Kann man in einer Anklageschrift beste Unterhaltung bieten? Plaudert man über Einzelhaft? Vergisst man über der Schilderung südlicher Landschaft beinahe die des Alltags im Internierungslager? Wohl kaum. Es sei denn, man heißt Victor Auburtin, ist einer der besten deutschsprachigen Feuilletonisten und verarbeitet literarisch das Trauma einer dreijährigen Kriegsgefangenen-Odyssee. Doch der Reihe nach. Unmittelbar vor Kriegsbeginn, am 2. August 1914, werden in der französischen Festungsstadt Besançon zwei Fremde aufgespürt, die höchst verdächtige Züge aufweisen. Sie sprechen deutsch, sind mit einem Automobil zur Schweizer Grenze unterwegs und führen seltsame Dinge mit sich: eine (ausgehöhlte?) Buddha-Figur aus Jade, Photographien von unbekannten Herrschaften, alte Bücher in unlesbarer Schrift. Kein Zweifel: Das müssen deutsche Spione sein! Ihre Flucht wäre beinahe geglückt! Wie gut, dass man allzeit wachsam war! Schon bald wird die Situation für die Verhafteten gefährlich: Es droht lange Haft, Deportation, wenn nicht gar eine schnelle Exekution: An die 5000 "Spione" - so schätzte die Liga für Menschenrechte damals - wurden in Frankreich während des Ersten Weltkrieges aus oftmals nichtigeren Anlässen hingerichtet. Da heißt es im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf nicht zu verlieren, Haltung zu bewahren. Und welche Haltung wäre besser als die, die Victor Auburtin Zeit seines Lebens vorexerzierte: als distanzierter Schilderer der "kleinen" Katastrophen moderner Zeiten; als sinnenfroher Skeptiker, der bei den griechischen Stoikern in die Lehre ging; als Journalist schließlich, der getreulich die Unregelmäßigkeiten des Lebens aufzeichnete - auch die Hoffnungen und Nöte seiner langen Untersuchungshaft. Aller Skepsis zum Trotz endet sein Spionageprozess im Januar 1915 mit einem Freispruch. Aber wie schon zuvor in Besançon, so erlebt Auburtin auch jetzt eine böse Überraschung. Entgegen internationaler Abmachungen folgt keine Ausweisung nach Deutschland. Vielmehr wird der Schriftsteller in der Folgezeit auf der Insel Korsika interniert - deren südliches Flair er sogleich für sich entdeckt. Bei aller Schilderung mittelländischer Pracht und charmanter Erörterung alltäglicher und nichtalltäglicher Probleme: Unterschwellig vibriert Auburtins Bericht geradezu vor Wut, Enttäuschung und Empörung (manches harte Wort resultiert von hier). Und wird so zur Anklageschrift eines zu Unrecht Inhaftierten, dem die bürgerlichen Rechte als hohes Gut gelten. Die Würde des Menschen, eine faire Prozessführung, die Unverletzlichkeit der Privatsphäre: Wie leichtfertig werden all' jene zivilisatorischen Errungenschaften im Kriegsfalle über Bord geworfen! Und das ausgerechnet in dem Land, das diese Rechte erkämpfte! Wer gebietet den bürokratischen Apparaten und ihren Schergen Einhalt? War nicht gerade er, als Paris-Korrespondent einer liberalen deutschen Tageszeitung, ein guter Vermittler und ausgewiesener Freund französischer Lebensart und Kultur?! Aufgrund schwerer Erkrankung schließlich über die Schweiz nach Deutschland entlassen, entsteht noch während des Ersten Weltkrieges der vorliegende, tagebuchförmige Bericht. Er kann als literarisches Pendant zu den Aufzeichnungen Theodor Fontanes von dessen Kriegsgefangenschaft gelten, dem als (vermeintlichem) deutschen Spion kaum vierzig Jahre zuvor ähnliches widerfuhr.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.