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Der frühere UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler rechnet mit den Vereinten Nationen ab
Soll man ihn Rebell nennen, Querkopf, einen ideologischen Eiferer, oder - wie seinerzeit der französische Journalist von Le Monde - "einen Pantoffellecker al-Gaddafis"? Oder aber, wie er sich selbst wohl am liebsten sehen würde, einen Menschenrechtsaktivisten? Womöglich steckt von allem etwas in Jean Ziegler. Eines ist gewiss: Er ist ein außerordentlich streitbarer - freilich auch umstrittener - Zeitgenosse und ein Autor mit zum Teil drastischen Formulierungen, die freilich auch - politisch durchaus unkorrekt - ausdrücken, was Ziegler meint. Sprunghaft, halb anekdotisch, sich immer wieder selbst oder lange Passagen aus UN-Resolutionen oder der Präambel der Charta der Vereinten Nationen zitierend, wandert er durch manche Höhen und viele Tiefen seines Daseins als Mitarbeiter der Vereinten Nationen.
Freilich, mit Jean Ziegler, diesem als Hans Ziegler 1934 in Thun geborenen Schweizer Soziologen und Politiker (der seinen französischen Namen nach eigener Aussage von Simone de Beauvoir erhalten hat), spricht kein Intellektueller, sondern ein Praktiker und Kritiker. Und sein Buch ist auch keineswegs eine Analyse, sondern eher eine teils apologetische, teils sentimentalische Rückschau auf "gewonnene und verlorene Kämpfe". Diese trifft dafür aber in mancher Hinsicht auch umso schärfer und beschreibt das, was Ziegler ein "Universum struktureller Gewalt" nennt, die "kannibalische Weltordnung", die "Geierfonds", die imperialistische Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika und jener Staaten, die Kriege und Hinterhältigkeiten nicht scheuen, um ihre Interessen durchzusetzen. Auch diesmal will er wieder, wie mit seinen Büchern zuvor, "auf nationaler wie internationale Ebene gegen das "Blutgeld" kämpfen, gegen all jene beispielsweise, die durch Mithilfe der "Ali-Baba-Höhlen der Genfer, Züricher und Tessiner Banken" jene Kapitalflucht praktizieren, durch die "im Kongo, in Bangladesh, Indien, Guatemala, Mexiko und anderen Ländern jedes Jahr Zehntausende von Kindern an Hunger, Medikamenten-Mangel, Not und Verzweiflung" sterben.
Ziegler hat natürlich dank seiner Aufgaben als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, als Mitglied der UN-Task Force für humanitäre Hilfe, als Mitglied des Beratendes Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats die Möglichkeit, hinter die Kulissen der Organisationen zu gucken. Dabei erkennt er mehrere Grundübel, vor allem aber zwei: Eines betrifft die Anfälligkeit der UN für die Machteinflüsse der großen Mitspieler Amerika, China, Russland et cetera; das andere betrifft einen Konstruktionsfehler mit fatalen Folgen: "Für die UNO ist das Vetorecht heute eine Geißel", schreibt er. "Es ist schuld an der Ohnmacht der Vereinten Nationen. Genauer, an ihrer Unfähigkeit, ihre wichtigste Funktion wahrzunehmen, das heißt, für die kollektive Sicherheit auf unserem Planeten zu sorgen."
Zieglers Darstellung enthält alles in allem keine neuen Fakten; sein Feldzug "im Interesse der Wiedergeburt einer dahinsiechenden UNO" gegen deren Feinde ist aber eine "Gedächtnisarbeit", die ihm offenbar helfen soll, in der Vergänglichkeit des eigenen wie des menschlichen Lebens allgemein Spuren des Sinnhaften festzuhalten. So lässt sich dieses durch persönliche Begegnungen, Reflexionen und Anekdoten strukturierte Buch als eine Art Beispielsammlung der sich selbst produzierenden Widersprüche vergangener und heutiger Bemühungen um Völkerverständigung und Rettung der Notleidenden verstehen.
Politisch korrekt ist Ziegler, der sein politisches Vorgehen "subversive Integration" nennt, dabei nicht, und wenn es einen Vorzug dieses Buches gibt, dann besteht er darin, Namen und Vorgänge zu nennen: den "furchtbaren Außenminister" der Vereinigten Staaten Henry Kissinger, den "Prototyp des stumpfsinnigen, grausamen, zynischen und verlogenen Militärdiktators" Abd al Fattah al Sisi, nur um Beispiele zu nennen, oder den Völkermord in Ruanda 1994 und die Genozide auf dem Balkan 1995. Ja selbst die "eher undurchsichtigen Begleitumstände, die die Wahl des Generalsekretärs der UNO bestimmen", deren Wahl wie die der meisten oberen Chargen der Weltorganisation "das State Departement und die CIA . . . unauffällig, aber höchst wirksam überwachen".
Gelegentlich nannte man derartige Kritik an internen oder sonst irgendwie verschleierten Angelegenheiten Nestbeschmutzung, sofern man aus dem eigenen Stall kam; heute denkt man eher an Whistleblower oder sonstige Aufdecker, die "illegales Handeln, Missstände oder Gefahren für Mensch und Umwelt nicht länger schweigend hinnehmen, sondern aufdecken. Sie tun dies intern innerhalb ihres Betriebes, ihrer Dienststelle oder Organisation oder auch extern gegenüber den zuständigen Behörden, Dritten oder auch der Presse" - so die Selbstaussage eines Whistleblower-Netzwerkes. Vermutlich möchte auch Jean Ziegler als ein der Allgemeinheit verantwortlicher Kämpfer für Wahrheit und Menschenrecht wahrgenommen werden. Ein Whistleblower aber ist er schon deswegen nicht, weil sich viele von uns an die Oberflächen der Tatsachen und Fakten, von denen er berichtet, dumpf erinnern. Möge auch dieses Buch wieder aufschrecken.
ANDREAS WANG
Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. C. Bertelsmann Verlag, München 2017. 320 S., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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