Wir verstehen uns als Europäer, doch unsere traditionell verankerte Vorstellung von europäischer Kultur ist fragwürdig. Denn wir schleppen aus der Kolonialzeit und aus der Romantik Ansichten mit, die unseren Blick auf Geschichte und das geopolitische Selbstverständnis eurozentristisch verzerren und die Zukunft unseres Kontinents belasten. Dag Nikolaus Hasse ermutigt zu einem offeneren Nachdenken über Europa, dessen geistige Wurzeln weiter und dessen Verbindungen zu kontinentalen Nachbarn intensiver sind, als viele glauben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2021Gegen den Hochmut der Vernunft
Dag Nikolaus Hasses hat ein anregendes kleines Buch verfasst
zur großen Frage „Was ist europäisch?“
VON GUSTAV SEIBT
In einer mitreißenden Rede zur „Idee Europas“ verknüpfte George Steiner diese 2004 ganz wesentlich mit der Einrichtung des Kaffeehauses: „So lange es Kaffeehäuser gibt, so lange hat die europäische Idee einen Inhalt.“ Wie sympathisch! So zivil, lässig, niedrigschwellig, gleichzeitig doch so traditionsreich, literarisch, urban – man denkt unwillkürlich an Wien und Paris, an Karl Kraus und das Paar Sartre-Beauvoir. Sogar Emanuel Macron zitierte Steiners Motiv. Dumm nur, dass das Kaffeehaus eigentlich eine muslimisch-orientalische Erfindung ist, die in der frühen Neuzeit von Mekka und Kairo über Damaskus und Istanbul nach Venedig und Wien importiert wurde, ein klassisches Beispiel von Kulturtransfer.
Dag Nikolaus Hasse, der dieses Beispiel in einem sehr anregenden kleinen Buch zur großen Frage „Was ist europäisch?“ zitiert, ist Mittellateiner und Arabist mit Spezialisierung auf Wissenschaftsgeschichte. Das prädestiniert ihn zu präzisen Gegenrechnungen, wenn die großen Europa-Gleichungen aufgemacht werden. Es sind Gleichungen, die einen geographischen Raum mit „Ideen“, moralischen und kulturellen „Werten“ und bestimmten Traditionen in eins setzen, um daraus ein Angebot zur Identifikation zu gewinnen. Vom Atlantik bis zum Ural, vom Bosporus bis Gibraltar sollen große Synthesen – Athen, Rom, Jerusalem – oder zivilisatorische Errungenschaften – Aufklärung, Vernunft, Menschenrechte, Gewaltenteilung – gewonnen und vorherrschend geworden sein.
Dabei kommen kanonische Listen von Büchern und Kunstwerken, aber auch von Praktiken und Institutionen heraus, die „Europa“ ausmachen sollen. Doch die Gleichungen gehen nicht auf, zeigt Hasse. Entweder decken diese ideellen Konglomerate nicht den ganzen europäischen Raum ab, oder sie sind nicht exklusiv europäisch. Das mag als Ergebnis trivial sein, interessant ist aber, wie Hasse dies auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert. Er ordnet seine Argumente unter den Oberbegriffen von „Entkolonialisierung“ und „Entromantisierung“, beide für ihn dringend fällig für die Vorstellungen von Europa.
Entkolonialisierung meint dabei den Abbau des Hochmuts der Vernunft gegen vermeintlich weniger aufgeklärte Kulturen und Weltgegenden, die so exotisiert werden – der berüchtigte „Orientalismus“ ist das eklatanteste Beispiel. Hier hat der Kenner arabischer und indischer Wissenschaft, der Liebhaber chinesischer Überlieferungen ein leichtes Spiel. Auch beerbt solche aufklärerische Selbstüberhebung nur die religiöse Frontstellung der späten Türkenkriegszeit um 1700. Doch sie wirkte in den missionarischen Zügen des europäischen Kolonialismus nach, im Gegensatz von „Wilden“ und „Zivilisierten“.
Der Aufklärung folgten romantische Traditionsbildungen, die Europa wieder als Christenheit definierten, jedoch weniger konfessionell als kulturell und ästhetisch. Das steigert sich zum „abendländischen“ Athen-Rom-Jerusalem-Mythos, der Verbindung griechischer Kunst und Wissenschaft mit römischem Recht und Staat sowie den christlichen Vorstellungen von Nächstenliebe und Menschengleichheit vor Gott. Großer Akkord, tief heruntergedrücktes Pedal.
Doch „Jerusalem“ oder genauer „Golgatha“ beerbt den Alten Orient. Die griechische Kultur hinterließ ihre meisten Spuren in den Wüstensäumen vom Zweistromland bis Nordafrika, schon ihre Quellen verdankten sich orientalischen Wanderexperten, die Alphabetschrift und Mathematik brachten. „Rom“ griff das auf, regierte jedoch auch in Afrika und im vorderen Orient. Und „Nächstenliebe“, ethische Reziprozitätsvorstellungen lassen sich in zahlreichen außereuropäischen Kulturen von Indien bis Afrika nachweisen. Am Ende zeigen die suggestivsten Europafeiern – Hasse stellt neben Steiner noch Milan Kundera und Rémi Brague vor – immer nur partikulare Ausmalungen von individuellen geistigen Heimaten. Der Katholik Brague schließt das Luthertum aus, der Tscheche Kundera den orthodoxen Osten. Vom reichen europäischen Islam ist da noch gar nicht die Rede.
Doch manche von Hasses Siegen sind zu leicht. Denn man könnte ja argumentieren – und hat es getan –, die Besonderheit Europas bestehe gerade in der Spannung von Einheit und Vielfalt, beispielsweise in seinem vielgliedrigen neuzeitlichen Staatensystem, seiner damit verknüpften Multikonfessionalität, also eher einer Struktur als einem Ideengebäude. Und wenn Hasse gegen das Zerrbild vom religiösen Absolutismus im Islam festhält, dieser habe nie geistliche Herrschaften nach Art der europäischen Kirchenstaaten gekannt, dann könnte die Antwort lauten: Gerade die Verkirchlichung der Religion in Europa (also ihr Römisches) habe den Voraussetzungen für Trennungen und Säkularisierungen geschaffen: Mit einer Kirche kann man Verträge schließen, mit einer in die Lebenswelt verflochtenen Religion eher nicht. Und die Verrechtlichung der Trennung erleichtert dann auch die Befreiung der Lebenswelten von religiösen Vorgaben, man denke an Frauen- und Schwulenemanzipation. Damit wäre man bei Heinrich August Winklers Begriff vom „Westen“, mit dem Hasse sich gar nicht beschäftigt.
Was ist sein Gegenentwurf? Hasse möchte zu einem räumlichen Europa-Begriff zurückkehren, wie ihn das Mittelalter schon einmal hatte. Doch zugleich möchte er die Räume pluralisieren, als Gebiete verschiedenster kultureller Praktiken. Als Beispiele nennt er die ionische Säulenordnung (bis zum Ganges verbreitet), die Sonatensatzform in der Musik (zunächst in Österreich, Ungarn, Deutschland), die medizinische Vier-Säfte-Lehre (von Tibet bis ins lateinische Europa) oder die sefardische Aussprache hebräischer Gebete, die sich über Südfrankreich bis nach Tripolis ausdehnte. Alle diese Räume sind nicht deckungsgleich, die Ränder werden offen, die Überlappungen schier unendlich.
Das läuft auf eine enorme Kanonerweiterung heraus – weg vom Steinerschen Proust-Musil-Beethoven-Europa zu ganz anderen Mischungen, zu denen auch nordischer Heavy Metal zählen könnte. Die Einheit solcher Vielfalt sieht Hasse am Ende in den schon immer vorhandenen Vielvölkerstädten vorgelebt. Hasse nennt sie ausdrücklich nicht „multikulturell“, weil das Verschmelzungen suggerieren würde, die er ebenso vehement ablehnt wie die Vorstellung einer hegemonialen „Leitkultur“. Hasse präferiert die kühle Vorstellung eines rechtlich geordneten „Nebeneinanders“, in dem nicht „Loyalitäten“, sondern „Verpflichtungen“ das Zusammenleben der Verschiedenen sichern. Auf diese Unterscheidung Judith Shklars läuft seine Abhandlung hinaus.
Ein Europa als Rechts-, nicht als Wertegemeinschaft ist Hasses Resultat, das kein noch so kleines Überlieferungsstück verloren gehen lässt, die eigenen geistigen Potenziale nicht beschränkt und die fremder Kulturräume nicht ausschließt. Unterschiedenes bleibt gut. So wird „Europa“ von einem warmen zu einem kalten Begriff. Aber wie das so ist im orientalisch-europäischen Café: Hier dürfte das Gespräch in die nächste Runde gehen.
Nötig für unsere Idee von
Europa sind Entkolonialisierung
und Entromantisierung
„So lange es Kaffeehäuser gibt, so lange hat die europäische Idee einen Inhalt“, sagte einst George Steiner. Wusste er, dass das Kaffeehaus eine muslimisch-orientalische Erfindung ist? – Straßencafé in Frankreich 1965.
Foto: Imago Images
Dag Nikolaus Hasse: Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. Reclam, Ditzingen 2021. 137 Seiten, 12 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dag Nikolaus Hasses hat ein anregendes kleines Buch verfasst
zur großen Frage „Was ist europäisch?“
VON GUSTAV SEIBT
In einer mitreißenden Rede zur „Idee Europas“ verknüpfte George Steiner diese 2004 ganz wesentlich mit der Einrichtung des Kaffeehauses: „So lange es Kaffeehäuser gibt, so lange hat die europäische Idee einen Inhalt.“ Wie sympathisch! So zivil, lässig, niedrigschwellig, gleichzeitig doch so traditionsreich, literarisch, urban – man denkt unwillkürlich an Wien und Paris, an Karl Kraus und das Paar Sartre-Beauvoir. Sogar Emanuel Macron zitierte Steiners Motiv. Dumm nur, dass das Kaffeehaus eigentlich eine muslimisch-orientalische Erfindung ist, die in der frühen Neuzeit von Mekka und Kairo über Damaskus und Istanbul nach Venedig und Wien importiert wurde, ein klassisches Beispiel von Kulturtransfer.
Dag Nikolaus Hasse, der dieses Beispiel in einem sehr anregenden kleinen Buch zur großen Frage „Was ist europäisch?“ zitiert, ist Mittellateiner und Arabist mit Spezialisierung auf Wissenschaftsgeschichte. Das prädestiniert ihn zu präzisen Gegenrechnungen, wenn die großen Europa-Gleichungen aufgemacht werden. Es sind Gleichungen, die einen geographischen Raum mit „Ideen“, moralischen und kulturellen „Werten“ und bestimmten Traditionen in eins setzen, um daraus ein Angebot zur Identifikation zu gewinnen. Vom Atlantik bis zum Ural, vom Bosporus bis Gibraltar sollen große Synthesen – Athen, Rom, Jerusalem – oder zivilisatorische Errungenschaften – Aufklärung, Vernunft, Menschenrechte, Gewaltenteilung – gewonnen und vorherrschend geworden sein.
Dabei kommen kanonische Listen von Büchern und Kunstwerken, aber auch von Praktiken und Institutionen heraus, die „Europa“ ausmachen sollen. Doch die Gleichungen gehen nicht auf, zeigt Hasse. Entweder decken diese ideellen Konglomerate nicht den ganzen europäischen Raum ab, oder sie sind nicht exklusiv europäisch. Das mag als Ergebnis trivial sein, interessant ist aber, wie Hasse dies auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert. Er ordnet seine Argumente unter den Oberbegriffen von „Entkolonialisierung“ und „Entromantisierung“, beide für ihn dringend fällig für die Vorstellungen von Europa.
Entkolonialisierung meint dabei den Abbau des Hochmuts der Vernunft gegen vermeintlich weniger aufgeklärte Kulturen und Weltgegenden, die so exotisiert werden – der berüchtigte „Orientalismus“ ist das eklatanteste Beispiel. Hier hat der Kenner arabischer und indischer Wissenschaft, der Liebhaber chinesischer Überlieferungen ein leichtes Spiel. Auch beerbt solche aufklärerische Selbstüberhebung nur die religiöse Frontstellung der späten Türkenkriegszeit um 1700. Doch sie wirkte in den missionarischen Zügen des europäischen Kolonialismus nach, im Gegensatz von „Wilden“ und „Zivilisierten“.
Der Aufklärung folgten romantische Traditionsbildungen, die Europa wieder als Christenheit definierten, jedoch weniger konfessionell als kulturell und ästhetisch. Das steigert sich zum „abendländischen“ Athen-Rom-Jerusalem-Mythos, der Verbindung griechischer Kunst und Wissenschaft mit römischem Recht und Staat sowie den christlichen Vorstellungen von Nächstenliebe und Menschengleichheit vor Gott. Großer Akkord, tief heruntergedrücktes Pedal.
Doch „Jerusalem“ oder genauer „Golgatha“ beerbt den Alten Orient. Die griechische Kultur hinterließ ihre meisten Spuren in den Wüstensäumen vom Zweistromland bis Nordafrika, schon ihre Quellen verdankten sich orientalischen Wanderexperten, die Alphabetschrift und Mathematik brachten. „Rom“ griff das auf, regierte jedoch auch in Afrika und im vorderen Orient. Und „Nächstenliebe“, ethische Reziprozitätsvorstellungen lassen sich in zahlreichen außereuropäischen Kulturen von Indien bis Afrika nachweisen. Am Ende zeigen die suggestivsten Europafeiern – Hasse stellt neben Steiner noch Milan Kundera und Rémi Brague vor – immer nur partikulare Ausmalungen von individuellen geistigen Heimaten. Der Katholik Brague schließt das Luthertum aus, der Tscheche Kundera den orthodoxen Osten. Vom reichen europäischen Islam ist da noch gar nicht die Rede.
Doch manche von Hasses Siegen sind zu leicht. Denn man könnte ja argumentieren – und hat es getan –, die Besonderheit Europas bestehe gerade in der Spannung von Einheit und Vielfalt, beispielsweise in seinem vielgliedrigen neuzeitlichen Staatensystem, seiner damit verknüpften Multikonfessionalität, also eher einer Struktur als einem Ideengebäude. Und wenn Hasse gegen das Zerrbild vom religiösen Absolutismus im Islam festhält, dieser habe nie geistliche Herrschaften nach Art der europäischen Kirchenstaaten gekannt, dann könnte die Antwort lauten: Gerade die Verkirchlichung der Religion in Europa (also ihr Römisches) habe den Voraussetzungen für Trennungen und Säkularisierungen geschaffen: Mit einer Kirche kann man Verträge schließen, mit einer in die Lebenswelt verflochtenen Religion eher nicht. Und die Verrechtlichung der Trennung erleichtert dann auch die Befreiung der Lebenswelten von religiösen Vorgaben, man denke an Frauen- und Schwulenemanzipation. Damit wäre man bei Heinrich August Winklers Begriff vom „Westen“, mit dem Hasse sich gar nicht beschäftigt.
Was ist sein Gegenentwurf? Hasse möchte zu einem räumlichen Europa-Begriff zurückkehren, wie ihn das Mittelalter schon einmal hatte. Doch zugleich möchte er die Räume pluralisieren, als Gebiete verschiedenster kultureller Praktiken. Als Beispiele nennt er die ionische Säulenordnung (bis zum Ganges verbreitet), die Sonatensatzform in der Musik (zunächst in Österreich, Ungarn, Deutschland), die medizinische Vier-Säfte-Lehre (von Tibet bis ins lateinische Europa) oder die sefardische Aussprache hebräischer Gebete, die sich über Südfrankreich bis nach Tripolis ausdehnte. Alle diese Räume sind nicht deckungsgleich, die Ränder werden offen, die Überlappungen schier unendlich.
Das läuft auf eine enorme Kanonerweiterung heraus – weg vom Steinerschen Proust-Musil-Beethoven-Europa zu ganz anderen Mischungen, zu denen auch nordischer Heavy Metal zählen könnte. Die Einheit solcher Vielfalt sieht Hasse am Ende in den schon immer vorhandenen Vielvölkerstädten vorgelebt. Hasse nennt sie ausdrücklich nicht „multikulturell“, weil das Verschmelzungen suggerieren würde, die er ebenso vehement ablehnt wie die Vorstellung einer hegemonialen „Leitkultur“. Hasse präferiert die kühle Vorstellung eines rechtlich geordneten „Nebeneinanders“, in dem nicht „Loyalitäten“, sondern „Verpflichtungen“ das Zusammenleben der Verschiedenen sichern. Auf diese Unterscheidung Judith Shklars läuft seine Abhandlung hinaus.
Ein Europa als Rechts-, nicht als Wertegemeinschaft ist Hasses Resultat, das kein noch so kleines Überlieferungsstück verloren gehen lässt, die eigenen geistigen Potenziale nicht beschränkt und die fremder Kulturräume nicht ausschließt. Unterschiedenes bleibt gut. So wird „Europa“ von einem warmen zu einem kalten Begriff. Aber wie das so ist im orientalisch-europäischen Café: Hier dürfte das Gespräch in die nächste Runde gehen.
Nötig für unsere Idee von
Europa sind Entkolonialisierung
und Entromantisierung
„So lange es Kaffeehäuser gibt, so lange hat die europäische Idee einen Inhalt“, sagte einst George Steiner. Wusste er, dass das Kaffeehaus eine muslimisch-orientalische Erfindung ist? – Straßencafé in Frankreich 1965.
Foto: Imago Images
Dag Nikolaus Hasse: Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. Reclam, Ditzingen 2021. 137 Seiten, 12 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2022Statt Brüssel
Dag Nikolaus Hasse mustert Bestimmungen des Europäischen
Der Neigung wird oft nachgegeben, das Projekt Europa mit historischen Versuchen über das Europäische auszustaffieren. Wobei dann natürlich nicht von zwei Weltkriegen die Rede ist, Religionskriegen oder kolonialen Raubzügen, sondern eher von Wurzeln (griechischen, christlichen, römischen), von Demokratie, Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft. Die daraus resultierenden Elogen auf Europa sollen mehr oder minder nachdrücklich ein europäisches Gemeinschaftsgefühl stärken, das oft als zu schwach diagnostiziert wird. Dagegen wird der Rückgriff in die Geschichte aufgeboten.
Er ist freilich eine heikle und meist zu großzügig zugeschnittene Angelegenheit. Man kann sich davon in dem Essay überzeugen, den Dag Nikolaus Hasse, Würzburger Professor für Geschichte der Philosophie und insbesondere Experte ihrer arabischen Beiträge, dem Thema widmet. Er verzeichnet konzis die Fallstricke, über die ein aufs Ganze gehendes Lob des Europäischen bei etwas genauerer Betrachtung unweigerlich stolpert.
Das Mittelalter weiß fast noch nichts von Europa, das als kultureller Bezugsraum erst deutlich hervortritt, als es um die Abhebung von anderen Weltteilen geht, die mehr oder minder deutlich auf die Ränge verwiesen werden oder allenfalls zu historischen Vergleichsbeispielen der Größe, die Europa mittlerweile erreicht hatte, herangezogen werden. Das ist selbstredend keine gute Voraussetzung für eine solide Einschätzung europäischer Leistungen im Vergleich zu anderen Weltgegenden und Kulturräumen.
Geht man zentrale Motive durch, die die Bestimmung des Europäischen (durch Europäer) tragen, bleibt denn auch an Allgemeingültigem wenig übrig. Entweder hat sich gezeigt, dass die in Frage stehenden Leistungen durchaus auch außereuropäische Ausprägungen haben. Oder es wird von den zur Eloge ansetzenden Autoren als schlicht europäisch verbucht, was allenfalls in bestimmten kulturellen Teilräumen zu finden war - und noch dazu oft in solchen, welche das intendierte Lob des Europäischen gar nicht im Blick hatte; so etwa im Fall seiner muslimischen oder jüdischen Anteile, die insbesondere dann verdeckt werden, wenn das Christentum als eine zentrale Bestimmung des Europäischen hingestellt wird. Womit der Übergang von der kolonial geprägten Selbstüberschätzung des vermeintlich Europäischen zu seiner romantischen Verklärung gemacht ist, die der Untertitel des Essays anvisiert.
Die kulturellen Traditionen, die das Europäische ausmachen sollen, werden in ihm bündig behandelt. Wissenschaft - war kein Neustart bei den Griechen, trotz Euklid, und überdies wäre aus ihr keine tragende Überlieferung geworden, wenn nicht außereuropäische, insbesondere arabische Autoren wissenschaftliche Traditionen am Leben gehalten hätten. Demokratie - kam als Modus der Gesellschaftsorganisation nicht bloß im antiken Griechenland, sondern auch in anderen Weltgegenden auf. Aufklärung - war keine europäische Spezialität im Umgang mit heiligen Texten und ihren Verwaltern, und zudem ließe sich anfügen, dass hoher Aufklärungsbedarf in europäischen Landen gerade deshalb bestand, weil sich dort geistliche und weltliche Macht in einem besonders hohen Maße ineinander verschränkt hatten.
Und wenn es von solchen hoch ansetzenden Bestimmungen zu etwas bescheideneren Angaben von typisch europäischen kulturellen Traditionen geht, wird die Sache nicht überzeugender. Hasse zeigt an einschlägigen Versuchen, wie dann jeweils ein bestimmter kultureller Teilraum zum Statthalter "des Europäischen" promoviert wird.
Das vielleicht nicht überraschende, aber in der bündigen Behandlung lehrreich erreichte Resümee: Keine Essenz europäischer Kultur lässt sich bestimmen, sondern ein Netz kultureller Formen und Praktiken. Was natürlich nicht gegen das europäische Projekt spricht, sondern nur zeigt, dass ihm die allzu großzügigen Beschwörungen eines einigenden kulturellen Erbes gar nicht gerecht werden. Jenseits der Loyalität zu politisch-rechtlichen Rahmungen ist auf allumfassende Gemeinschaftsgefühle, die durch ein solches Erbe zu stabilisieren wären, ohnehin nicht zu setzen. HELMUT MAYER
Dag Nikolaus Hasse: "Was ist europäisch?" Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 137 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dag Nikolaus Hasse mustert Bestimmungen des Europäischen
Der Neigung wird oft nachgegeben, das Projekt Europa mit historischen Versuchen über das Europäische auszustaffieren. Wobei dann natürlich nicht von zwei Weltkriegen die Rede ist, Religionskriegen oder kolonialen Raubzügen, sondern eher von Wurzeln (griechischen, christlichen, römischen), von Demokratie, Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft. Die daraus resultierenden Elogen auf Europa sollen mehr oder minder nachdrücklich ein europäisches Gemeinschaftsgefühl stärken, das oft als zu schwach diagnostiziert wird. Dagegen wird der Rückgriff in die Geschichte aufgeboten.
Er ist freilich eine heikle und meist zu großzügig zugeschnittene Angelegenheit. Man kann sich davon in dem Essay überzeugen, den Dag Nikolaus Hasse, Würzburger Professor für Geschichte der Philosophie und insbesondere Experte ihrer arabischen Beiträge, dem Thema widmet. Er verzeichnet konzis die Fallstricke, über die ein aufs Ganze gehendes Lob des Europäischen bei etwas genauerer Betrachtung unweigerlich stolpert.
Das Mittelalter weiß fast noch nichts von Europa, das als kultureller Bezugsraum erst deutlich hervortritt, als es um die Abhebung von anderen Weltteilen geht, die mehr oder minder deutlich auf die Ränge verwiesen werden oder allenfalls zu historischen Vergleichsbeispielen der Größe, die Europa mittlerweile erreicht hatte, herangezogen werden. Das ist selbstredend keine gute Voraussetzung für eine solide Einschätzung europäischer Leistungen im Vergleich zu anderen Weltgegenden und Kulturräumen.
Geht man zentrale Motive durch, die die Bestimmung des Europäischen (durch Europäer) tragen, bleibt denn auch an Allgemeingültigem wenig übrig. Entweder hat sich gezeigt, dass die in Frage stehenden Leistungen durchaus auch außereuropäische Ausprägungen haben. Oder es wird von den zur Eloge ansetzenden Autoren als schlicht europäisch verbucht, was allenfalls in bestimmten kulturellen Teilräumen zu finden war - und noch dazu oft in solchen, welche das intendierte Lob des Europäischen gar nicht im Blick hatte; so etwa im Fall seiner muslimischen oder jüdischen Anteile, die insbesondere dann verdeckt werden, wenn das Christentum als eine zentrale Bestimmung des Europäischen hingestellt wird. Womit der Übergang von der kolonial geprägten Selbstüberschätzung des vermeintlich Europäischen zu seiner romantischen Verklärung gemacht ist, die der Untertitel des Essays anvisiert.
Die kulturellen Traditionen, die das Europäische ausmachen sollen, werden in ihm bündig behandelt. Wissenschaft - war kein Neustart bei den Griechen, trotz Euklid, und überdies wäre aus ihr keine tragende Überlieferung geworden, wenn nicht außereuropäische, insbesondere arabische Autoren wissenschaftliche Traditionen am Leben gehalten hätten. Demokratie - kam als Modus der Gesellschaftsorganisation nicht bloß im antiken Griechenland, sondern auch in anderen Weltgegenden auf. Aufklärung - war keine europäische Spezialität im Umgang mit heiligen Texten und ihren Verwaltern, und zudem ließe sich anfügen, dass hoher Aufklärungsbedarf in europäischen Landen gerade deshalb bestand, weil sich dort geistliche und weltliche Macht in einem besonders hohen Maße ineinander verschränkt hatten.
Und wenn es von solchen hoch ansetzenden Bestimmungen zu etwas bescheideneren Angaben von typisch europäischen kulturellen Traditionen geht, wird die Sache nicht überzeugender. Hasse zeigt an einschlägigen Versuchen, wie dann jeweils ein bestimmter kultureller Teilraum zum Statthalter "des Europäischen" promoviert wird.
Das vielleicht nicht überraschende, aber in der bündigen Behandlung lehrreich erreichte Resümee: Keine Essenz europäischer Kultur lässt sich bestimmen, sondern ein Netz kultureller Formen und Praktiken. Was natürlich nicht gegen das europäische Projekt spricht, sondern nur zeigt, dass ihm die allzu großzügigen Beschwörungen eines einigenden kulturellen Erbes gar nicht gerecht werden. Jenseits der Loyalität zu politisch-rechtlichen Rahmungen ist auf allumfassende Gemeinschaftsgefühle, die durch ein solches Erbe zu stabilisieren wären, ohnehin nicht zu setzen. HELMUT MAYER
Dag Nikolaus Hasse: "Was ist europäisch?" Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 137 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dag Nikolaus Hasse hat ein anregendes kleines Buch verfasst zur großen Frage 'Was ist europäisch?' [...] - auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert.« Süddeutsche Zeitung, 09.12.2021 »Ein kluger und klar geschriebener Essay. Dag Nikolaus Hasse feiert die Vielfalt Europas.« FOCUS, 08.01.2022
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Helmut Mayer findet das Fazit des Buches des Historikers Dag Nikolaus Hasse zwar nicht überraschend, wie der Autor die "Fallstricke" eines auf ein irgendwie gemeinschaftliches Europa abzielenden Lobes aufzeigt, scheint ihm aber dennoch lesenswert und lehrreich. Konzis und anhand zentraler Motive und Traditionen wie Wissenschaft, Demokratie und Aufklärung zeigt der Autor laut Mayer, dass im Zweifelsfall muslimische oder jüdische Anteile großzügig ausgeklammert werden, um einen europäischen Sonderweg zu beschwören. Was europäische Kultur ausmacht, so lernt Wagner, lässt sich allenfalls als "Netz kultureller Formen und Praktiken" bestimmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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