Gewissheiten im Erziehungsgeschehen geraten gegenwärtig ins Wanken. In stark ideologisch aufgeladenen, von politischer Korrektheit geprägten Entwürfen werden Grenzen auf irritierende Weise infrage gestellt. Etwa zwischen den Geschlechtern im Gender Mainstreaming oder zwischen Behinderung und Nichtbehinderung im Inklusionsdiskurs. Unterschiede zwischen Menschen werden nur noch schwer ausgehalten. Niemand soll zurückstehen und alle möglichst gleich sein. Dahinter steckt der Traum von einem Neubeginn: mit einem sich weitgehend selbst konstruierenden Menschen, der in einer repressionsfreien, von der Last der Vergangenheit befreiten Gesellschaft aufwächst. Derartige Illusionen halten der Wirklichkeit nicht stand. Erziehung ist eine anthropologische Notwendigkeit, der pädagogische Auftrag lässt sich nicht beliebig relativieren und entwicklungspsychologische Erkenntnisse müssen anerkannt werden. Radikale Reformwünsche, die sich als moralisch unantastbar darstellen, haben häufig genug zu schmerzvollen pädagogischen Irrwegen geführt. Es wird deshalb dafür plädiert, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Historische Wandlungsprozesse und neue pädagogische Aufgaben lassen sich nur dann bewältigen, wenn illusionäre Verkennungen und ideologische Überfrachtungen aufgegeben werden. Nur so kann ein realistisches und zeitgemäßes Bild darüber entstehen, was Schule heute leisten sollte und was sie Kindern ermöglichen muss.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2019Lust auf Nivellierung
Bernd Ahrbeck seziert pädagogische Moden
Hilft es Menschen mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen eigentlich, wenn sie als "anders begabt" bezeichnet werden und Sehbehinderte als "visuell herausgefordert" angesehen werden? Jedenfalls sind diese nivellierenden Beschreibungen Ausdruck einer politischen Korrektheitsideologie, die vor allem Erziehung und Pädagogik ergriffen hat. Der Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck beschreibt, welche Folgen sie für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat. "Wenn Grenzen niedrig gezogen werden, steigt die Zahl der Betroffenen und Geschädigten unweigerlich an." Moralische Bewertungen beanspruchen dabei mittlerweile eine besondere Geltung. Die Betroffenheit Einzelner oder Gruppen soll zur Richtschnur dessen werden, was andere denken, sagen oder schreiben dürfen. Das eigene Anliegen ist mit einem gesteigerten Machtanspruch verbunden.
Diese Entwicklung sorgt für eine tiefe Verunsicherung von Eltern und Pädagogen. Unterschiede werden weggewischt, es sollen alle möglichst gleich sein. Ungleichheit wird mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt. Positive Begriffe von Ungleichheit werden einem egalitären Anspruchsdenken geopfert. Dafür werden auch fachliche Errungenschaften wie eine genaue Diagnostik von Behinderungen für obsolet erklärt. Denn Differenzierung kommt in diesem Denken einer Stigmatisierung gleich.
Es geht um eine Nivellierung der Geschlechter, die das Geschlecht nur noch als gesellschaftliche Zuschreibung anerkennt, um die Verwischung der Unterschiede zwischen behinderten und nicht behinderten, begabten und weniger leistungsstarken Kindern. Ahrbeck zeigt, dass solche Nivellierungen illusionär sind. Es ist der Traum vom sich selbst konstruierenden Menschen, der in einer repressionsfreien, von der Vergangenheit befreiten Gesellschaft aufwächst.
Für Berliner Kitas wurde, vom Senat gefördert, eine Handreichung "Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen kindlicher Inklusionspädagogik" mit einem Medienkoffer erstellt. Beides geht auf die Bildungsinitiative Queerformat zurück. Ahrbeck zeigt, dass dahinter das Bestreben von Lobbygruppen einer Minderheit von transgeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Familien steht, die gesellschaftlich dominierenden Formen von Sexualität und Zusammenleben als überlebtes Randphänomen abzutun: Die staatlichen Stellen seien offenbar "nicht willens oder in der Lage, eigenständig Empfehlungen, Orientierungsmaterial und Handreichungen zu entwickeln, die einen ausgewogenen Charakter tragen". Oder sollten diese Interessengruppen am Ende genau das repräsentieren, was staatliche Stellen wollen oder vorschreiben? Ahrbeck berichtet über Lehrbücher zum Sexualkundeunterricht, die Vierzehnjährige dazu ermuntern, für eine Gruppenübung Sex-Spielzeug zu erwerben. Sie zeigen, wie rasch Erziehung in Überwältigung umschlagen kann.
Der Autor widerspricht entschieden einer Relativierung des Leistungsprinzips in den Schulen, weil damit kindliche Konkurrenzwünsche konsequent missachtet würden. Vor allem Kindern aus wenig privilegierten Elternhäusern werde durch die Einebnung von Leistungsdifferenzen ein entscheidendes Emanzipationsmittel genommen. Die Schule könne das Differenzierungs- und Konkurrenzprinzip schon deshalb nicht aufgeben, weil es die konstituierende Bedingung einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft sei.
Das Buch ist auch eine Abrechnung mit dem bildungspolitischen Reform-Aktionismus wie der überstürzten Einführung des zwölfjährigen Gymnasiums, der Inklusion oder des Schreibens nach Gehör (Lesen durch Schreiben). Die Schule solle sich, so der Autor, auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und am besten einfach einmal in Ruhe gelassen werden. Das Wesen der Schule sei nicht die Entdifferenzierung, sondern das Gegenteil: "Je besser eine individuelle Förderung gelingt, desto stärker driften die Leistungen im Lauf der Schulzeit auseinander."
Insofern kann auch nur von Chancengerechtigkeit, aber nicht von Ergebnisgleichheit die Rede sein. Die Vorstellung, soziale Unterschiede könnten in der Schule vollkommen nivelliert werden, hält Ahrbeck für lebensfremd. Er warnt deshalb auch vor einer "totalen Inklusion", die Behinderungskategorien abschaffen will und sich mit Ansprüchen konfrontiert sieht, die schlicht nicht erfüllbar sind. Im Grunde müsste Ahrbecks Buch zur Pflichtlektüre für Erzieher und Pädagogen werden. Es entlarvt so manche überhitzte ideologische Debatte um Inklusion, Genderfragen und Reformitis als lebensfremde Traumtänzerei.
HEIKE SCHMOLL
Bernd Ahrbeck: "Was Erziehung heute leisten kann". Pädagogik jenseits von Illusionen.
W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019. 216 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernd Ahrbeck seziert pädagogische Moden
Hilft es Menschen mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen eigentlich, wenn sie als "anders begabt" bezeichnet werden und Sehbehinderte als "visuell herausgefordert" angesehen werden? Jedenfalls sind diese nivellierenden Beschreibungen Ausdruck einer politischen Korrektheitsideologie, die vor allem Erziehung und Pädagogik ergriffen hat. Der Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck beschreibt, welche Folgen sie für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat. "Wenn Grenzen niedrig gezogen werden, steigt die Zahl der Betroffenen und Geschädigten unweigerlich an." Moralische Bewertungen beanspruchen dabei mittlerweile eine besondere Geltung. Die Betroffenheit Einzelner oder Gruppen soll zur Richtschnur dessen werden, was andere denken, sagen oder schreiben dürfen. Das eigene Anliegen ist mit einem gesteigerten Machtanspruch verbunden.
Diese Entwicklung sorgt für eine tiefe Verunsicherung von Eltern und Pädagogen. Unterschiede werden weggewischt, es sollen alle möglichst gleich sein. Ungleichheit wird mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt. Positive Begriffe von Ungleichheit werden einem egalitären Anspruchsdenken geopfert. Dafür werden auch fachliche Errungenschaften wie eine genaue Diagnostik von Behinderungen für obsolet erklärt. Denn Differenzierung kommt in diesem Denken einer Stigmatisierung gleich.
Es geht um eine Nivellierung der Geschlechter, die das Geschlecht nur noch als gesellschaftliche Zuschreibung anerkennt, um die Verwischung der Unterschiede zwischen behinderten und nicht behinderten, begabten und weniger leistungsstarken Kindern. Ahrbeck zeigt, dass solche Nivellierungen illusionär sind. Es ist der Traum vom sich selbst konstruierenden Menschen, der in einer repressionsfreien, von der Vergangenheit befreiten Gesellschaft aufwächst.
Für Berliner Kitas wurde, vom Senat gefördert, eine Handreichung "Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen kindlicher Inklusionspädagogik" mit einem Medienkoffer erstellt. Beides geht auf die Bildungsinitiative Queerformat zurück. Ahrbeck zeigt, dass dahinter das Bestreben von Lobbygruppen einer Minderheit von transgeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Familien steht, die gesellschaftlich dominierenden Formen von Sexualität und Zusammenleben als überlebtes Randphänomen abzutun: Die staatlichen Stellen seien offenbar "nicht willens oder in der Lage, eigenständig Empfehlungen, Orientierungsmaterial und Handreichungen zu entwickeln, die einen ausgewogenen Charakter tragen". Oder sollten diese Interessengruppen am Ende genau das repräsentieren, was staatliche Stellen wollen oder vorschreiben? Ahrbeck berichtet über Lehrbücher zum Sexualkundeunterricht, die Vierzehnjährige dazu ermuntern, für eine Gruppenübung Sex-Spielzeug zu erwerben. Sie zeigen, wie rasch Erziehung in Überwältigung umschlagen kann.
Der Autor widerspricht entschieden einer Relativierung des Leistungsprinzips in den Schulen, weil damit kindliche Konkurrenzwünsche konsequent missachtet würden. Vor allem Kindern aus wenig privilegierten Elternhäusern werde durch die Einebnung von Leistungsdifferenzen ein entscheidendes Emanzipationsmittel genommen. Die Schule könne das Differenzierungs- und Konkurrenzprinzip schon deshalb nicht aufgeben, weil es die konstituierende Bedingung einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft sei.
Das Buch ist auch eine Abrechnung mit dem bildungspolitischen Reform-Aktionismus wie der überstürzten Einführung des zwölfjährigen Gymnasiums, der Inklusion oder des Schreibens nach Gehör (Lesen durch Schreiben). Die Schule solle sich, so der Autor, auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und am besten einfach einmal in Ruhe gelassen werden. Das Wesen der Schule sei nicht die Entdifferenzierung, sondern das Gegenteil: "Je besser eine individuelle Förderung gelingt, desto stärker driften die Leistungen im Lauf der Schulzeit auseinander."
Insofern kann auch nur von Chancengerechtigkeit, aber nicht von Ergebnisgleichheit die Rede sein. Die Vorstellung, soziale Unterschiede könnten in der Schule vollkommen nivelliert werden, hält Ahrbeck für lebensfremd. Er warnt deshalb auch vor einer "totalen Inklusion", die Behinderungskategorien abschaffen will und sich mit Ansprüchen konfrontiert sieht, die schlicht nicht erfüllbar sind. Im Grunde müsste Ahrbecks Buch zur Pflichtlektüre für Erzieher und Pädagogen werden. Es entlarvt so manche überhitzte ideologische Debatte um Inklusion, Genderfragen und Reformitis als lebensfremde Traumtänzerei.
HEIKE SCHMOLL
Bernd Ahrbeck: "Was Erziehung heute leisten kann". Pädagogik jenseits von Illusionen.
W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019. 216 S., geb., 29,- [Euro].
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