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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die beste aller suboptimalen Regierungsformen: Elif Özmen erläutert den Liberalismus
Die liberale Demokratie ist von allen Seiten unter Beschuss. Rechtspopulisten und AfD-Anhänger verachten den liberalen Staat als schwach und dekadent. Linke Kapitalismuskritiker schimpfen auf den Neoliberalismus und die Entfesselung der Märkte. Und woke Aktivisten schmähen die Gründungsväter des Liberalismus Rassisten und nennen die Menschenrechte eine Anmaßung des Westens. Die einen empfinden die demokratischen Aushandlungsprozesse als Zumutung und sehnen sich nach autoritärer Herrschaft. Die anderen misstrauen dem Individuum und wollen Menschen wieder nach ihrer Gruppenzugehörigkeit einordnen.
Angesichts dieser Krise kommt der schmale Suhrkamp-Band von Elif Özmen gerade recht. "Was ist Liberalismus?", fragt die Professorin für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und antwortet mit drei Worten: Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Das ist für Özmen der Kern aller liberalen Theorien. Nicht Gott, sondern das Individuum ist der Maßstab. Doch anders als von Vulgärliberalen und Hardcore-Libertären behauptet, braucht es den Staat, der Gleichheit garantiert - nicht in den Ergebnissen, wohl aber in den Voraussetzungen. Denn nur so, argumentiert Özmen in Anlehnung an John Rawls, können alle Bürger ihre Freiheitsrechte auch ausüben. Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit" ist Özmens Waffe gegen die Ego-Show der Neoliberalen, denn sie zeigt, dass der Sozialstaat mit Wettbewerb und Leistung vereinbar ist.
Den Zerrbildern setzt Özmen eine präzise "Landkarte der Philosophie des Liberalismus" entgegen. Es geht ihr dabei nicht um eine neue Spielart oder Deutung des Liberalismus, sondern darum, das Gemeinsame aller liberalen Theorien herauszuarbeiten. Das ist verdienstvoll. Denn es ist so selbstverständlich geworden, über die Krise der liberalen Demokratie zu reden, dass eine fundierte Selbstvergewisserung nottut. Es ist kein Triumphzug, zu dem Özmen da antritt. Es ist der bescheidene Versuch, die liberale Demokratie als beste aller suboptimalen Möglichkeiten zu verteidigen: "Alles in allem ist die liberale Demokratie die schlechteste Regierungs- und Lebensform, abgesehen von allen anderen", wie Özmen in leichter Abwandlung zu Churchill schließt. Der Liberalismus, den Özmen vertritt, hegt keinen Anspruch auf Wahrheit. Er will seine Bürger weder formen noch erziehen, schützt sogar ihre illiberale Gesinnung, solange sie die Freiheit anderer nicht verletzen.
Der liberale Staat fordert nur "ein Minimum an politischer Verbindlichkeit", nämlich jene Regeln des Zusammenlebens, auf die sich freie, gleiche Individuen "unter dem Schleier des Nichtwissens" vernünftigerweise einigen würden, wenn sie von ihren spezifischen Belangen absähen und die der Allgemeinheit in den Blick nähmen.
Kann eine solche Ordnung perfekt sein? Natürlich nicht. Aber liberale Demokratie ist korrektur- und lernfähig. Schon Olympe de Gouges hielt den französischen Revolutionären vor, sich nicht an ihre Ideale zu halten: "Ihr habt erklärt, dass alle Personen gleich sind. Und doch duldet ihr alle Tage, dass 13 Millionen Sklavinnen die Ketten von 13 Millionen Tyrannen tragen." Für ihre Forderung nach gleichen Rechten für Frauen und Sklaven wurde sie geköpft, doch der Geist war aus der Flasche. Die liberale Idee war viel revolutionärer als ihre Schöpfer - und wartet bis heute auf Vollendung. Die ungleichen Zugänge zu Ressourcen und Macht im Hier und Jetzt zeigen nicht die Untauglichkeit der liberalen Demokratie, sondern nur die Unzulänglichkeit ihrer Umsetzung. Einen Endpunkt gibt es nicht. Konflikte und Spannungen, das stetige Aushandeln und Austarieren von Interessen und Perspektiven gehören dazu.
Nicht jede Kritik ist für Özmen allerdings vereinbar mit dem Liberalismus. Dogmatiker und Fundamentalisten weist die Autorin in ihre Schranken, ebenso - und das ist schon überraschender - Kulturrelativisten. Indem Özmen die postkoloniale, feministische oder auch kommunitaristische Kritik zurückweist, kommt sie zurück zu einem Liberalismus alter Schule, der noch universelle Geltung beanspruchte. Die relativistischen Kritiker nämlich monieren, dass der Liberalismus eine Idee weißer Männer sei, die man anderen Kulturen nicht einfach überstülpen könne. So blind wie diese Männer gegenüber anderen Werten und Traditionen seien, so untauglich seien ihre europäischen Begriffe von Freiheit und Vernunft für andere Völker. Dieses kulturrelativistische Denken aber führt letztlich zu einem zynischen Schulterzucken angesichts von Leid und Unfreiheit: Sollen die anderen etwa in Diktaturen darben, während wir hier frei leben? Das würde den Diktatoren dieser Welt wohl gut passen. Wie aber erklärt man das jenen, die in Iran oder Russland für die Ideen der westlichen liberalen Demokratien ihr Leben riskieren?
Nein, einen so schwachen und gleichgültigen Liberalismus will Özmen nicht hochhalten und wendet sich damit auch gegen den späten Rawls, der unter dem Druck der kulturrelativistischen Kritik seine eigene Theorie abgeschwächt habe. Özmen kehrt deshalb lieber zu seinem Frühwerk und einem älteren, selbstbewussteren Liberalismus zurück, wie ihn schon Locke, Mill und Kant vertraten: einen mit "einem objektivem Geltungsanspruch". Ohne diesen Geltungsanspruch nämlich wäre der Liberalismus nichts weiter als eine sektiererische Lehre, gut und passend für die Bürger des Westens, für alle anderen aber nicht. Ein solcher Liberalismus aber, argumentiert Özmen überzeugend, verzwerge sich selbst und sei niemandem mehr zu vermitteln. Diese kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Liberalismus gehört zu den stärksten Stellen des Buches.
Noch stärker wäre das Buch, wenn es nicht auf allen Ebenen abstrakt bliebe. Auf Bezüge ins Hier und Jetzt wartet man vergeblich, auf Fallbeispiele ebenfalls. Auch da, wo Özmen die Ideengeschichte des Liberalismus nachzeichnet, fehlt der historische Kontext, in dem sich diese Theorien entwickelten. Beiläufig erwähnt Özmen den Siegeszug des Liberalismus von der "Glorious Revolution" in England bis zur französischen Erklärung der Menschenrechte, doch weder von Faschismus und Kommunismus noch vom Kalten Krieg und dem "Ende der Geschichte" ist die Rede. Kurz ploppen Donald Trumps "Alternative Facts" als existenzielle Bedrohung für den Liberalismus auf, ansonsten schreibt Özmen im luftleeren Raum: Da gibt es keine AfD, keinen Rassemblement National und keine Fratelli d'Italia. Es gibt keine Cancel Culture, keine Klimakleber und keine Sprachkonflikte. Es gibt keinen Wladimir Putin und keinen Xi Jinping. Das ist schade, denn die Welt ist voller Fragen, die man gern auf ihre theoretischen Antworten hin abklopfen würde.
Ebenfalls schade: Özmens Verteidigung des Liberalismus ist zwar einleuchtend, aber nicht leidenschaftlich. Man muss sich erst auf die wissenschaftliche Sprache einlassen, um sich von ihrem Plädoyer überzeugen zu lassen. Der Band gibt zwar auch nicht vor, etwas anderes zu sein als eine theoretische Abhandlung - und trotzdem wünschte man sich, er würde ein breiteres Publikum ansprechen als ein rein wissenschaftliches. Die Verächter des Liberalismus schimpfen schließlich aus voller Kehle - da sollten auch die Verteidiger klar und einfach sprechen. Und sie sollten die Bestsellerlisten auch nicht ausschließlich den Freiheits-Darwinisten und Ego-Fundamentalisten überlassen. LIVIA GERSTER
Elif Özmen: Was ist Liberalismus?
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2023. 208 S., 18,- Euro.
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