»Die beste Nation ist die Resignation.« Dieser Ausspruch wird dem österreichischen Dramatiker Johann Nestroy zugeschrieben, der seine Zeitgenossen im Wiener Volkstheater gern zum Lachen brachte. Was eine Nation ist, lässt sich jedenfalls gar nicht so einfach bestimmen. Vor allem in den stürmischen Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, wird Europa europaweit gern und schnell abgeschrieben und stattdessen wieder einmal die Nation oder der Nationalstaat beschworen. Doch genau an diesem Punkt stellt Ulrike Guérot mit ihrem Essay die richtigen Fragen: Was eigentlich ist die Nation? Vor allem aber: Wozu brauche ich meine Nation so unbedingt? Vielleicht hilft die Schneise, die dieser Text mit verschiedenen Definitionen durch den Nationen-Dschungel schlägt, die derzeit äußerst problematische Diskussion über Europa zu lichten. Vielleicht kommt man beim Lesen sogar zu dem Schluss, dass der europäische Integrationsprozess längst ein Prozess des Nation-Buildings und der europäischen Vergesellschaftung ist? Dass Solidarität jenseits heutiger Grenzen institutionalisiert und Europa nur noch als Republik verfasst werden muss? Der Essay Was ist die Nation? ist der dritte Essay in der Reihe IFA-Edition im Steidl Verlag.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2020Europas
neue Ordnung
Ulrike Guérot wirbt für ihr
integriertes Konzept der Nation
Am 11. März 1882 hält der französische Religionswissenschaftler und Schriftsteller Ernest Renan an der Sorbonne in Paris eine Rede mit dem Titel „Was ist eine Nation?“. Sie ist ein Schlüsseldokument der politischen Ideengeschichte. Weder Geografie noch Sprache, hält Renan fest, weder Abstammung noch Religion oder Gemeinschaft der Interessen allein böten eine hinreichende Grundlage für eine moderne Nation. Und: „Ein Zollverein ist kein Vaterland.“ Die Nation sei vielmehr ein „geistiges Prinzip“, eine „große Solidargemeinschaft“. An diese Überlegungen scheint die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot mit dem Titel ihres neuen Buches „Was ist die Nation?“ anknüpfen zu wollen.
Seit einigen Jahren ist in Europa von einer Wiederkehr der Nationalismen die Rede. Guérot versucht, dem Nachdenken über Nation und Europa einen anderen Dreh zu geben. Bei ihr richtet es sich nicht auf die Einzelstaaten, sondern auf die Entstehung einer europäischen Nation. Sollte Europa zu einer Solidargemeinschaft werden, so ihre Überlegung, wäre es damit auch eine Nation, freilich nicht im ethnischen Sinne. Ein bedeutender Bezugspunkt ist für sie dabei der französische Soziologe Marcel Mauss, der in einer integrierten Gesellschaft die erste Bedingung einer Nation sah.
Laut Guérot liegt in der gemeinsamen Krisenerfahrung, wie Europa sie gerade hinter sich habe, eine Gelegenheit. Die Brexit-Krise könne zur Herausbildung einer gemeinsamen Nation führen, schreibt die Politikwissenschaftlerin, die seit Jahren für ihre Idee einer europäischen Republik wirbt. Für Guérot steht und fällt alles mit der sozialen Integration. Rechts- und Sozialstaatlichkeit dürften auf europäischer Ebene nicht entkoppelt sein; eine politische Einheit lasse sich nur herstellen, wenn Bürgerinnen und Bürger gemeinsam über das sozioökonomische Gefüge entschieden.
Die Autorin befasst sich sowohl aus historischer als auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der Nation und kritisiert die Entwicklungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten in den vergangenen Jahren. Dabei ruft sie ins Gedächtnis, dass Nationen, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert dominiert haben, nicht immer das vorherrschende Strukturprinzip in Europa waren.
Ulrike Guérot geht es darum, mit „Nation“ und „Europa“ zwei Begriffe miteinander zu versöhnen, die in der Regel gegeneinander ausgespielt würden. Letztlich leuchtet aber nicht ein, warum sie den Begriff der Nation für ihre Vorstellung einer künftigen Ordnung überhaupt braucht, warum sie nicht etwa bei Solidargemeinschaft oder Republik bleibt. Man folgt Guérots Überlegungen mit Sympathie, wünscht sich aber insgesamt doch mehr Genauigkeit.
ISABELL TROMMER
Ulrike Guérot:
Was ist die Nation?
Herausgegeben vom
Institut für Auslands-
beziehungen (ifa).
Steidl-Verlag,
Göttingen 2019.
224 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
neue Ordnung
Ulrike Guérot wirbt für ihr
integriertes Konzept der Nation
Am 11. März 1882 hält der französische Religionswissenschaftler und Schriftsteller Ernest Renan an der Sorbonne in Paris eine Rede mit dem Titel „Was ist eine Nation?“. Sie ist ein Schlüsseldokument der politischen Ideengeschichte. Weder Geografie noch Sprache, hält Renan fest, weder Abstammung noch Religion oder Gemeinschaft der Interessen allein böten eine hinreichende Grundlage für eine moderne Nation. Und: „Ein Zollverein ist kein Vaterland.“ Die Nation sei vielmehr ein „geistiges Prinzip“, eine „große Solidargemeinschaft“. An diese Überlegungen scheint die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot mit dem Titel ihres neuen Buches „Was ist die Nation?“ anknüpfen zu wollen.
Seit einigen Jahren ist in Europa von einer Wiederkehr der Nationalismen die Rede. Guérot versucht, dem Nachdenken über Nation und Europa einen anderen Dreh zu geben. Bei ihr richtet es sich nicht auf die Einzelstaaten, sondern auf die Entstehung einer europäischen Nation. Sollte Europa zu einer Solidargemeinschaft werden, so ihre Überlegung, wäre es damit auch eine Nation, freilich nicht im ethnischen Sinne. Ein bedeutender Bezugspunkt ist für sie dabei der französische Soziologe Marcel Mauss, der in einer integrierten Gesellschaft die erste Bedingung einer Nation sah.
Laut Guérot liegt in der gemeinsamen Krisenerfahrung, wie Europa sie gerade hinter sich habe, eine Gelegenheit. Die Brexit-Krise könne zur Herausbildung einer gemeinsamen Nation führen, schreibt die Politikwissenschaftlerin, die seit Jahren für ihre Idee einer europäischen Republik wirbt. Für Guérot steht und fällt alles mit der sozialen Integration. Rechts- und Sozialstaatlichkeit dürften auf europäischer Ebene nicht entkoppelt sein; eine politische Einheit lasse sich nur herstellen, wenn Bürgerinnen und Bürger gemeinsam über das sozioökonomische Gefüge entschieden.
Die Autorin befasst sich sowohl aus historischer als auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der Nation und kritisiert die Entwicklungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten in den vergangenen Jahren. Dabei ruft sie ins Gedächtnis, dass Nationen, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert dominiert haben, nicht immer das vorherrschende Strukturprinzip in Europa waren.
Ulrike Guérot geht es darum, mit „Nation“ und „Europa“ zwei Begriffe miteinander zu versöhnen, die in der Regel gegeneinander ausgespielt würden. Letztlich leuchtet aber nicht ein, warum sie den Begriff der Nation für ihre Vorstellung einer künftigen Ordnung überhaupt braucht, warum sie nicht etwa bei Solidargemeinschaft oder Republik bleibt. Man folgt Guérots Überlegungen mit Sympathie, wünscht sich aber insgesamt doch mehr Genauigkeit.
ISABELL TROMMER
Ulrike Guérot:
Was ist die Nation?
Herausgegeben vom
Institut für Auslands-
beziehungen (ifa).
Steidl-Verlag,
Göttingen 2019.
224 Seiten, 16 Euro.
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