Wer wird heute nicht alles als Populist bezeichnet: Gegner der Eurorettung, Figuren wie Marine Le Pen, Politiker des Mainstream, die meinen, dem Volk aufs Maul schauen zu müssen. Vielleicht ist ein Populist aber auch einfach nur ein populärer Konkurrent, dessen Programm man nicht mag, wie Ralf Dahrendorf einmal anmerkte? Lässt sich das Phänomen schärfer umreißen und seine Ursachen erklären? Worin besteht der Unterschied zwischen Rechts- und Linkspopulismus? Jan-Werner Müller nimmt aktuelle Entwicklungen zum Ausgangspunkt, um eine Theorie des Populismus zu skizzieren und Populismus letztlich klar von der Demokratie abzugrenzen. Seine Thesen helfen zudem, neue Strategien in der Auseinandersetzung mit Populisten zu entwickeln.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Günter Beyer hätte dem Essay des Politologen Jan-Werner Müller zum Thema Populismus etwas mehr Biss gewünscht. Dass der Autor nicht von oben herab richten, sondern das Phänomen diskutieren möchte, scheint ihm richtig. Wie Populismus und Rechtsradikalismus zusammenhängen, darauf macht der Autor ihm allerdings zu wenig aufmerksam. Immerhin: Der Schwammigkeit des Begriffs rückt der Autor laut Rezensent mit ideengeschichtlichen Bohrungen im Nährboden des Populismus zu Leibe und legt dessen antidemokratische Strömungen frei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2016„Nur wir sind das Volk“
Der Politologe Jan-Werner Müller beleuchtet das Phänomen des Populismus – statt der Ausgrenzung empfiehlt er eine Reflexion über Demokratie
Der Künstler Hans Haacke bewies im Jahre 2000 feines Gespür. Er installierte im Deutschen Bundestag eine Lichtskulptur mit dem Schriftzug „Der Bevölkerung“. Seine Typografie korrespondiert mit der 1916 am Westportal eingemeißelten Widmung „Dem deutschen Volke“. Für wen also ist das Parlament da? Wen schließt es aus? „Das Volk“, „das deutsche Volk“ gar, ist ein heikler Adressat.
Gleichwohl scheint niemand am „Volk“ vorbeizukommen, der politisch wirken will. Alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus, sagt das Grundgesetz. Urteile werden „im Namen des Volkes“ gefällt. Auf ein angebliches Mandat des Volkes beruft sich laut der „Populismus“. Die Bezeichnung verwenden – zumindest in Europa – eher Gegner der Populisten als populistische Bewegungen selbst. „Populist“ ist ein schwammiges Schmähwort, Populisten treten im politischen Geschäft unter linken wie rechten Vorzeichen auf. Für den deutschen Politologen Jan-Werner Müller, Jahrgang 1970, sind diese Vieldeutigkeiten allemal Anlass zu fragen: „Was ist Populismus?“
Müller lehrt seit 2005 politische Theorie und Ideengeschichte im US-amerikanischen Princeton. Sein Essay liefert keine „Enthüllungen“ zu Phänomen wie Pegida oder der bei den jüngsten Landtagswahlen erfolgreichen Alternative für Deutschland (AfD), sondern versteht sich als „kritische Theorie des Populismus“. Als Ideengeschichtler interessiert Müller der gemeinsame ideologische Nährboden so unterschiedlicher Strömungen wie Viktor Orbáns Fidesz-Partei, des französischen Front National oder der lateinamerikanischen Varianten im Gefolge des einstigen Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez. Das populistische Credo laute schlicht: „Wir sind das Volk!“ – mit dem verräterischen Zusatz: „Nur wir sind das Volk“. Die Populisten wollen demnach das „wahre Volk“ aus der empirischen Gesamtheit der Bevölkerung „herauspräparieren“, wie der französische Philosoph Claude Lefort sarkastisch formulierte. Populisten sind stets antipluralistisch und insofern antidemokratisch. Sie erheben einen moralischen Alleinvertretungsanspruch, für den es keinen empirischen Beleg gibt.
Als „Schatten der repräsentativen Demokratie“ ist Populismus ein relativ junges Phänomen. Demagogen trieben schon in der Antike ihr Unwesen, aber Populismus setzt eine gewisse Etabliertheit – oder eher: Abnutzungsroutine – der repräsentativen Demokratie voraus. Populisten wollen glauben machen: Die „da oben“, die gewählte Elite, hat abgewirtschaftet, das „wahre Volk“ kann alles besser.
Müller widerspricht landläufigen Vorstellungen, Populisten seien stets „Modernisierungsverlierer“, die sich als abstiegsbedrohte Klein- und „Wutbürger“ radikalisieren. Untersuchungen zeigen, dass es Populisten persönlich gar nicht einmal schlecht gehen müsse. Die Betroffenen seien aber überzeugt, dass es mit dem Land insgesamt bergab ginge. Internationale Organisationen – wie etwa die EU-Kommission, gern nur „Brüssel“ genannt – haben in ihren Augen viel zu viel Einfluss. „Wir wollen unser Land zurück!“, sei deshalb populistischer Common Sense der selbst-ernannten „Patrioten“. Leider thematisiert Jan-Werner Müller die fließenden Übergänge zum Rechtsradikalismus nur beiläufig. Rechte Populisten setzen auf die Stärkung des Nationalstaats. Auch der linke Populismus fordert dessen globalisierungskritische Neubelebung.
Wie aber sollen Demokraten mit Populisten umgehen? Müller will nicht von oben herab über sie richten und von vornherein ausgrenzen, sondern „erst einmal diskutieren“. Populismus sei ein Phänomen, das zum Nachdenken zwinge, „was wir von der Demokratie erwarten“. Das klingt anstrengend, aber vermutlich gibt es für den Umgang mit Populisten kein besseres Rezept.
GÜNTER BEYER
Günter Beyer ist freier Journalist in Bremen.
Nicht unbedingt sind
die Wutbürger immer
Modernisierungsverlierer
Jan-Werner Müller:
Was ist Populismus? Ein Essay. Edition Suhrkamp Berlin 2016. 160 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Politologe Jan-Werner Müller beleuchtet das Phänomen des Populismus – statt der Ausgrenzung empfiehlt er eine Reflexion über Demokratie
Der Künstler Hans Haacke bewies im Jahre 2000 feines Gespür. Er installierte im Deutschen Bundestag eine Lichtskulptur mit dem Schriftzug „Der Bevölkerung“. Seine Typografie korrespondiert mit der 1916 am Westportal eingemeißelten Widmung „Dem deutschen Volke“. Für wen also ist das Parlament da? Wen schließt es aus? „Das Volk“, „das deutsche Volk“ gar, ist ein heikler Adressat.
Gleichwohl scheint niemand am „Volk“ vorbeizukommen, der politisch wirken will. Alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus, sagt das Grundgesetz. Urteile werden „im Namen des Volkes“ gefällt. Auf ein angebliches Mandat des Volkes beruft sich laut der „Populismus“. Die Bezeichnung verwenden – zumindest in Europa – eher Gegner der Populisten als populistische Bewegungen selbst. „Populist“ ist ein schwammiges Schmähwort, Populisten treten im politischen Geschäft unter linken wie rechten Vorzeichen auf. Für den deutschen Politologen Jan-Werner Müller, Jahrgang 1970, sind diese Vieldeutigkeiten allemal Anlass zu fragen: „Was ist Populismus?“
Müller lehrt seit 2005 politische Theorie und Ideengeschichte im US-amerikanischen Princeton. Sein Essay liefert keine „Enthüllungen“ zu Phänomen wie Pegida oder der bei den jüngsten Landtagswahlen erfolgreichen Alternative für Deutschland (AfD), sondern versteht sich als „kritische Theorie des Populismus“. Als Ideengeschichtler interessiert Müller der gemeinsame ideologische Nährboden so unterschiedlicher Strömungen wie Viktor Orbáns Fidesz-Partei, des französischen Front National oder der lateinamerikanischen Varianten im Gefolge des einstigen Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez. Das populistische Credo laute schlicht: „Wir sind das Volk!“ – mit dem verräterischen Zusatz: „Nur wir sind das Volk“. Die Populisten wollen demnach das „wahre Volk“ aus der empirischen Gesamtheit der Bevölkerung „herauspräparieren“, wie der französische Philosoph Claude Lefort sarkastisch formulierte. Populisten sind stets antipluralistisch und insofern antidemokratisch. Sie erheben einen moralischen Alleinvertretungsanspruch, für den es keinen empirischen Beleg gibt.
Als „Schatten der repräsentativen Demokratie“ ist Populismus ein relativ junges Phänomen. Demagogen trieben schon in der Antike ihr Unwesen, aber Populismus setzt eine gewisse Etabliertheit – oder eher: Abnutzungsroutine – der repräsentativen Demokratie voraus. Populisten wollen glauben machen: Die „da oben“, die gewählte Elite, hat abgewirtschaftet, das „wahre Volk“ kann alles besser.
Müller widerspricht landläufigen Vorstellungen, Populisten seien stets „Modernisierungsverlierer“, die sich als abstiegsbedrohte Klein- und „Wutbürger“ radikalisieren. Untersuchungen zeigen, dass es Populisten persönlich gar nicht einmal schlecht gehen müsse. Die Betroffenen seien aber überzeugt, dass es mit dem Land insgesamt bergab ginge. Internationale Organisationen – wie etwa die EU-Kommission, gern nur „Brüssel“ genannt – haben in ihren Augen viel zu viel Einfluss. „Wir wollen unser Land zurück!“, sei deshalb populistischer Common Sense der selbst-ernannten „Patrioten“. Leider thematisiert Jan-Werner Müller die fließenden Übergänge zum Rechtsradikalismus nur beiläufig. Rechte Populisten setzen auf die Stärkung des Nationalstaats. Auch der linke Populismus fordert dessen globalisierungskritische Neubelebung.
Wie aber sollen Demokraten mit Populisten umgehen? Müller will nicht von oben herab über sie richten und von vornherein ausgrenzen, sondern „erst einmal diskutieren“. Populismus sei ein Phänomen, das zum Nachdenken zwinge, „was wir von der Demokratie erwarten“. Das klingt anstrengend, aber vermutlich gibt es für den Umgang mit Populisten kein besseres Rezept.
GÜNTER BEYER
Günter Beyer ist freier Journalist in Bremen.
Nicht unbedingt sind
die Wutbürger immer
Modernisierungsverlierer
Jan-Werner Müller:
Was ist Populismus? Ein Essay. Edition Suhrkamp Berlin 2016. 160 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Gute Wir gegen böse Andere
Jan-Werner Müller versucht, den Populismus zu erklären.
Von Marian Nebelin
Nicht nur in den meisten europäischen Staaten, sondern weltweit befinden sich Populisten und populistische Parteien auf dem Vormarsch. In einigen Staaten Südamerikas und Osteuropas stellen Populisten die Regierung; in den Vereinigten Staaten kämpft Donald Trump um die Präsidentschaft, und in Deutschland agitiert die rechtsextreme AfD. Diese Entwicklungen werfen Fragen auf: Wann sind Politiker Populisten? Wie wirkt sich ihr Handeln auf demokratische Gesellschaften aus? Wie soll man mit Populisten "auf demokratische Weise" umgehen? Auf diese drei Fragen versucht Jan-Werner Müller in einem pointiert und flüssig geschriebenen Essay Antworten zu geben. Überzeugen seine Antworten auf die ersten beiden Fragen, so scheitert er an der entscheidenden dritten Frage.
Zunächst entfaltet Müller eine Definition von Populismus, die historisch fundiert sein soll, den verschiedenen nationalen Erscheinungsformen Rechnung trägt und dennoch Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Populismus ist demnach eine Form politischen Handelns, die sich durch die Berufung auf eine positive Volksvorstellung zu legitimieren sucht. Dabei ist sie tendenziell antielitär, vor allem aber antipluralistisch. Diese klare Bestimmung setzt sich zwar über Feinheiten hinweg, ist jedoch für die Erörterung des Verhältnisses von Demokratie und Populismus überzeugend. Denn es ist die antipluralistische Dimension des Populismus, die ihn "zweifelsohne antidemokratisch" macht.
Laut Müller ist in einer Demokratie die Frage der Zugehörigkeit zum souveränen Volk letztlich eine entscheidende, jedoch beständig im Fluss befindliche Angelegenheit der öffentlichen Debatte. Populisten würden demgegenüber auf einer vermeintlich empirischen Natur des Volkes beharren, vermöchten diese jedoch de facto nur über eine im Kern moralische Entscheidung zu konstituieren: Einem guten Wir werden die bösen Anderen gegenübergestellt. Deshalb seien die Populisten ein spezifisch modernes Phänomen: Anders als in der direkten Demokratie des klassischen Athens sei es in einer repräsentativen Demokratie möglich, zu behaupten, dass man selbst jemand anderen - etwa das "gute wahre Volk" - in den politischen Institutionen wahrhaftig vertrete, während alle anderen dies nicht tun würden.
Zur Praxis populistischer Politik gehören drei Handlungsstrategien: polarisieren, moralisieren und Feinde identifizieren. Wenn sie dann die Macht erlangt haben, pflegen Populisten Müller zufolge "einen ganz eigenen Regierungsstil" mit bestimmten Herrschaftstechniken, die auf einen "real praktizierten Antipluralismus" hinausliefen: Sie vereinnahmten den gesamten Staat für sich, pflegten "Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus" und diskreditierten jedwede Opposition. Daraus ergibt sich Müllers Antwort auf die zweite Frage: Vermag populistische Politik demokratische Gemeinschaften auch nicht notwendig zu zerstören, so beschädigt sie doch nachhaltig das Funktionieren jeder repräsentativen Demokratie.
Den gegenwärtigen Populismus in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten führt Müller konkret darauf zurück, dass "die Europäer schon lange in einem stahlharten Gehäuse eingeschränkter Demokratie leben"; dazu kämen "Erfahrungen des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins". All dies habe bei vielen Bürgern zu dem Wunsch geführt, irgendwie "illegitime Macht unter Kontrolle zu bringen" - ein Anliegen, das die Populisten für sich nutzen können. Diese Diagnose nimmt Müller als Ausgangspunkt, um die dritte Frage zu beantworten. Bei dem Versuch, Alternativen und Gegenmaßnahmen aufzuzeigen, verliert er sich jedoch einerseits in unkonkreten Überlegungen: So erwägt er beispielsweise, ob auf die besagte Krise der EU nicht "eine supranationale Demokratie" die beste Reaktion wäre - ohne allerdings die Form dieser Demokratie und den Weg zu ihrer Realisierung näher zu erörtern. Andererseits bezieht er sich auf Gemeinplätze: So unterstreicht er grundsätzlich, dass zur Wahrung eines "zivilisierten Pluralismus" in einer demokratischen Gesellschaft eben auch gehöre, populistische Politiker nicht grundsätzlich aus dem politischen Diskurs auszuschließen - das sei nicht nur wenig erfolgversprechend, sondern auch antipluralistisch.
Jan Werner Müller vermag also leider keinen Königsweg aufzuzeigen. Aber es gelingt ihm, Populismus als Phänomen verständlich zu machen - und das ist eine bedeutende Leistung. Denn auch für die Probleme, die der moderne Populismus aufwirft, gilt der Grundsatz, dass Verstehen die Voraussetzung für ihre Lösung ist.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 160 S., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jan-Werner Müller versucht, den Populismus zu erklären.
Von Marian Nebelin
Nicht nur in den meisten europäischen Staaten, sondern weltweit befinden sich Populisten und populistische Parteien auf dem Vormarsch. In einigen Staaten Südamerikas und Osteuropas stellen Populisten die Regierung; in den Vereinigten Staaten kämpft Donald Trump um die Präsidentschaft, und in Deutschland agitiert die rechtsextreme AfD. Diese Entwicklungen werfen Fragen auf: Wann sind Politiker Populisten? Wie wirkt sich ihr Handeln auf demokratische Gesellschaften aus? Wie soll man mit Populisten "auf demokratische Weise" umgehen? Auf diese drei Fragen versucht Jan-Werner Müller in einem pointiert und flüssig geschriebenen Essay Antworten zu geben. Überzeugen seine Antworten auf die ersten beiden Fragen, so scheitert er an der entscheidenden dritten Frage.
Zunächst entfaltet Müller eine Definition von Populismus, die historisch fundiert sein soll, den verschiedenen nationalen Erscheinungsformen Rechnung trägt und dennoch Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Populismus ist demnach eine Form politischen Handelns, die sich durch die Berufung auf eine positive Volksvorstellung zu legitimieren sucht. Dabei ist sie tendenziell antielitär, vor allem aber antipluralistisch. Diese klare Bestimmung setzt sich zwar über Feinheiten hinweg, ist jedoch für die Erörterung des Verhältnisses von Demokratie und Populismus überzeugend. Denn es ist die antipluralistische Dimension des Populismus, die ihn "zweifelsohne antidemokratisch" macht.
Laut Müller ist in einer Demokratie die Frage der Zugehörigkeit zum souveränen Volk letztlich eine entscheidende, jedoch beständig im Fluss befindliche Angelegenheit der öffentlichen Debatte. Populisten würden demgegenüber auf einer vermeintlich empirischen Natur des Volkes beharren, vermöchten diese jedoch de facto nur über eine im Kern moralische Entscheidung zu konstituieren: Einem guten Wir werden die bösen Anderen gegenübergestellt. Deshalb seien die Populisten ein spezifisch modernes Phänomen: Anders als in der direkten Demokratie des klassischen Athens sei es in einer repräsentativen Demokratie möglich, zu behaupten, dass man selbst jemand anderen - etwa das "gute wahre Volk" - in den politischen Institutionen wahrhaftig vertrete, während alle anderen dies nicht tun würden.
Zur Praxis populistischer Politik gehören drei Handlungsstrategien: polarisieren, moralisieren und Feinde identifizieren. Wenn sie dann die Macht erlangt haben, pflegen Populisten Müller zufolge "einen ganz eigenen Regierungsstil" mit bestimmten Herrschaftstechniken, die auf einen "real praktizierten Antipluralismus" hinausliefen: Sie vereinnahmten den gesamten Staat für sich, pflegten "Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus" und diskreditierten jedwede Opposition. Daraus ergibt sich Müllers Antwort auf die zweite Frage: Vermag populistische Politik demokratische Gemeinschaften auch nicht notwendig zu zerstören, so beschädigt sie doch nachhaltig das Funktionieren jeder repräsentativen Demokratie.
Den gegenwärtigen Populismus in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten führt Müller konkret darauf zurück, dass "die Europäer schon lange in einem stahlharten Gehäuse eingeschränkter Demokratie leben"; dazu kämen "Erfahrungen des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins". All dies habe bei vielen Bürgern zu dem Wunsch geführt, irgendwie "illegitime Macht unter Kontrolle zu bringen" - ein Anliegen, das die Populisten für sich nutzen können. Diese Diagnose nimmt Müller als Ausgangspunkt, um die dritte Frage zu beantworten. Bei dem Versuch, Alternativen und Gegenmaßnahmen aufzuzeigen, verliert er sich jedoch einerseits in unkonkreten Überlegungen: So erwägt er beispielsweise, ob auf die besagte Krise der EU nicht "eine supranationale Demokratie" die beste Reaktion wäre - ohne allerdings die Form dieser Demokratie und den Weg zu ihrer Realisierung näher zu erörtern. Andererseits bezieht er sich auf Gemeinplätze: So unterstreicht er grundsätzlich, dass zur Wahrung eines "zivilisierten Pluralismus" in einer demokratischen Gesellschaft eben auch gehöre, populistische Politiker nicht grundsätzlich aus dem politischen Diskurs auszuschließen - das sei nicht nur wenig erfolgversprechend, sondern auch antipluralistisch.
Jan Werner Müller vermag also leider keinen Königsweg aufzuzeigen. Aber es gelingt ihm, Populismus als Phänomen verständlich zu machen - und das ist eine bedeutende Leistung. Denn auch für die Probleme, die der moderne Populismus aufwirft, gilt der Grundsatz, dass Verstehen die Voraussetzung für ihre Lösung ist.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 160 S., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Was für eine Entdeckung, dass politische Theorie und Ideengeschichte dermaßen jargonfrei und verständlich ausfallen können.« Marc Reichwein DIE WELT 20161126