an denen sich die Politik orientiert.
Statistik klingt als Fach trocken und als Wort kantig, doch wenn viele Bürger (und insbesondere auch viele Journalisten) sich nicht mehr vom Zahlenzauber der Armuts- und Arbeitslosenquoten, der Pisa-Rankings und Umfrageforschung blenden ließen, hieße dann Statistikkenntnis nicht Mündigkeit, hieße Statistikkenntnis nicht eine bessere Welt?
LEANDER STEINKOPF
Thomas K. Bauer, Gerd Gigerenzer, Walter Krämer: "Warum dick nicht doof macht und Gen-Mais nicht tötet". Über Risiken und
Nebenwirkungen der
Unstatistik. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014. 211 S., br., 16,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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