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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Utopien sind unbedingt erwünscht: Carolin Emcke fragt nach der Ethik faktualen Erzählens
Dieser Tage wird viel darüber diskutiert, wie sich über kriegerische Gewalt angemessen sprechen und schreiben lässt. Wer etwa aus Krisengebieten berichtet, sollte am besten unparteilich und präzise darlegen, was der Fall ist. Doch was heißt es, sich in den Dienst der Wahrheitssuche zu stellen? Und mit welchen Mitteln nicht-fiktionaler Rede ist die Realität überhaupt einzuholen? Solche Fragen bilden den Ausgangspunkt für Carolin Emcke, die im Sommer vergangenen Jahres die Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen innehatte und deren im Rahmen dieser Tätigkeit entstandene Vorträge nun in einem Band veröffentlicht wurden.
Emcke, die ihre journalistische Karriere als Kriegsreporterin begann, sieht sich als Anwältin all jener entrechteten und zum Schweigen gebrachten Leidtragenden von Krieg und Verfolgung: "Auch deshalb bekommen die Stimmen anderer solchen Raum. Damit sie eben nicht nur als Objekte, als Opfer der Gewalt gezeigt werden, sondern als Subjekte, mit eigener Sprache, eigenen Sehnsüchten." Weil die Berichte der Befragten fragmentarisch bleiben, können darin Erinnerungen an Formen der Subjektivität erzählend aufgelesen werden, die der gewaltsamen Erfahrung vorausgehen und ihr entfliehen.
Dies wird weitgehend frei und abstrakt, ohne Rückgriff auf Empirie entwickelt, die Vorlesungen scheinen der methodischen Klärung zu dienen, in ihr spricht bis auf einige wenige Einsprengsel philosophischer und literarischer Klassikerzitate die Autorin selbst. Die Ausführungen erinnern in Stil und Herangehensweise an Emckes frühere preisgekrönte Texte zu Fragen der Zeugenschaft in Anbetracht kriegerischer Gewalterfahrungen, der Suche nach einer selbstbestimmten Sprache für das eigene Begehren oder der Struktur und den destruktiven Auswirkungen von Hassrede auf demokratische Gesellschaften. Sie zeugen in diesen Vorlesungen von einer auf Vorsicht bedachten, um Pathos nicht verlegenen Autorin, die die Auseinandersetzung mit den sprachlichen Formen immer und zuvorderst als ethisches Wagnis begreift.
Das aber lässt Fragen nach den ästhetischen Kennzeichen faktualen Erzählens, den Einsatz von Sprache als Medium des welterschließenden Ausdrucks, nicht der Kommunikation, in den Hintergrund treten. Denn Emckes Interesse reduziert sich auf die über allem thronende Perspektive der Moral, die "hyperkomplexe Menge an ethischen Imperativen, die allen ästhetischen Parametern vorausgehen".
Das zeigt sich noch viel mehr im zweiten Teil des Bandes, der sich recht unverbunden an die vorherigen Ausführungen anschließt und dem Schreiben in Zeiten der Klimakatastrophe widmen will. Ihrer Form nach gleichen die Überlegungen Auszügen aus einem politischen Grundsatzprogramm, für das auch zwischen den beiden gegensätzlichen Modi des "Erzählen[s] und Argumentieren[s] im Angesicht der Klimakatastrophe" keine ästhetische Differenz geltend gemacht wird, die zu reflektieren sich lohnen könne.
Das Schreiben über das Klima sieht sich hier immer schon in relativ technische Überlegungen politischer Strategien, sozialer Abwägungen und moralischer Verantwortungsdebatten verwickelt, ohne dass damit in den Blick käme, worauf denn eigentlich referiert werden solle, in der schreibenden Auseinandersetzung mit der 'Natur' oder dem 'Klima'. Auch die dem drohenden Klimakollaps scheinbar angemessene erzählerische Form wird der diffusen Richtungslosigkeit der imperativisch verfassten Rede entsprechend nicht selbst entwickelt, sondern bloß eingefordert: "Es braucht eine Utopie als Horizont, als Aussicht, als Transportmittel der Sehnsucht."
Im angefügten Gespräch mit einem der Herausgeber der Vorlesungen bemerkt Emcke, wie die Reise zu einer Forschungsstation in die Arktis ihr Leben in den letzten Jahren verändert habe. Ihr Schreiben bleibt wiederum gekennzeichnet von einem ethisch verengten Programm, dessen narratologische Maximen die Frage nach dem Klima auf einen abstrakten Humanismus hin festlegen. TOBIAS SCHWEITZER
Carolin Emcke: "Was wahr ist". Über Gewalt und Klima.
Hrsg. von Christian Klein und Matías Martínez. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 124 S., geb., 20,- Euro.
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