»Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Seit Sommer 2014 notiert Serhij Zhadan, was ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet widerfährt. Es sind lyrische Momentaufnahmen, die das Essentielle jäh aufscheinen lassen, Kürzestgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll. Wenige Strophen vermitteln etwas von der Tragödie Millionen Einzelner. In den lakonischen Versen ist die Bedeutung Brechts spürbar, dessen Lyrik Zhadan seit der ukrainischen Revolution übersetzt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2017Der Zirkus, in dem die Akrobaten sterben
So entsteht allmählich Geschichte: Gedichte und Prosatexte aus der umkämpften Ostukraine von Serhij Zhadan
Wer verstehen will, was in der Ostukraine geschehen ist, muss die Bücher von Serhij Zhadan lesen. Der Romancier, Dichter und Gründer der Ska-Punk-Band "Hunde im Weltall" stammt aus der Region der jetzigen "Volksrepublik" Luhansk, er war von Anfang an Aktivist der demokratischen Majdan-Revolution, fühlt sich aber zugleich ethisch verpflichtet, immer auch mit der anderen Seite das Gespräch zu suchen. Zhadans Diktion, hart rhythmisiert wie ein Raptext, vergegenwärtigt die rebellische Energie und den Lebenshunger seiner stets über dem sozialen Abgrund balancierenden Helden. Der Krieg gegen die von Russland unterstützten Freischärler, der mittlerweile ins dritte Jahr geht, hat seine Sprache aber auch verändert, bekennt der Autor. Das Gewicht der Ereignisse stutzt Ironie und Sarkasmus zurück, Farben verschwinden, dafür wächst die Last der Verantwortung für das Gesagte. Dass es Zhadan gelungen ist, aus dem Stroh bitterer Erfahrungen das Gold einer neuen literarischen Qualität zu spinnen, davon kann der deutsche Leser sich anhand eines Bandes mit ausgewählten Gedichten und Tagebuchaufzeichnungen aus dem Krieg überzeugen, die Claudia Dathe und Esther Kinsky präzise und poetisch aus dem Ukrainischen übertragen haben.
Das Buch ist gebaut nach dem Prinzip der allmählichen Materialverdichtung wie der Bolero von Maurice Ravel. Es setzt ein mit Porträts zufällig vom beginnenden Krieg Versehrter in frei fluktuierenden Versen. Beispielsweise zweier frommer Adventisten, die von den Bandenführern eingefangen wurden und zu ihrem eigenen Schreck merkten, dass sie nicht bereit waren, für ihren Glauben zu sterben. Oder jenes Vertreters des Provinzprekariats, der auf die kleinkriminelle Bahn rutscht und dem Autor dafür dankt, dass er sich für ihn interessiert.
Dann schildert der Zyklus "Marienleben" mit gereimten Strophen den Kriegszustand als neue Normalität. Unregelmäßige Metren bei gleichbleibender Akzentzahl erhöhen das Tempo und verleihen den Gedichten eine holprige Liedhaftigkeit, die auch ohne Zhadans Rap-Rezitation musikalischen Drive entwickelt. Im rotzigen Balladenton singt der Dichter davon, wie die Zivilgesellschaft weggespült wird, die Händler, Dirnen, Diebe, während die Nichtgeflohenen, Soldaten und ihre Gegner in biblischer Todesnähe zu leben lernen: "Wir haben uns gegen die Flucht entschieden. / Ob fromme Christen, ob heillose Banditen, / keiner kann uns Schlaf oder Wachen gebieten. / Nichts kann uns mehr hindern, einander zu töten."
Schlimm ist es, mitansehen zu müssen, wie Geschichte entsteht, sagt Serhij Zhadan. Das reflektierende Poem "Steine", mit dem der Abschnitt gebundener Rede schließt, schildert die Historie als Zirkusvorstellung, bei der alle Akrobaten am Ende sterben und bei der dem staunenden Publikum sein Geld und seine Schlüssel abhandenkommen. Aber "wer sind die kreischenden Clowns / die entscheiden, ob man unseren Häusern ihr warmes Himbeerblut abzapfen soll?" fragt der lyrische Erzähler, der beobachtet, dass die Amtsträger der "Volksrepubliken" es nicht leiden können, wenn jemand sie ungeschminkt sieht. "Wann werden sie zurückgehen, woher sie gekommen sind / und von wo sie niemand gerufen hat?"
Der Autor ist mehrfach mit seinen Musikern in besetzte Orte und die Ato-Gebiete (für "Antiterroroperation") gefahren, wie die Kriegszone offiziell heißt, um Konzerte zu geben und Hilfsgüter zu liefern. Die gedrängte, pulsierende Prosa seiner Aufzeichnungen von diesen Reisen bildet das Finale. Zhadan zeichnet die Bruchstellen der ukrainischen Gesellschaft nach. In der Stadt Altschewsk, die heute zur Luhansker "Volksrepublik" gehört, fühlten sich im Frühjahr 2014, als die Machtübernahme schleichend begann, die proeuropäischen Unternehmer zunächst noch sicher. Einer hatte sogar eine EU-Fahne an seinem Geschäft gehisst. Firmenchefs warnten ihre Angestellten, wer sich an einer prorussischen Kundgebung beteiligte, würde entlassen. Mit den Separatisten sympathisieren Arbeitslose, Marginalisierte, aber auch Rockmusiker, Bergleute und Studenten.
Als der Schriftsteller sie nach ihren Gründen fragt, kommen die bekannten Schlagworte wie der Kult um den Nationalistenführer Stepan Bandera, der sich aus der Westukraine aufs ganze Land ausbreite. Wobei Zhadan ehrlich notiert, dass beide Seiten, Majdan-Aktivisten wie ihre Opponenten, auf den immer gleichen Argumenten herumritten, Angst hätten, dem anderen zuzuhören, und sich weigerten, ihn zu verstehen. Bekümmert bezeugt er, die Bevölkerung traue den eigenen Soldaten nicht. Und die Miliz, die schon etliche politische Kurswechsel mitgemacht hat, warte auf das Kommando der Chefs. So versteht man den Altschewsker Kumpel, der am liebsten "von allen" unabhängig wäre.
Dabei kann nur die Armee den Frieden garantieren, den alle ersehnen, weiß Zhadan. Gleichsam nebenher gelingen ihm eindrucksvolle Charakterbilder von Militärs. Etwa jenes Soldaten aus Luhansk, eines Majdan-Gegners, der die Demontage des Lenin-Denkmals falsch fand - weil es zur Geschichte gehöre -, und der Wladimir Putin für einen guten Politiker hält, weil er der Ukraine die Krim "sauber" abgenommen habe. Dennoch griff er gegen die Besatzer sofort zur Waffe, mit der schlichten Begründung: "Verrat ist nichts für mich." Oder jenes Kommandeurs einer Freiwilligeneinheit, der mit den zivilen Besuchern Ukrainisch spricht, mit seinen ihm aufrichtig ergebenen Soldaten aus der Region aber in ihrer Muttersprache Russisch. Nie zuvor habe er derart eigenständige Menschen gesehen, resümiert Zhadan, so tiefe Augen, so schwarze Hände. Er habe nicht gewusst, dass Männer so bitterlich weinen können. Einige von ihnen hat er auf eine Weise beschrieben, dass man sie nicht vergisst.
KERSTIN HOLM
Serhij Zhadan: "Warum ich nicht im Netz bin".
Gedichte und Prosa aus dem Krieg.
Aus dem Ukrainischen
von Claudia Dathe und Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 180 S., br. 16,-[Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So entsteht allmählich Geschichte: Gedichte und Prosatexte aus der umkämpften Ostukraine von Serhij Zhadan
Wer verstehen will, was in der Ostukraine geschehen ist, muss die Bücher von Serhij Zhadan lesen. Der Romancier, Dichter und Gründer der Ska-Punk-Band "Hunde im Weltall" stammt aus der Region der jetzigen "Volksrepublik" Luhansk, er war von Anfang an Aktivist der demokratischen Majdan-Revolution, fühlt sich aber zugleich ethisch verpflichtet, immer auch mit der anderen Seite das Gespräch zu suchen. Zhadans Diktion, hart rhythmisiert wie ein Raptext, vergegenwärtigt die rebellische Energie und den Lebenshunger seiner stets über dem sozialen Abgrund balancierenden Helden. Der Krieg gegen die von Russland unterstützten Freischärler, der mittlerweile ins dritte Jahr geht, hat seine Sprache aber auch verändert, bekennt der Autor. Das Gewicht der Ereignisse stutzt Ironie und Sarkasmus zurück, Farben verschwinden, dafür wächst die Last der Verantwortung für das Gesagte. Dass es Zhadan gelungen ist, aus dem Stroh bitterer Erfahrungen das Gold einer neuen literarischen Qualität zu spinnen, davon kann der deutsche Leser sich anhand eines Bandes mit ausgewählten Gedichten und Tagebuchaufzeichnungen aus dem Krieg überzeugen, die Claudia Dathe und Esther Kinsky präzise und poetisch aus dem Ukrainischen übertragen haben.
Das Buch ist gebaut nach dem Prinzip der allmählichen Materialverdichtung wie der Bolero von Maurice Ravel. Es setzt ein mit Porträts zufällig vom beginnenden Krieg Versehrter in frei fluktuierenden Versen. Beispielsweise zweier frommer Adventisten, die von den Bandenführern eingefangen wurden und zu ihrem eigenen Schreck merkten, dass sie nicht bereit waren, für ihren Glauben zu sterben. Oder jenes Vertreters des Provinzprekariats, der auf die kleinkriminelle Bahn rutscht und dem Autor dafür dankt, dass er sich für ihn interessiert.
Dann schildert der Zyklus "Marienleben" mit gereimten Strophen den Kriegszustand als neue Normalität. Unregelmäßige Metren bei gleichbleibender Akzentzahl erhöhen das Tempo und verleihen den Gedichten eine holprige Liedhaftigkeit, die auch ohne Zhadans Rap-Rezitation musikalischen Drive entwickelt. Im rotzigen Balladenton singt der Dichter davon, wie die Zivilgesellschaft weggespült wird, die Händler, Dirnen, Diebe, während die Nichtgeflohenen, Soldaten und ihre Gegner in biblischer Todesnähe zu leben lernen: "Wir haben uns gegen die Flucht entschieden. / Ob fromme Christen, ob heillose Banditen, / keiner kann uns Schlaf oder Wachen gebieten. / Nichts kann uns mehr hindern, einander zu töten."
Schlimm ist es, mitansehen zu müssen, wie Geschichte entsteht, sagt Serhij Zhadan. Das reflektierende Poem "Steine", mit dem der Abschnitt gebundener Rede schließt, schildert die Historie als Zirkusvorstellung, bei der alle Akrobaten am Ende sterben und bei der dem staunenden Publikum sein Geld und seine Schlüssel abhandenkommen. Aber "wer sind die kreischenden Clowns / die entscheiden, ob man unseren Häusern ihr warmes Himbeerblut abzapfen soll?" fragt der lyrische Erzähler, der beobachtet, dass die Amtsträger der "Volksrepubliken" es nicht leiden können, wenn jemand sie ungeschminkt sieht. "Wann werden sie zurückgehen, woher sie gekommen sind / und von wo sie niemand gerufen hat?"
Der Autor ist mehrfach mit seinen Musikern in besetzte Orte und die Ato-Gebiete (für "Antiterroroperation") gefahren, wie die Kriegszone offiziell heißt, um Konzerte zu geben und Hilfsgüter zu liefern. Die gedrängte, pulsierende Prosa seiner Aufzeichnungen von diesen Reisen bildet das Finale. Zhadan zeichnet die Bruchstellen der ukrainischen Gesellschaft nach. In der Stadt Altschewsk, die heute zur Luhansker "Volksrepublik" gehört, fühlten sich im Frühjahr 2014, als die Machtübernahme schleichend begann, die proeuropäischen Unternehmer zunächst noch sicher. Einer hatte sogar eine EU-Fahne an seinem Geschäft gehisst. Firmenchefs warnten ihre Angestellten, wer sich an einer prorussischen Kundgebung beteiligte, würde entlassen. Mit den Separatisten sympathisieren Arbeitslose, Marginalisierte, aber auch Rockmusiker, Bergleute und Studenten.
Als der Schriftsteller sie nach ihren Gründen fragt, kommen die bekannten Schlagworte wie der Kult um den Nationalistenführer Stepan Bandera, der sich aus der Westukraine aufs ganze Land ausbreite. Wobei Zhadan ehrlich notiert, dass beide Seiten, Majdan-Aktivisten wie ihre Opponenten, auf den immer gleichen Argumenten herumritten, Angst hätten, dem anderen zuzuhören, und sich weigerten, ihn zu verstehen. Bekümmert bezeugt er, die Bevölkerung traue den eigenen Soldaten nicht. Und die Miliz, die schon etliche politische Kurswechsel mitgemacht hat, warte auf das Kommando der Chefs. So versteht man den Altschewsker Kumpel, der am liebsten "von allen" unabhängig wäre.
Dabei kann nur die Armee den Frieden garantieren, den alle ersehnen, weiß Zhadan. Gleichsam nebenher gelingen ihm eindrucksvolle Charakterbilder von Militärs. Etwa jenes Soldaten aus Luhansk, eines Majdan-Gegners, der die Demontage des Lenin-Denkmals falsch fand - weil es zur Geschichte gehöre -, und der Wladimir Putin für einen guten Politiker hält, weil er der Ukraine die Krim "sauber" abgenommen habe. Dennoch griff er gegen die Besatzer sofort zur Waffe, mit der schlichten Begründung: "Verrat ist nichts für mich." Oder jenes Kommandeurs einer Freiwilligeneinheit, der mit den zivilen Besuchern Ukrainisch spricht, mit seinen ihm aufrichtig ergebenen Soldaten aus der Region aber in ihrer Muttersprache Russisch. Nie zuvor habe er derart eigenständige Menschen gesehen, resümiert Zhadan, so tiefe Augen, so schwarze Hände. Er habe nicht gewusst, dass Männer so bitterlich weinen können. Einige von ihnen hat er auf eine Weise beschrieben, dass man sie nicht vergisst.
KERSTIN HOLM
Serhij Zhadan: "Warum ich nicht im Netz bin".
Gedichte und Prosa aus dem Krieg.
Aus dem Ukrainischen
von Claudia Dathe und Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 180 S., br. 16,-[Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wer verstehen will, was in der Ostukraine geschehen ist, muss die Bücher von Serhij Zhadan lesen.« Kerstin Holm Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170221