»Das Familienmemoir eines großen Historikers und feinfühligen Schriftstellers mit dem Blick für die menschlichen Details.« Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger
Als sein Vater stirbt und er herausfinden soll, wie seine Großeltern bestattet wurden, tut Mark Mazower, was ein Historiker am besten kann: Er macht sich an die Archivarbeit. Schnell wird ihm klar, wie wenig er über seine Familie weiß. Und so beginnt Mazower, die bewegten Biografien seiner Vorfahren zu erforschen. Etwa die seines Großvaters Max, der als Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Vilnius revolutionäre Schriften verbreitete, bevor er vor den Wirren des russischen Bürgerkriegs nach Großbritannien floh – der vier Sprachen beherrschte und später doch kein Wort über seine Vergangenheit verlor. Oder die von Max’ unehelichem Sohn, André, dem schwarzen Schaf der Familie, der mehrmals seine Nationalität wechselte, sich zeitweise im faschistischen Spanien niederließ und eine verschwörungstheoretische Abhandlung über die angeblichen Machenschaften eines jüdischen Geheimbundes verfasste.
Mit großer Einfühlsamkeit zeichnet Mazower die Lebenswege seiner Angehörigen nach, die kreuz und quer über die historische Landkarte unseres Kontinents verlaufen: von der Sowjetunion während des Großen Terrors über das besetzte Paris bis in die neue Heimat im Norden Londons. Mit Was du nicht erzählt hast gelingt ihm etwas Außergewöhnliches: ein berührendes Familienmemoir, das zugleich die wechselhafte Geschichte eines ganzen Jahrhunderts erzählt.
Als sein Vater stirbt und er herausfinden soll, wie seine Großeltern bestattet wurden, tut Mark Mazower, was ein Historiker am besten kann: Er macht sich an die Archivarbeit. Schnell wird ihm klar, wie wenig er über seine Familie weiß. Und so beginnt Mazower, die bewegten Biografien seiner Vorfahren zu erforschen. Etwa die seines Großvaters Max, der als Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Vilnius revolutionäre Schriften verbreitete, bevor er vor den Wirren des russischen Bürgerkriegs nach Großbritannien floh – der vier Sprachen beherrschte und später doch kein Wort über seine Vergangenheit verlor. Oder die von Max’ unehelichem Sohn, André, dem schwarzen Schaf der Familie, der mehrmals seine Nationalität wechselte, sich zeitweise im faschistischen Spanien niederließ und eine verschwörungstheoretische Abhandlung über die angeblichen Machenschaften eines jüdischen Geheimbundes verfasste.
Mit großer Einfühlsamkeit zeichnet Mazower die Lebenswege seiner Angehörigen nach, die kreuz und quer über die historische Landkarte unseres Kontinents verlaufen: von der Sowjetunion während des Großen Terrors über das besetzte Paris bis in die neue Heimat im Norden Londons. Mit Was du nicht erzählt hast gelingt ihm etwas Außergewöhnliches: ein berührendes Familienmemoir, das zugleich die wechselhafte Geschichte eines ganzen Jahrhunderts erzählt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2018Gehen, bevor es zu spät ist
Mark Mazower besichtigt seine Familiengeschichte
Es gibt in den Gesellschaften Osteuropas ein Milieu, für das im Westen das Pendant fehlt - die Intelligenzija. Diese Gesellschaftsschicht ist eine Art Zwitter aus Bohème und Adelssalon, ein familiäres und intellektuelles Netzwerk von Schriftstellern, Professoren, Malern, auch Unternehmern, das seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der meist tyrannisch verfassten Staatsmacht Werte der kulturellen Demokratie gegenüberstellt hat und aus dieser geistigen Konfrontation die Mentalität eines kulturellen Dienstadels ableitete: "Für unsere Freiheit und Eure!" lautete der Slogan der polnischen Aufständischen im neunzehnten Jahrhundert. "Die typische Figur des polnischen Patriotismus", schrieb der britische Historiker unseres östlichen Nachbarlands Norman Davies, "war an der Wende zum zwanzigsten Jahrhunderts nicht der Revolutionär mit einer Pistole in der Tasche, sondern die junge Dame aus guter Familie mit einem Schulbuch unter ihrem Schal."
Der amerikanisch-britische Zeithistoriker Mark Mazower hat wichtige Bücher über balkanische Gesellschaften und über die Vereinten Nationen vorgelegt; im Jahr 2000 erschien sein monumentales Buch "Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert", mit dem er auch in Deutschland bekannt wurde. Mazower entstammt einer jüdischen Intelligenzija-Familie, deren Geschichte er in dem Memoirenbuch "Was du nicht erzählt hast" nachgeht.
Im Zentrum steht sein Großvater Max Mazower. Der war zwischen den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 einerseits ein erfolgreicher kaufmännischer Angestellter, andererseits ein führender Genosse des "Bunds", der sozialistischen Partei der Juden in der russischen Tscherta osiedledoschtschi (Ansiedlungsrayon) - einem mit dem Osten der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita weitgehend identischen Landstrich, wo seit Katharina II. zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Juden siedelten - und auch nur dort siedeln durften. Juden stellten in den späteren "Bloodlands" gute zehn Prozent der Bevölkerung und prägten vor allem in Großstädten wie Vilnius, Minsk, Warschau, Lodz und Lemberg Gesellschaft und geistiges Leben.
Der "Bund" war jiddischsprachig und marxistisch, eine Fraktion der Russischen Sozialdemokratie, aber im Gegensatz zu den Bolschewiki eine ausgesprochene Massenbewegung. Er lehnte das Kaderprinzip Lenins ab und war ein natürlicher Verbündeter der Menschewiki, die nach 1917 jedoch nur in Georgien ein paar Jahre lang die politischen Geschicke prägten und von den St. Petersburger Putschisten 1917 auf den "Abfallhaufen der Geschichte" befördert wurden - so Lew Trotzki 1917 in der von den Sowjets auseinandergejagten verfassunggebenden Versammlung.
Der demokratische Marxismus des "Bunds" blieb ein blinder Entwicklungszweig der sich bald totalitär weiterentwickelnden russischen Revolution - wenn auch das Diktum Rosa Luxemburgs, die aus dem "Bund" kam, Freiheit sei immer die der Andersdenkenden, ein Echo des freiheitlichen jüdisch-russischen Marxismus darstellt. Max Mazower kannte die Bolschewiki. Er wusste, was kommen würde. Und im Gegensatz zu anderen Bundisten, die sich den Bolschewisten anschlossen und in deren Säuberungen ums Leben kamen, zog er die Konsequenz aus seiner Erkenntnis, dass der freiheitliche Sozialismus in Russland nach 1917 keine Chance mehr hatte. Max reiste nach London, kaufte ein Haus nahe Hampstead Heath und verbrachte den Rest seines Lebens als Manager einer Schreibmaschinenfabrik.
Die russisch-jüdische Intelligenzija verwandelte sich in ein internationales, in ein britisches Milieu: Mark Mazower verfolgt die Modernisierung und Verwestlichung seiner Familie mit faszinierenden Porträts etwa seines Onkels André, eines vermutlich unehelichen Sohns von Max (Walter Benjamin schildert einen Besuch bei seiner Mutter im "Moskauer Tagebuch"), der in Spanien eine rechtskonservative Lebenswende nahm, oder seiner glamourösen Tante Ira, einer Redakteurin von Modemagazinen und Autorin von Erfolgsromanen. Die amerikanische Anarchistin und Feministin Emma Goldmann und Norman Cohen, der Historiker des frühneuzeitlichen europäischen Millenarismus, waren Freunde und Nachbarn. Der sozialrevolutionäre Impuls des Großvaters von Mark Mazower verwirklichte sich im Engagement seines Vaters in der Labour Party und im wissenschaftlichen Werk seines Enkels.
Die Zeit seines Vaters in Oxford und in der Armee werden Anlass zu dichten Beschreibungen untergegangener Lebenswelten. Der revolutionäre Messias kam nicht, das Leben ging weiter. Als opakes Zentrum aber steht das Schweigen des Großvaters Max im Zentrum dieser Familiengeschichte. Seine Entscheidung, einer totalitären Wendung der sozialen Bewegung, die seine Jugend prägte, in eine historisch unheroische Bürgerlichkeit auszuweichen, wird erkennbar als eine wenig bedachte Möglichkeit, mit der blutigen Geschichte des letzten Jahrhunderts ehrenhaft umzugehen.
STEPHAN WACKWITZ
Mark Mazower: "Was du nicht erzählt hast". Meine Familie im 20. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 371 S., geb., 26.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mark Mazower besichtigt seine Familiengeschichte
Es gibt in den Gesellschaften Osteuropas ein Milieu, für das im Westen das Pendant fehlt - die Intelligenzija. Diese Gesellschaftsschicht ist eine Art Zwitter aus Bohème und Adelssalon, ein familiäres und intellektuelles Netzwerk von Schriftstellern, Professoren, Malern, auch Unternehmern, das seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der meist tyrannisch verfassten Staatsmacht Werte der kulturellen Demokratie gegenüberstellt hat und aus dieser geistigen Konfrontation die Mentalität eines kulturellen Dienstadels ableitete: "Für unsere Freiheit und Eure!" lautete der Slogan der polnischen Aufständischen im neunzehnten Jahrhundert. "Die typische Figur des polnischen Patriotismus", schrieb der britische Historiker unseres östlichen Nachbarlands Norman Davies, "war an der Wende zum zwanzigsten Jahrhunderts nicht der Revolutionär mit einer Pistole in der Tasche, sondern die junge Dame aus guter Familie mit einem Schulbuch unter ihrem Schal."
Der amerikanisch-britische Zeithistoriker Mark Mazower hat wichtige Bücher über balkanische Gesellschaften und über die Vereinten Nationen vorgelegt; im Jahr 2000 erschien sein monumentales Buch "Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert", mit dem er auch in Deutschland bekannt wurde. Mazower entstammt einer jüdischen Intelligenzija-Familie, deren Geschichte er in dem Memoirenbuch "Was du nicht erzählt hast" nachgeht.
Im Zentrum steht sein Großvater Max Mazower. Der war zwischen den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 einerseits ein erfolgreicher kaufmännischer Angestellter, andererseits ein führender Genosse des "Bunds", der sozialistischen Partei der Juden in der russischen Tscherta osiedledoschtschi (Ansiedlungsrayon) - einem mit dem Osten der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita weitgehend identischen Landstrich, wo seit Katharina II. zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Juden siedelten - und auch nur dort siedeln durften. Juden stellten in den späteren "Bloodlands" gute zehn Prozent der Bevölkerung und prägten vor allem in Großstädten wie Vilnius, Minsk, Warschau, Lodz und Lemberg Gesellschaft und geistiges Leben.
Der "Bund" war jiddischsprachig und marxistisch, eine Fraktion der Russischen Sozialdemokratie, aber im Gegensatz zu den Bolschewiki eine ausgesprochene Massenbewegung. Er lehnte das Kaderprinzip Lenins ab und war ein natürlicher Verbündeter der Menschewiki, die nach 1917 jedoch nur in Georgien ein paar Jahre lang die politischen Geschicke prägten und von den St. Petersburger Putschisten 1917 auf den "Abfallhaufen der Geschichte" befördert wurden - so Lew Trotzki 1917 in der von den Sowjets auseinandergejagten verfassunggebenden Versammlung.
Der demokratische Marxismus des "Bunds" blieb ein blinder Entwicklungszweig der sich bald totalitär weiterentwickelnden russischen Revolution - wenn auch das Diktum Rosa Luxemburgs, die aus dem "Bund" kam, Freiheit sei immer die der Andersdenkenden, ein Echo des freiheitlichen jüdisch-russischen Marxismus darstellt. Max Mazower kannte die Bolschewiki. Er wusste, was kommen würde. Und im Gegensatz zu anderen Bundisten, die sich den Bolschewisten anschlossen und in deren Säuberungen ums Leben kamen, zog er die Konsequenz aus seiner Erkenntnis, dass der freiheitliche Sozialismus in Russland nach 1917 keine Chance mehr hatte. Max reiste nach London, kaufte ein Haus nahe Hampstead Heath und verbrachte den Rest seines Lebens als Manager einer Schreibmaschinenfabrik.
Die russisch-jüdische Intelligenzija verwandelte sich in ein internationales, in ein britisches Milieu: Mark Mazower verfolgt die Modernisierung und Verwestlichung seiner Familie mit faszinierenden Porträts etwa seines Onkels André, eines vermutlich unehelichen Sohns von Max (Walter Benjamin schildert einen Besuch bei seiner Mutter im "Moskauer Tagebuch"), der in Spanien eine rechtskonservative Lebenswende nahm, oder seiner glamourösen Tante Ira, einer Redakteurin von Modemagazinen und Autorin von Erfolgsromanen. Die amerikanische Anarchistin und Feministin Emma Goldmann und Norman Cohen, der Historiker des frühneuzeitlichen europäischen Millenarismus, waren Freunde und Nachbarn. Der sozialrevolutionäre Impuls des Großvaters von Mark Mazower verwirklichte sich im Engagement seines Vaters in der Labour Party und im wissenschaftlichen Werk seines Enkels.
Die Zeit seines Vaters in Oxford und in der Armee werden Anlass zu dichten Beschreibungen untergegangener Lebenswelten. Der revolutionäre Messias kam nicht, das Leben ging weiter. Als opakes Zentrum aber steht das Schweigen des Großvaters Max im Zentrum dieser Familiengeschichte. Seine Entscheidung, einer totalitären Wendung der sozialen Bewegung, die seine Jugend prägte, in eine historisch unheroische Bürgerlichkeit auszuweichen, wird erkennbar als eine wenig bedachte Möglichkeit, mit der blutigen Geschichte des letzten Jahrhunderts ehrenhaft umzugehen.
STEPHAN WACKWITZ
Mark Mazower: "Was du nicht erzählt hast". Meine Familie im 20. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 371 S., geb., 26.- [Euro].
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»Was Vater Bill nicht erzählt hat, erzählt der 60-jährige Mazower in großer Dichte, souverän über Stoff, Sprachen und Epoche gebietend.« Elisabeth von Thadden DIE ZEIT 20180530