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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Hätte, hätte, Fahrradkette: Gregor Sander schreibt seine DDR-Geschichte von Flucht, Schuld und Liebeswirrwarr im Konjunktiv II - ein Buch nicht nur für SPD-Kanzlerkandidaten.
Warum ausgerechnet diese Frau nicht fortgehe, während er doch seine bisherigen Freundinnen nach ein paar Monaten oder wenigen Jahren stets dazu gebracht habe, ihn zu verlassen? Paul muss eine Weile über diese Frage seiner Psychologin nachdenken, und der Leser tut dies mit ihm, nicht nur weil Astrid, genannt Assi, dem ersten Anschein nach von ähnlicher Liebenswürdigkeit ist wie ihr Spitzname. Die Frage bleibt präsent, denn Verlassen und Verlassenwerden ist das zentrale Motiv des Romans "Was gewesen wäre". Gregor Sander, wie stets in unaufgeregter Tonlage, lotet dieses Motiv erzählerisch aus.
Wie schon in seinem Debütroman "Abwesend" und in verschiedenen seiner Erzählungen betreibt Sander auch diesmal literarische Archäologie. Der Gegenstand, den der 1968 in Schwerin Geborene freilegt, ist bekannt: die DDR. In "Was gewesen wäre" verschneidet Sander das Leben der neunzehnjährigen Astrid im ostdeutschen Neubrandenburg der achtziger Jahre mit ihrem heutigen Dasein als mittlerweile geschiedene Mutter von zwei Kindern und Ärztin. Ihr Fachgebiet: Herzkrankheiten.
Paul, ihr neuer Freund, hat Astrid zum vierundvierzigsten Geburtstag eine Reise nach Budapest geschenkt, nicht zuletzt, weil er hofft, auf diesem Wege ein wenig mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Während der westdeutsche Mann begeistert ist von dem maroden Charme des Gellert-Hotels, in dem beide absteigen, reagiert Astrid allergisch auf jedes Überbleibsel des Ostens, das sie hier zu entdecken meint. Als sie noch dazu gleich am ersten Abend im Hotelrestaurant ihre Jugendliebe Julius erblickt, ergreift Astrid nachgerade panisch die Flucht, zumindest für diesen Abend.
Gregor Sander legt die Spuren so, dass die Annahme naheliegt, in den Kapiteln aus Astrids Ost-Geschichte werde sich nach und nach der Grund für ihre Abwehr all dessen offenbaren, was mit dieser Vergangenheit zusammenhängt. Allerdings geschieht das nicht. Zumindest nicht auf eine Weise, die Astrids Verhalten plausibel erscheinen lassen würde.
Ihre Liebe zu dem eigensinnigen Julius, dem Sohn einer in der DDR mit Ausstellungsverbot belegten Künstlerin, mag keine glückliche gewesen sein, so dass Astrid sich schließlich für die Beziehung mit einem einigermaßen drögen Kommilitonen entschieden hat. Das allerdings hatte, so wie Sander es erzählt, keinen Einfluss auf ihre Haltung der DDR gegenüber, die durchaus positiv war.
Mit aller Entschiedenheit hat Astrid damals die Möglichkeit ausgeschlagen, von einem Westbesuch bei der mittlerweile in die Bundesrepublik ausgewiesenen besten Freundin nicht zurückzukehren. Und das ausgerechnet an dem Tag, als Julius von seinem in der Bundesrepublik lebenden Halbbruder in einem Campingmobil über Ungarn und Jugoslawien aus der DDR geschmuggelt werden sollte.
Dass Astrid ihn im Westen nicht erwartet, wird in "Was gewesen wäre" als eine Schuld ausgegeben, die sie bis zu dem Moment, wo sie Julius fünfundzwanzig Jahre später im Gellert-Hotel wiedersieht, mit sich trägt. Sander entwickelt in seiner erzählerischen Konstruktion allerdings ein schwerwiegendes Knirschpotential: Warum sollte Julius, der, abgesehen von ein paar sporadischen Plänkeleien, ganz offensichtlich längst kein Interesse mehr an Astrid hatte, ihretwegen in den Westen gekommen sein? Und warum sollte sie, die doch um diesen Umstand weiß, sich Julius gegenüber verantwortlich fühlen?
Die Tatsache, dass sich diese Flucht im Nachhinein als von der Stasi eingefädelte Aktion entpuppen sollte, in der fatalerweise auch Astrids Freundin eine unschöne Rolle gespielt hat, mag der Flucht von Julius einen bitteren Beigeschmack verleihen. Und deshalb liegt vermutlich doch eben hier der Grund für Astrids Abwehr gegenüber allem, was an Erinnerungen, an Gerüchen, an Fragen aus dieser Zeit in die Gegenwart hinüberschwappt. Sie möchte an nichts erinnert werden, das mit Schmerz oder Bedauern verbunden ist.
Tatsächlich nämlich ist Astrid diejenige, die immerzu verlassen worden ist in ihrem Leben, ohne je selbst in der Lage gewesen zu sein auszubrechen. Vielleicht ist es das, was sie so harsch hat werden lassen. Und vielleicht ist ihr abgeklärter Ärztinnenblick nur der Schutzschild, den sie sich zugelegt hat, um die Trauer über diese Verluste erträglicher erscheinen zu lassen. Der Ausweg, um alle Sentimentalität im Keim zu ersticken.
Wohl deshalb hat der Konjunktiv II, der sich im Titel des Romans findet, in Astrids Denken keinen Platz. Im Gegenteil haben gerade die Kapitel aus ihrer Neubrandenburger Jugend über weite Strecken nachgerade den Duktus von Protokollen, in denen möglichst nüchtern noch einmal das Geschehene nachgezeichnet wird und bewusst kein Raum für Spekulationen darüber bleibt, wie das eigene Leben anders hätte verlaufen können. Das fällt umso mehr ins Auge, als diese Kapitel in der ersten Person erzählt werden, während die Passagen aus dem heutigen Budapest in der dritten Person stehen und noch dazu - etwas inkonsistent - zwischen Paul und Astrid abwechseln. Astrid mag Herzspezialistin sein. Gegen ihre eigenen Verengungen, die des Herzens und die der Perspektive, kommt sie nicht an, weil sie nicht physiologischer Natur sind. Symptomatisch ist eine Szene, in der Astrid, die während ihrer Budapest-Reise schließlich doch noch mit Julius zusammentrifft, von dessen Affäre mit der Frau eines Künstlers erfährt. Die beiden Frauen sitzen zusammen. Die andere gesteht ihr: "Mein Herz schlägt für ihn. Mehr, als mir lieb ist", woraufhin Astrid ihr einen kleinen Vortrag über die Funktionen und Schlagfrequenzen dieses Muskels hält, den man Herz nennt. Die andere Frau ist konsterniert.
Der Leser, der Astrid schon eine Weile begleitet hat, ist es zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr. Die Kombination dieser spröden Heldin mit der äußerst zurückgenommenen Sprache Gregor Sanders, die in diesem Roman alles in allem doch etwas blass geraten ist, lässt den Leser eher desillusioniert zurück.
WIEBKE POROMBKA
Gregor Sander: "Was gewesen wäre". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 236 S., geb., 19,90 [Euro].
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