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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
David Grossmans neuer Roman "Was Nina wusste" erzählt vom generationenüberspannenden Leid totalitaristischer Willkür. Und vom Weg aus diesem Erbe hinaus.
Wieder ein Geburtstag. In "Kommt ein Pferd in die Bar", dem Roman, der David Grossman vor drei Jahren den Man Booker International Prize einbrachte und damit die bislang bedeutendste Auszeichnung für eines seiner Bücher, setzte die Handlung am siebenundfünfzigsten Geburtstag des Stand-up-Komikers Dovele Grinstein ein, und als der Tag zu Ende ging, war auch dessen Bühnenauftritt in der israelischen Küstenstadt Netanja und damit das Buch vorbei, aber wir hatten ein ganzes trauriges Leben erzählt bekommen. In Grossmans neuem Roman "Was Nina wusste" ist wieder ein Geburtstag Auslöser des Geschehens, diesmal allerdings ein neunzigster, und als sich im Kibbuz die riesige Familie zur Feier der Jubilarin Vera Bruck versammelt, ist alles eitel Sonnenschein. Wenige Tage danach jedoch tritt Vera in Begleitung von drei Angehörigen zu einer Reise in die Schattenwelt der Vergangenheit an, von deren Verlauf das Buch erzählt. Diesmal geht also alles erst richtig los, als der Ehrentag vorbei ist.
Zumindest für uns als Leser. Für Vera ist dagegen alles bereits 1936 losgegangen, als die in der kroatischen Kleinstadt Cakovec geborene Jüdin mit achtzehn den jungen serbischen Soldaten Milos Novak kennenlernte. Es folgten fünfzehn überglückliche gemeinsame Jahre, denen auch der Einfall der Deutschen ins Königreich Jugoslawien und die Exzesse des nationalsozialistischen Judenmords nichts anhaben konnten. Nach dem Krieg schlug sich das immer noch junge Paar auf die Seite der neuen kommunistischen Staatsführung unter Tito. Wie zur Bekräftigung dieses neuen Lebens kam ihre Tochter Nina zur Welt. Doch mit dem Abfall Titos von der Sowjetunion setzten politische Verfolgungen ein, und die Novaks gerieten in die Mühle des innerjugoslawischen Terrors. Milos überlebte ihn nicht. Und Vera zog schließlich mit der Tochter nach Israel, wo sie 1963 ihren zweiten Mann kennenlernte. Es ist größtenteils seine Familie, mit der die Greisin im Jahr 2008 ihren neunzigsten Geburtstag feiert. Nur Nina ist außerdem da. Und deren mittlerweile neununddreißigjährige Tochter Gili. Beide werden mit Vera auf die Reise gehen.
Drei Frauengenerationen, und doch ein einziges Schicksal. In Grossmans Buch dreht sich alles um die Folgen des Todes von Milos für dessen Frau und die Tochter und damit auch für die Enkelin Gili, die erst achtzehn Jahre nach der jugoslawischen Tragödie geboren wurde. Trotzdem lebt auch sie in deren Schatten, denn als kleines Kind war sie von ihrer Mutter Nina verlassen worden, die selbst dasselbe Kindertrauma erlitten hatte, als die Eltern in Jugoslawien verhaftet worden waren und sie dann bei fremden Leuten aufwuchs. Gili hatte mehr Glück: Sie konnte beim Vater bleiben. Dieser Rafael ist der vierte Reisegefährte - und der Stiefsohn Veras aus ihrer israelischen Ehe. Die Beziehung zu dem Stiefbruder war Nina als junge Frau wie einen Protest eingegangen, und ihr Liebesleben nach der Trennung war ein nymphomanisches, das sich um keine Konventionen scherte. Das verletzte Rafael, der Nina immer noch liebte. So finden sich vielfach Verwundete zu einer Reisegesellschaft zusammen, die nach Jugoslawien aufbricht, an die Orte von Veras Glück und Unglück. Das sie wiederum geerbt haben.
All diese Verhältnisse werden erst im Verlauf des Romans entwirrt, und zwar aus der Sicht von Gili, die über das Privileg verfügt, das größte Geheimnis ihrer Großmutter zu kennen. Es ist ein schreckliches Geheimnis, vor allem, wenn Nina es erführe, und der Titel der deutschen Übersetzung deutet es an: "Was Nina wusste", ist die Frage, die Gili sich ständig stellen muss. Im hebräischen Original heißt Grossmans Buch "Das Leben spielt mit mir", und damit wird seine Ich-Erzählerin Gili in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist der Kopf des Geschehens, nicht zuletzt weil das, was wir lesen, als ein Buch ausgewiesen wird, das auf ihren Aufzeichnungen von der Reise des Jahres 2008 beruht. Die fertigt sie auf Anweisung ihres Vaters an, der in Jugoslawien einen Film über das Leben Veras drehen will und seine Tochter früher schon als Scriptgirl beschäftigt hat: "Ich sollte die Dinge aufschreiben, die nicht offensichtlich und ausdrücklich im Film vorkamen, Gedanken, Assoziationen, sogar zufällige Erinnerungen von Leuten aus dem Team, aber auch meine eigenen." Nach dieser Methode beobachtet und dokumentiert Gili nun auch den Familienausflug in die Vergangenheit. Mit keiner anderen Figur dieses Romans wird man so vertraut.
Dessen deutscher Titel aber verschiebt den Akzent: auf Nina, die tatsächlich die Seele des Buchs ist, eine unschuldig von den Zwängen der Geschichte gepeinigte Frau, die zudem an beginnendem Alzheimer leidet. Umso weniger kann sie dem vertrauen, was sie zu wissen oder auch zu vermuten meint, doch sie wird auf der Reise alles enthüllt bekommen, was Vera ihr verschwiegen hat, und am Schluss wird Nina in einer großen Geste die grausame Vergangenheit dem anheimstellen, was sie selbst so panisch befürchtet: dem Vergessen. Mit keiner anderen Figur dieses Romans leidet man derart mit.
Und keine andere liebt man so wie die alte Vera. Sie ist das Herz des Buchs, nicht nur stark, sondern auch witzig, und man kann Grossman nur bewundern für dieses Porträt einer Frau, die spät und alles andere als freiwillig die Aliyah gewählt, sich dann in Israel ein Leben in Gemeinschaft zurückerkämpft hat und nun, zur Handlungszeit 2008, als aktive Gegnerin der Besatzungspolitik ihres Landes und Mittelpunkt einer Großfamilie agiert. Womöglich noch mehr bewundern muss man jedoch, wie die Übersetzerin Anne Birkenhauer Veras auch nach fast einem halben Jahrhundert immer noch unüberhörbaren Akzent aus dem Hebräischen ins Deutsche gebracht hat. Denn darauf beruht nicht zuletzt die immer wieder aufbrandende Komik, sondern auch der resultierende Kontrast zum entsetzlichen Geschehen im früheren Leben.
Für Vera Bruck gibt es ein reales Vorbild: die 2015 im Alter von 97 Jahren gestorbene Eva Panic-Nahir, über ihre letzten beiden Jahrzehnte hinweg eine Freundin von Grossman, die ihm ihre Lebensgeschichte immer wieder erzählt hat. Sein Roman nimmt sich viele Freiheiten bei der Zeit nach 1951, doch im Zentrum bleibt die unlösliche Liebe zu Milos, der in Wirklichkeit Rade hieß. Im Roman sagt Vera ihrem zweiten Mann: "Jede Nacht werde ich dir erzählen von ihm", und so hielt ihr Vorbild es im Freundeskreis. Ein anderer bedeutender Schriftsteller, Danilo Kis, war auch fasziniert von Eva Panic-Nahir und wollte ein Buch über ihr Leben schreiben, nachdem er sie 1989 in Israel kennengelernt hatte. Doch daraus wurde nichts; Kis starb noch im selben Jahr. Womöglich hat der frühe Tod des großen jugoslawischen Autors uns erst das Buch seines großen israelischen Kollegen geschenkt. Wer hätte schon gegen ein Werk von Kis anzuschreiben gewagt?
Und doch: David Grossman hätte das Zeug dazu. Die in unterschiedlicher Typographie spät im Roman eingefügte Binnenerzählung aus Veras eigenem Mund über ihre fast dreijährige Leidenszeit in einem staatlichen Straflager auf der kargen Gefängnisinsel Goli Otok ist so grausam-präzise und zugleich so souverän gebaut, wie man es auch von Kis kennt. Und sie findet ein Motiv in einer Schikane der Lagerleitung, das einem den Atem nimmt - nicht nur aus Schreck. Alles, was wir zuvor von Vera zu wissen glaubten, wird da noch einmal gewendet, und als schließlich ihr großes Geheimnis aufgedeckt wird, erscheint es nur konsequent angesichts der Kraft, die diese Frau ansonsten bewiesen hat. Sie ist in Liebe verhärtet und hat deshalb überlebt. Nina wird nicht mehr gerettet, aber Gili schreibt die Geschichte weiter - buchstäblich und übertragen.
Was David Grossman mit diesem Buch leistet, entzieht sich der Beschreibung in Worten, weil es in der liebenden Härte gegenüber seinen Figuren dem entspricht, was Vera getan hat. Man muss "Was Nina wusste" lesen, um etwas vom Unbegreiflichen zu wissen.
ANDREAS PLATTHAUS
David Grossman: "Was Nina wusste". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, München 2020. 351 S., geb., 25,- [Euro].
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"Die Neugier, der Antrieb zum Schreiben, die Sogkraft der Geschichten, das speist sich aus seinen politischen Überzeugungen, seinen Zweifeln, seinen Fragen. Das ist seine Kunst." Volker Weidermann, Der Spiegel, 10.10.20
"Grossman spürt mit großem Einfühlungsvermögen und sprachlichem Feingefühl den Beweggründen nach, die Menschen wie seine Vera so handeln lassen, wie sie eben handeln." Klara Obermüller, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.20
"Grossmans Schreiben aus Gilis mitfühlender Perspektive setzt sich wie getrieben immer neuen Gefühlswaschgängen
aus und nutzt dennoch jede Gelegenheit, um mit sarkastischem Witz nach Luft zu schnappen, einen Moment des Abstands herzustellen." Eva Behrendt, Die Tageszeitung, 29.08.20
"Anne Birkenhauer, Grossmans getreue Übersetzerin, beherrscht alle Register. Alleine ihre Art, Veras kroatisch geprägtes Ivrit in ein knatternd herzhaftes Deutsch zu übertragen, ist so witzig wie anrührend." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 28.08.20
"'Was Nina wusste' ist Familiengeschichte und Zeitgeschichte in einem. Mit großer Empathie deutet Grossman die Folgen politischer und psychischer Gewalt aus. ... Seine beeindruckenden Charaktere geben den Blick frei in die Tiefe menschlichen Empfindens und die Abgründe des 20. Jahrhunderts." Carsten Hueck, WDR5 Bücher, 22.08.20
"Was David Grossman mit diesem Buch leistet, entzieht sich der Beschreibung in Worten, weil es in der liebenden Härte gegenüber seinen Figuren dem entspricht, was Vera getan hat. Man muss 'Was Nina wusste' lesen, um etwas vom Unbegreiflichen zu wissen." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.08.20
"Der Roman verströmt eine weltumarmende Kraft und Energie. ... Ein zum Niederknien überragend
guter Text." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 14.08.20
"Je mehr man sich in diese von der Politik torpedierte Familiengeschichte versenkt, desto mehr psychologische Finessen offenbart sie und desto glaubhafter wirkt die sie bestimmende Sehnsucht nach Aussprache und letztlich Versöhnung." Wolfgang Schneider, Tagesspiegel, 20.08.20
"Die Erzählung schafft eine Unterbrechung, die dem über Generationen weitergegeben Trauma Einhalt gebieten kann. "Was Nina wusste" ist alles auf einmal: Kriegsbericht, historische Rekonstruktion, Liebesgeschichte und Familienroman und in jeder Hinsicht überwältigend. David Grossman ist einfach der größte lebende Schriftsteller... umwerfend und atemberaubend." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.08.20
"Mit welcher Empathie und Genauigkeit erzählt der Menschenkennerund illusionslose Menschenfreund David Grossman diese Geschichte! Wie ein Sog folgt der Leser diesen schmerzhaft nah heran rückenden Personen, möchte sie gar vor ihren eigenen Verletzungen schützen." Marko Martin, Welt am Sonntag, 16.08.20
"Grossman gestaltet diese historische und tiefenpsychologische Exkursion szenisch stark, in gewohnt feinfühliger und empathischer Weise. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich übereinander wie die Perspektiven der einzelnen Figuren." Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 15.08.20
"Es ist schön und befreiend, Grossman bei seinen schreibenden Entspannungsübungen zu folgen und zu erleben, wie die Fäuste sich langsam öffnen. Vera ist eine fantastische Figur - eine fanatische Ideologin, warm herzig und kühl entschlossen zu gleich, lebenskundig und doch blind für ihre Nächsten." Volker Weidermann, Der Spiegel, 14.08.20