Die »Dreizehn alltäglichen Phantasiestücke«, mit denen Karl Heinz Bohrer nach seiner wissenschaftlichen Studie über den »Hass« zu kleineren, handlichen Formen übergeht, sind so alltäglich nicht: Sie zeigen die Handschrift eines ruhelosen Intellektuellen, der in der konzentrierten Form kurzer Prosa über ausgewählte Befindlichkeiten, Vorlieben, Emphatisierungen, Verstörungen, auch Antipathien eines langen Lebens Auskunft gibt. Mit einem suggestiven Erlebnisbericht über eine Bahnfahrt nach Brüssel - auf dem Höhepunkt der Hitzeperiode des Jahres 2018 -, die in einer apokalyptischen Erfahrung buchstäblich zu entgleisen droht, setzt Bohrer den Ton, bevor es weitergeht zu den Fundamenten unseres Gefühlslebens: zu Herkunft und Wesensart des Ressentiments etwa, zu den Wurzeln von Freundschaft und Entfremdung, zu Reflexionen über Isolation, Einsamkeit und Alleinsein und zu narzisstisch gespiegelter Selbstwahrnehmung.
So entfaltet sich ein reiches Panorama ganz unterschiedlich gestimmter Gedanken und Erinnerungen, in denen der Autor, wie von ihm gewohnt, kein Blatt vor den Mund nimmt und den Leser das Alltägliche denn doch als die aufregende Begegnung mit dem schlechthin Fremden erfahren lässt.
So entfaltet sich ein reiches Panorama ganz unterschiedlich gestimmter Gedanken und Erinnerungen, in denen der Autor, wie von ihm gewohnt, kein Blatt vor den Mund nimmt und den Leser das Alltägliche denn doch als die aufregende Begegnung mit dem schlechthin Fremden erfahren lässt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Fridtjof Küchemann ist lange beschäftigt mit diesen Fantasiestücken des Publizisten Karl Heinz Bohrer. Wenn der Autor vom Persönlichen (Erfahrungen als Messdiener, im Fußballstadion und unter Kreuzrittern) zum Allgemeinen gelangt, manchmal in einem Stück Pirouetten drehend, Sprünge vollführend, von der Kinderwelt zur geisteswissenschaftlichen Analyse gleitet, fallen für den Rezensenten Erkenntnisse ab, aber auch anmutige Bilder von "literarischer Intensität". Dass Bohrer die Anekdote wie die Kulturgeschichte gleich gut beherrscht, dafür ist der Band ein schöner Beweis, findet Küchemann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Aus der Tiefe des Hallraumes
Ein lakonischer Titel und die große Kunst unbändigen Denkens: Karl Heinz Bohrers Phantasiestücke "Was alles so vorkommt"
Von Fridtjof Küchemann
Es war vielleicht nicht die größte Prägung, die Karl Heinz Bohrer in seinem journalistischen und essayistischen Schaffen gelungen war, aber wohl die populärste: "Aus der Tiefe des Raumes" sei Günter Netzer plötzlich vorgestoßen, hatte Bohrer Ende Oktober 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Fortan wurde der Mittelfeldspieler in Interviews darauf angesprochen.
Und Bohrer? Von den "dreizehn alltäglichen Phantasiestücken", die sein Band "Was alles so vorkommt" versammelt, keine sechs Wochen nach dem Tod des Publizisten am 4. August dieses Jahres Mitte September veröffentlicht, ist eines "Jugendliche Kampfspiele" überschrieben. Es setzt beim Fußball an, um nach einer spektakulären intellektuellen Pirouette wieder dort anzukommen, enthält sich allerdings elegant noch jeder Anspielung auf das berühmte Bild.
Von der eigenen Begeisterung für den "öffentlichen aggressiven Vorgang" des Spiels im Alter von zehn Jahren kommt Bohrer auf die Lektüre von Indianerbüchern, von gemeinsamen Gesängen bei Fußballfahrten mit Klassenkameraden auf die Kämpfe der Franken, von derlei Tapferkeitserzählungen zu den Engländern und Amerikanern im Nachkriegsdeutschland, in dem die Kämpfe in der Normandie nicht nur dem 1932 in Köln geborenen Karl Heinz Bohrer "frisch in Erinnerung" waren: "Tapferkeit stand ganz oben auf der Werteskala. Wieso nun aber nicht mehr die Tapferkeit der deutschen Soldaten im Kampf gegen die ganze Welt?"
Zur Faszination für die Indianer und Franken sei später die für Kreuzritter hinzugetreten, erinnert sich Bohrer weiter - um mit Verweis auf deren schwarzes Kreuz auf weißem Mantel auf das Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft zu kommen: Die Farben sind vom Kurfürstentum Brandenburg ans mithilfe der Ritter des Deutschen Ordens unterworfene Preußen weitergegeben worden, von dort war es ein geschichtlich absehbarer Schritt und ist es doch eine heute überraschende historische Kontinuität. Auf gerade einmal dreizehn Seiten stößt Karl Heinz Bohrer hier in die Tiefe des geschichtlichen Hallraumes, mischt autobiographische Skizzen, die in wenigen Zeilen zu literarischer Intensität finden, mit kleinen Szenen und mit analytischen Ansätzen zu Moden des Fußballspiels in Verbindung zu seinem Publikum und zu jugendlicher Moral.
Die Alltäglichkeiten handelnder Menschen hinter sich zu lassen sei E. T. A. Hoffmanns Ansatz in seinen "Phantasie- und Nachtstücken" gewesen, stellt Bohrer im Aufsatz "Schlaflos" fest, um darüber auf sich selbst zu kommen: Seine "träumende Schlaflosigkeit" habe das "Pathos einer aktiven Bewegung", sei ergänzt um "etwas Produktives, und dessen Produkt hieß: Phantasiestück". Das kennzeichnet Bohrers Verfahren ganz gut: mal Sprung, mal Gleiten aus einer Erinnerung in die nächste, aus der Reflexion in den kulturgeschichtlichen Beleg, auch im Unerwarteten anmutig, mutig in der Ungeschütztheit mancher Erinnerungen, von denen aus er darauf kommt, letztlich von sich selbst abzusehen. Schließlich haben die meisten der in "Was alles so vorkommt" versammelten Stücke zwar Ausgangspunkte oder Anker im Autobiographischen, doch seine Lebenserinnerungen hat der Publizist und Lehrer in den beiden Bänden "Granatsplitter" (2012) und "Jetzt" (2017) bereits vorgelegt.
In "Die kleine Seejungfrau" erinnert sich Bohrer an das Bild in einem Kinderbuch: "Nicht üppig, aber doch wohlgeformt und anlockend" habe das Mädchen mit dem Fischschwanz in Andersens Märchen aus den Wellen geschaut und den Jungen "zum ersten Mal an die Liebe denken" lassen. Als Messdiener habe er, in der Volksschule nur unter Jungen, beim Warten auf das Kollektekörbchen am Ende einer Kirchenbank erstmals Gelegenheit gehabt, Mädchen verstohlen zu betrachten. Die Bildsprache des Hohelieds in der Bibel hat ihm nicht recht einleuchten wollen - Brüste sehen doch nicht aus wie Rehkälbchen! -, das Interesse des Beichtvaters an Details der Beobachtungen und Vorstellungen des Jungen waren diesem unangenehm. Schließlich findet er ein Buch über die Südsee mit einem Foto tanzender Nackter, und das Phantasiestück endet mit diesem Wink des Zaunpfahls, "endlich die Phantasie hinter sich zu lassen".
In "Alleinsein im Zimmer" stellt Bohrer fest, zu Hause sei er "vor dem Lesen nicht gefeit", um zu bedauern, dass diese Tätigkeit "zu sehr zum Leben anregt vor der eigenen Tür, im Jenseits des isolierenden Zimmers". Das ganze Unglück des Menschen, zitiert er die "Pensées" Pascals, liege an dessen Unfähigkeit, "ruhig in einem Zimmer bleiben zu können". Was heißt das in einer Zeit wie unserer, die über Monate den Menschen nichts anderes abverlangt?
Es ist ein so lustvolles wie widerständiges Denken, das Karl Heinz Bohrer in "Was alles so vorkommt" offenbart. Am stärksten wirkt es in den Texten, die sich nicht einzig aus Belesenheit und Kenntnisreichtum des Verfassers speisen, sondern auch erzählen. Er habe, soll Marcel Reich-Ranicki, sein Nachfolger als Literaturchef der F.A.Z., über Karl Heinz Bohrer gesagt haben, "mit dem Rücken zum Publikum" redigiert. Hat er auch mit dem Rücken zu seinen Lesern geschrieben? Höchstens in dem Sinn, wie auch ein Dirigent mit dem Rücken zum Publikum wirkt, die Unmittelbarkeit seiner Musiker über den eigenen Kontakt mit den Konzertbesuchern stellend: Was Bohrer hier orchestriert, die klangliche Vielfalt und Nuanciertheit, die Spannweite zwischen Kulturgeschichte und Anekdote, erreicht den Leser direkt und beschäftigt ihn lange.
Karl Heinz Bohrer: "Was alles so vorkommt". Dreizehn alltägliche Phantasiestücke.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 184 S., geb.
18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein lakonischer Titel und die große Kunst unbändigen Denkens: Karl Heinz Bohrers Phantasiestücke "Was alles so vorkommt"
Von Fridtjof Küchemann
Es war vielleicht nicht die größte Prägung, die Karl Heinz Bohrer in seinem journalistischen und essayistischen Schaffen gelungen war, aber wohl die populärste: "Aus der Tiefe des Raumes" sei Günter Netzer plötzlich vorgestoßen, hatte Bohrer Ende Oktober 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Fortan wurde der Mittelfeldspieler in Interviews darauf angesprochen.
Und Bohrer? Von den "dreizehn alltäglichen Phantasiestücken", die sein Band "Was alles so vorkommt" versammelt, keine sechs Wochen nach dem Tod des Publizisten am 4. August dieses Jahres Mitte September veröffentlicht, ist eines "Jugendliche Kampfspiele" überschrieben. Es setzt beim Fußball an, um nach einer spektakulären intellektuellen Pirouette wieder dort anzukommen, enthält sich allerdings elegant noch jeder Anspielung auf das berühmte Bild.
Von der eigenen Begeisterung für den "öffentlichen aggressiven Vorgang" des Spiels im Alter von zehn Jahren kommt Bohrer auf die Lektüre von Indianerbüchern, von gemeinsamen Gesängen bei Fußballfahrten mit Klassenkameraden auf die Kämpfe der Franken, von derlei Tapferkeitserzählungen zu den Engländern und Amerikanern im Nachkriegsdeutschland, in dem die Kämpfe in der Normandie nicht nur dem 1932 in Köln geborenen Karl Heinz Bohrer "frisch in Erinnerung" waren: "Tapferkeit stand ganz oben auf der Werteskala. Wieso nun aber nicht mehr die Tapferkeit der deutschen Soldaten im Kampf gegen die ganze Welt?"
Zur Faszination für die Indianer und Franken sei später die für Kreuzritter hinzugetreten, erinnert sich Bohrer weiter - um mit Verweis auf deren schwarzes Kreuz auf weißem Mantel auf das Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft zu kommen: Die Farben sind vom Kurfürstentum Brandenburg ans mithilfe der Ritter des Deutschen Ordens unterworfene Preußen weitergegeben worden, von dort war es ein geschichtlich absehbarer Schritt und ist es doch eine heute überraschende historische Kontinuität. Auf gerade einmal dreizehn Seiten stößt Karl Heinz Bohrer hier in die Tiefe des geschichtlichen Hallraumes, mischt autobiographische Skizzen, die in wenigen Zeilen zu literarischer Intensität finden, mit kleinen Szenen und mit analytischen Ansätzen zu Moden des Fußballspiels in Verbindung zu seinem Publikum und zu jugendlicher Moral.
Die Alltäglichkeiten handelnder Menschen hinter sich zu lassen sei E. T. A. Hoffmanns Ansatz in seinen "Phantasie- und Nachtstücken" gewesen, stellt Bohrer im Aufsatz "Schlaflos" fest, um darüber auf sich selbst zu kommen: Seine "träumende Schlaflosigkeit" habe das "Pathos einer aktiven Bewegung", sei ergänzt um "etwas Produktives, und dessen Produkt hieß: Phantasiestück". Das kennzeichnet Bohrers Verfahren ganz gut: mal Sprung, mal Gleiten aus einer Erinnerung in die nächste, aus der Reflexion in den kulturgeschichtlichen Beleg, auch im Unerwarteten anmutig, mutig in der Ungeschütztheit mancher Erinnerungen, von denen aus er darauf kommt, letztlich von sich selbst abzusehen. Schließlich haben die meisten der in "Was alles so vorkommt" versammelten Stücke zwar Ausgangspunkte oder Anker im Autobiographischen, doch seine Lebenserinnerungen hat der Publizist und Lehrer in den beiden Bänden "Granatsplitter" (2012) und "Jetzt" (2017) bereits vorgelegt.
In "Die kleine Seejungfrau" erinnert sich Bohrer an das Bild in einem Kinderbuch: "Nicht üppig, aber doch wohlgeformt und anlockend" habe das Mädchen mit dem Fischschwanz in Andersens Märchen aus den Wellen geschaut und den Jungen "zum ersten Mal an die Liebe denken" lassen. Als Messdiener habe er, in der Volksschule nur unter Jungen, beim Warten auf das Kollektekörbchen am Ende einer Kirchenbank erstmals Gelegenheit gehabt, Mädchen verstohlen zu betrachten. Die Bildsprache des Hohelieds in der Bibel hat ihm nicht recht einleuchten wollen - Brüste sehen doch nicht aus wie Rehkälbchen! -, das Interesse des Beichtvaters an Details der Beobachtungen und Vorstellungen des Jungen waren diesem unangenehm. Schließlich findet er ein Buch über die Südsee mit einem Foto tanzender Nackter, und das Phantasiestück endet mit diesem Wink des Zaunpfahls, "endlich die Phantasie hinter sich zu lassen".
In "Alleinsein im Zimmer" stellt Bohrer fest, zu Hause sei er "vor dem Lesen nicht gefeit", um zu bedauern, dass diese Tätigkeit "zu sehr zum Leben anregt vor der eigenen Tür, im Jenseits des isolierenden Zimmers". Das ganze Unglück des Menschen, zitiert er die "Pensées" Pascals, liege an dessen Unfähigkeit, "ruhig in einem Zimmer bleiben zu können". Was heißt das in einer Zeit wie unserer, die über Monate den Menschen nichts anderes abverlangt?
Es ist ein so lustvolles wie widerständiges Denken, das Karl Heinz Bohrer in "Was alles so vorkommt" offenbart. Am stärksten wirkt es in den Texten, die sich nicht einzig aus Belesenheit und Kenntnisreichtum des Verfassers speisen, sondern auch erzählen. Er habe, soll Marcel Reich-Ranicki, sein Nachfolger als Literaturchef der F.A.Z., über Karl Heinz Bohrer gesagt haben, "mit dem Rücken zum Publikum" redigiert. Hat er auch mit dem Rücken zu seinen Lesern geschrieben? Höchstens in dem Sinn, wie auch ein Dirigent mit dem Rücken zum Publikum wirkt, die Unmittelbarkeit seiner Musiker über den eigenen Kontakt mit den Konzertbesuchern stellend: Was Bohrer hier orchestriert, die klangliche Vielfalt und Nuanciertheit, die Spannweite zwischen Kulturgeschichte und Anekdote, erreicht den Leser direkt und beschäftigt ihn lange.
Karl Heinz Bohrer: "Was alles so vorkommt". Dreizehn alltägliche Phantasiestücke.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 184 S., geb.
18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es ist ein so lustvolles wie widerständiges Denken, das Karl Heinz Bohrer in Was alles so vorkommt offenbart. ... Was Bohrer hier orchestriert, die klangliche Vielfalt und Nuanciertheit, die Spannweite zwischen Kulturgeschichte und Anekdote, erreicht den Leser direkt und beschäftigt ihn lange.« Fridtjof Küchemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211127