»Was für ein Wunder, selten hat ein Roman seinen Titel so zu Recht getragen.« Kerenn Elkaim, Livres Hebdo Port-au-Prince, 12. Januar 2010, Tag des verheerenden Erdbebens in Haiti. Ein Überlebender, der sich Bernard nennt, begegnet Amore, einer Neapolitanerin, die für eine NGO arbeitet. Liebe auf den ersten Blick. Um dem Chaos der zerstörten Stadt zu entkommen und um Bernard zu helfen, schlägt Amore ihm eine Reise nach Rom vor. Ein poetischer Roman voll bissigem Humor über Liebe, Sex, Verwirrung und die absurden Seiten der internationalen Hilfe in einer rhythmischen, magisch-kreativen Sprache.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender findet James Noels im französischen Original bereits 2017 erschienenen Text über das Erdbeben von Haiti gelungen. Allerdings nicht als Roman, sondern als Sammlung von Prosagedichten. Die Suche nach einem Plot gibt Bender schnell auf, schon die Beschreibung des Bebens ist "schillernd", stellt er fest. Dafür stößt er auf eine vielfältige Tektonik aus Leitmotiven, Metaphern, semantischen Erschütterungen und oraler Sprache, "skrupulös" übertragen von Rike Bolte. "Bilder und Bedeutungen" gebiert all das zuhauf, versichert Bender, nur eben keinen Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2021Der Einsiedlerkrebs mutiert zum leidenschaftlichen Liebhaber
Erschütternd wie das Ereignis selbst: James Noëls Roman "Was für ein Wunder" über das Erdbeben von Haiti und den schweren Neuanfang
Das Erdbeben in Haiti vom 12. Januar 2010 hat nicht nur eine internationale Rettungsarmada auf den Plan gerufen, die das in solchen Fällen Übliche deutlich übertraf: Es hat auch einige Tinte zum Fließen gebracht, denn Haiti ist zwar wirtschaftlich schwach aufgestellt, aber kulturell und besonders literarisch ein fruchtbares Land. Dany Laferrière, Kettly Mars, Yanick Lahens, Marvin Victor - das sind einige der Autoren, die sich dem Thema gewidmet haben. Recht spät, nämlich 2017, hat James Noël in seinem Roman "Belle merveille" die Katastrophe dargestellt: Sowohl der zeitliche Abstand als auch die literarische Gattung überraschen, der 1978 auf Haiti Geborene hatte sich bis dato als Lyriker einen Namen gemacht (F.A.Z. vom 22. Februar 2020).
"Was für ein Wunder" heißt nun die deutsche Fassung, und die Ironie liegt wie beim französischsprachigen Original schon im Titel. Wunderbar ist an einem Erdbeben natürlich nichts, auch wenn der Ich-Erzähler Bernard ihm seine Begegnung mit Amore, der neapolitanischen Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, verdankt, die - wie könnte es anders sein - ein sinnlich-emotionaler Vesuv ist; ernst kann das nicht gemeint sein, und offensichtlich soll die Namenskarikatur das ein für alle Mal klarstellen. Deftige Übertreibungen kennt man aus Noëls Lyrik, die in Deutschland von Litradukt veröffentlicht wird, einem auf Haiti spezialisierten Kleinverlag, dessen Programm beeindruckt. In Trier, dem Sitz des Unternehmens, organisiert er schöne Noël-Lesungen, und eine Auswahl mit dem berühmten Gedicht "Bon nouvèl" (Die gute Nachricht) bietet der Band "Die größte der Raubkatzen".
Der Roman schöpft aus mehreren Pools, seien es Worte, Motive oder Verfahren. Einige werden anfangs eingeführt, wenn es über Haitis Hauptstadt heißt: "Schmetter . . . Schmetter . . . Schmetter . . . Schmetterling . . . Keine Stadt überwindet so schnell den eigenen Schwindel und schwingt sich so schwerelos in die Luft, das schwör ich dir, so wahr ich Bernard heiße." Das vom Erdbeben erschütterte Port-au-Prince fliegt in die Luft wie ein Falter. Was die deutsche Übertragung teils unterschlagen muss, das hält die skrupulöse Übersetzerin Rike Bolte in ihrem Vorwort zu Recht fest, ist die extreme Bedeutungsdichte: "Pap . . .", der Anfang von "papillon" (französisch für Schmetterling), ahmt per Wortabbruch das Beben nach, ist das Kürzel des Flughafens von Port-au-Prince und spielt zu alledem auf Papa Loko an, einen "lwa" (Geist) des Voodoos. Die würzige, oral geprägte Sprache hat ihr Gegenstück im subtilen Spiel mit Nuancen und Gleichklängen.
Das Schmetterlingsmotiv wiederum durchzieht den ganzen Roman: Es evoziert den sprichwörtlichen Flügelschlag, der einen Sturm auslöst, also die Chaostheorie. Nicht umsonst ist laut Noël "Oscar, der Lottoverkäufer", das erste Opfer des Bebens: "Aus Zufall gestorben, weil zur falschen Zeit am falschen Ort." Es verweist aber auch auf die klassische Verwendung des Motivs: Schmetterlinge stehen für die Seelen von Verstorbenen; daran anknüpfend, verwendet der Roman Flug- und Vogelmetaphorik in rauhen Mengen.
Der Titel des Anfangskapitels schließlich - "Note G: Grund" - entstammt der Musik, und Noten gliedern den Roman leitmotivisch. Sie machen die rhythmische Dichte der Sprache explizit und betonen das Lyrische des Textes: Die Minikapitel wirken mitunter wie lose gereihte Prosagedichte, die Bilder oder Bedeutungen entwickeln. Handlung gibt es nur in Rudimentärform: Nach dem Beben trifft Bernard Amore, reist mit ihr nach Rom, verbringt sieben Jahre mit ihr, kehrt nach Haiti zurück; nicht immer wird die chronologische Folge klar, einfach deshalb, weil sie nachrangig ist. Man sieht es: Noëls Romanerstling entspricht nicht unbedingt dem, was die Gattungszuordnung suggeriert - und noch weniger dem Katastrophenroman.
Das Dickste kommt freilich noch. Schon die Darstellung des Erdbebens ist schillernd: "Das große Beben, der fiese Feinschmecker, das Vieh Vieh Vieh Vielfraß, der Goudougoudou Gourmand", hat wie gesagt nicht nur schlechte Folgen für Bernard, der vom Einsiedlerkrebs ("bernard-l'hermite") zum leidenschaftlichen Liebhaber mutiert. Allgemein weiß Noël dem Naturereignis sinnliche Seiten abzugewinnen: "Wie besessen schwingen Lust und Elend des Körpers im Chaos mit. Entregelung aller Sinne." Das Rimbaud-Zitat legt eine tektonisch inspirierte Dichtung nahe: Ist das Sarkasmus, Zynismus, schwarzer Humor? Eher eine Vervielfältigung der Ebenen, eine Erschütterung auch der Semantik - oder des Betrachter-Hirns, das in der "Rue de l'Empereur" vielleicht zu heftig durchgeschüttelt wurde.
Schließlich spart "Was für ein Wunder" nicht an Kritik. Wie die Existenz von Amore, "Mandelschnittenraubtierweib" vor dem Herrn, ahnen lässt, ist das, was über die internationalen Helfer gesagt wird, nicht unbedingt schmeichelhaft. Die Truppen, die "offenen Munds und hoffnungsprallen Herzens" in Haiti einfliegen, ähneln einem Heuschreckenschwarm, der über die gebeutelte Insel zieht: "Zum ersten Mal in der Geschichte haben die NGOs den G-Punkt erreicht." Angesichts der Tatsache, dass das reale Versagen schon Gerichte beschäftigt hat, fällt die Darstellung des Romans freilich mild aus.
Ist "Was für ein Wunder" gelungen? Die Frage lautet: als was? Als Roman weniger, als lyrischer Essay oder Sammlung von Prosagedichten hingegen schon. Zentraler ist die Frage, ob er seinem Gegenstand, dem Erdbeben, gerecht wird, 300 000 Toten, einer zerstörten Insel, einem schweren Neuanfang - und einer Lage, so traurig und aberwitzig, so verknüpft und widersprüchlich wie alles Menschliche. Und da fällt die Antwort leicht: voll und ganz.
NIKLAS BENDER
James Noël: "Was für ein Wunder". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Rike Bolte. Litradukt, Trier 2020. 120 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erschütternd wie das Ereignis selbst: James Noëls Roman "Was für ein Wunder" über das Erdbeben von Haiti und den schweren Neuanfang
Das Erdbeben in Haiti vom 12. Januar 2010 hat nicht nur eine internationale Rettungsarmada auf den Plan gerufen, die das in solchen Fällen Übliche deutlich übertraf: Es hat auch einige Tinte zum Fließen gebracht, denn Haiti ist zwar wirtschaftlich schwach aufgestellt, aber kulturell und besonders literarisch ein fruchtbares Land. Dany Laferrière, Kettly Mars, Yanick Lahens, Marvin Victor - das sind einige der Autoren, die sich dem Thema gewidmet haben. Recht spät, nämlich 2017, hat James Noël in seinem Roman "Belle merveille" die Katastrophe dargestellt: Sowohl der zeitliche Abstand als auch die literarische Gattung überraschen, der 1978 auf Haiti Geborene hatte sich bis dato als Lyriker einen Namen gemacht (F.A.Z. vom 22. Februar 2020).
"Was für ein Wunder" heißt nun die deutsche Fassung, und die Ironie liegt wie beim französischsprachigen Original schon im Titel. Wunderbar ist an einem Erdbeben natürlich nichts, auch wenn der Ich-Erzähler Bernard ihm seine Begegnung mit Amore, der neapolitanischen Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, verdankt, die - wie könnte es anders sein - ein sinnlich-emotionaler Vesuv ist; ernst kann das nicht gemeint sein, und offensichtlich soll die Namenskarikatur das ein für alle Mal klarstellen. Deftige Übertreibungen kennt man aus Noëls Lyrik, die in Deutschland von Litradukt veröffentlicht wird, einem auf Haiti spezialisierten Kleinverlag, dessen Programm beeindruckt. In Trier, dem Sitz des Unternehmens, organisiert er schöne Noël-Lesungen, und eine Auswahl mit dem berühmten Gedicht "Bon nouvèl" (Die gute Nachricht) bietet der Band "Die größte der Raubkatzen".
Der Roman schöpft aus mehreren Pools, seien es Worte, Motive oder Verfahren. Einige werden anfangs eingeführt, wenn es über Haitis Hauptstadt heißt: "Schmetter . . . Schmetter . . . Schmetter . . . Schmetterling . . . Keine Stadt überwindet so schnell den eigenen Schwindel und schwingt sich so schwerelos in die Luft, das schwör ich dir, so wahr ich Bernard heiße." Das vom Erdbeben erschütterte Port-au-Prince fliegt in die Luft wie ein Falter. Was die deutsche Übertragung teils unterschlagen muss, das hält die skrupulöse Übersetzerin Rike Bolte in ihrem Vorwort zu Recht fest, ist die extreme Bedeutungsdichte: "Pap . . .", der Anfang von "papillon" (französisch für Schmetterling), ahmt per Wortabbruch das Beben nach, ist das Kürzel des Flughafens von Port-au-Prince und spielt zu alledem auf Papa Loko an, einen "lwa" (Geist) des Voodoos. Die würzige, oral geprägte Sprache hat ihr Gegenstück im subtilen Spiel mit Nuancen und Gleichklängen.
Das Schmetterlingsmotiv wiederum durchzieht den ganzen Roman: Es evoziert den sprichwörtlichen Flügelschlag, der einen Sturm auslöst, also die Chaostheorie. Nicht umsonst ist laut Noël "Oscar, der Lottoverkäufer", das erste Opfer des Bebens: "Aus Zufall gestorben, weil zur falschen Zeit am falschen Ort." Es verweist aber auch auf die klassische Verwendung des Motivs: Schmetterlinge stehen für die Seelen von Verstorbenen; daran anknüpfend, verwendet der Roman Flug- und Vogelmetaphorik in rauhen Mengen.
Der Titel des Anfangskapitels schließlich - "Note G: Grund" - entstammt der Musik, und Noten gliedern den Roman leitmotivisch. Sie machen die rhythmische Dichte der Sprache explizit und betonen das Lyrische des Textes: Die Minikapitel wirken mitunter wie lose gereihte Prosagedichte, die Bilder oder Bedeutungen entwickeln. Handlung gibt es nur in Rudimentärform: Nach dem Beben trifft Bernard Amore, reist mit ihr nach Rom, verbringt sieben Jahre mit ihr, kehrt nach Haiti zurück; nicht immer wird die chronologische Folge klar, einfach deshalb, weil sie nachrangig ist. Man sieht es: Noëls Romanerstling entspricht nicht unbedingt dem, was die Gattungszuordnung suggeriert - und noch weniger dem Katastrophenroman.
Das Dickste kommt freilich noch. Schon die Darstellung des Erdbebens ist schillernd: "Das große Beben, der fiese Feinschmecker, das Vieh Vieh Vieh Vielfraß, der Goudougoudou Gourmand", hat wie gesagt nicht nur schlechte Folgen für Bernard, der vom Einsiedlerkrebs ("bernard-l'hermite") zum leidenschaftlichen Liebhaber mutiert. Allgemein weiß Noël dem Naturereignis sinnliche Seiten abzugewinnen: "Wie besessen schwingen Lust und Elend des Körpers im Chaos mit. Entregelung aller Sinne." Das Rimbaud-Zitat legt eine tektonisch inspirierte Dichtung nahe: Ist das Sarkasmus, Zynismus, schwarzer Humor? Eher eine Vervielfältigung der Ebenen, eine Erschütterung auch der Semantik - oder des Betrachter-Hirns, das in der "Rue de l'Empereur" vielleicht zu heftig durchgeschüttelt wurde.
Schließlich spart "Was für ein Wunder" nicht an Kritik. Wie die Existenz von Amore, "Mandelschnittenraubtierweib" vor dem Herrn, ahnen lässt, ist das, was über die internationalen Helfer gesagt wird, nicht unbedingt schmeichelhaft. Die Truppen, die "offenen Munds und hoffnungsprallen Herzens" in Haiti einfliegen, ähneln einem Heuschreckenschwarm, der über die gebeutelte Insel zieht: "Zum ersten Mal in der Geschichte haben die NGOs den G-Punkt erreicht." Angesichts der Tatsache, dass das reale Versagen schon Gerichte beschäftigt hat, fällt die Darstellung des Romans freilich mild aus.
Ist "Was für ein Wunder" gelungen? Die Frage lautet: als was? Als Roman weniger, als lyrischer Essay oder Sammlung von Prosagedichten hingegen schon. Zentraler ist die Frage, ob er seinem Gegenstand, dem Erdbeben, gerecht wird, 300 000 Toten, einer zerstörten Insel, einem schweren Neuanfang - und einer Lage, so traurig und aberwitzig, so verknüpft und widersprüchlich wie alles Menschliche. Und da fällt die Antwort leicht: voll und ganz.
NIKLAS BENDER
James Noël: "Was für ein Wunder". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Rike Bolte. Litradukt, Trier 2020. 120 S., br., 12,- [Euro].
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