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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie Wirtschaftskrisen den Wandel vorantreiben
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Corona-Pandemie haben auch den Kunstmarkt in Mitleidenschaft gezogen. Ein Schub zur Digitalisierung als Therapie wurde vor allem bei den großen Auktionshäusern sichtbar. Sie verlagerten ihr Geschäft mehr und mehr ins Internet, indem sie regionale Vorschauen und Saalauktionen durch digitale Showrooms, reine Online-Versteigerungen oder Livestreams aus publikumsentleerten Sälen sowie durch Kunstkaufportale ersetzten. So konnten die Unternehmen 2020 trotz eingeschränkter Reisefreiheit extreme Umsatzeinbrüche vermeiden. Denn die digitalen Angebote veranlassen auch zunehmend internetaffine Jüngere, Kunst online zu erstehen, was das Preisniveau im mittleren Segment anhob. "Die gläserne Decke zwischen der Online-Only-Auktion und der Saalauktion, die 2019 unter 10 000 Dollar lag, findet sich heute im fünfstelligen Dollarbereich. Das bedeutet, dass Menschen das Vertrauen haben, auch teurere Objekte online-only und ohne Vorbesichtigung zu kaufen", sagt Dirk Boll.
Der deutsche Spitzenmanager, seit 1998 beim Auktionshaus Christie's und mittlerweile in London für Europa, Großbritannien, den Mittleren Osten und Afrika zuständig, hat kurz vor wenigen Wochen ein umfangreiches Taschenbuch zu den Auswirkungen der Wirtschaftskrisen von 1990, 2001, 2009 und 2020 auf den Kunsthandel veröffentlicht. Das Cover-Motiv des Buches kombiniert sinnfällig die verschlungenen Pfade des Nasdaq-Index der New Yorker Technologiebörse mit dem Art-Index weltweiter Kunstverkäufe.
Es sei stets die Rückkoppelung ökonomischer Krisen, die Missstände auf dem Kunstmarkt vor Augen führe, schreibt der Autor. Im Schnitt hätten die globalisierten Kunstmärkte der jüngeren Vergangenheit alle zehn Jahre eine größere Krise erlitten. Der Autor widmet sich vor allem dem Einbruch im Jahr 2020, der einen Digitalisierungsschub bewirkte. Er beschäftigt sich aber auch mit den Reaktionen des Kunsthandels auf die gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen von 1990, 2001 und 2009. Signifikant für die jeweilige Erholung der Kunstmärkte scheint ein zügiger Geschmackswandel gewesen zu sein, der vom Kapital der Krisengewinner profitierte. Obwohl es im Unterschied zum 1990 von Japan induzierten Crash der Impressionismus-Preise bei der Krise 2009 um eine globale Rezession gegangen sei, habe sich auch damals der Geschmack geändert und zum Aufschwung geführt: Der Umsatz sei von den seit 2001 boomenden zeitgenössischen Werken auf kanonisierte klassische Nachkriegskunst umgesprungen, "einer Nachfrage, die sich stärker als zuvor für gesicherte Werte statt für Investments oder Spekulation interessierte".
Inzwischen habe die Globalisierung den Kunstgeschmack homogenisiert, Corona werde den Geschmackswandel vermutlich nicht befördern. Auch sonst scheint diesmal einiges anders: "Die Pandemie führt zu einem fundamentalen Umbruch etablierter Verhältnisse auf allen Ebenen der Rezeption und Vermarktung von Kunst." Die Krise habe sowohl die Angebots- wie auch die Nachfrageseite des Kunstmarktes erfasst und die Rollen der Teilnehmer neu orientiert. Dank Künstlicher Intelligenz werde diese Entwicklung auch vor den Experten des Faches nicht haltmachen und künftig einen Großteil ihrer Arbeit übernehmen. Bolls um Objektivität bemühte, komplexe Analyse aus Sicht der Versteigerer fügt angesichts der "gesellschaftlichen Verantwortung der Kunstmärkte" auch Überlegungen zu Rassismus, Gender und Nachhaltigkeit an. Sie präsentiert sich zeitgemäß als sozioökonomische Studie über einen Spezialmarkt.
ULLA FÖLSING
Dirk Boll: Was ist diesmal anders? Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2020, 252 Seiten, 22 Euro.
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