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Volker Hages Schriftstellerporträts
Leben manifestiere sich in Erfindungen, weshalb das aufs Erfinden abonnierte Schreiben einfach "eine andere Art des Lebens" sei, schreibt, lebendig wie immer, Volker Hage im Nachwort des zweiten Bands seiner "Schriftstellerporträts". Mit dieser Idee im Hinterkopf nähert sich Hage, ehedem Literaturredakteur bei dieser Zeitung, danach bei der "Zeit" und dann viele Jahre beim "Spiegel", maßgeblichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts über den Umweg ihres Lebens, ohne dabei in leeren Biographismus oder gar - trotz manch privater Anekdote - in die Kolportage abzugleiten. Stets nämlich weiß er Bezüge zum Lebenswerk der Autoren herzustellen, das er, beneidenswert belesen, bis in die letzten Winkel zu kennen scheint.
Den meisten der Porträtierten - Sofja Tolstaja ("die Tragödie einer verkannten und sich selbst zeitlebens unterschätzenden Dichterin") oder Erich Mühsam ("Revolutionär und Lyriker", "leidenschaftlicher Liebhaber und früher Feminist") ausgenommen - ist der Autor persönlich begegnet, was der Anschaulichkeit der Miniaturen zugutekommt. Hage aber hat nicht einfach seine über Jahrzehnte publizierten Artikel und Interviews zu einem Band zusammengeschnürt, sondern diese Artikel neu ausgewertet, überprüft und fortgeschrieben. Die eigene Rolle beim Zustandekommen der Gespräche ist dabei mitberücksichtigt. Selbst Verwerfungen wie mit Christoph Hein werden nicht ausgespart. Hein hat Hage 2019 vorgehalten, er hätte bedauert, nichts über eine vermeintliche Stasi-Mitarbeit Heins herausgefunden zu haben; der Kritiker druckt seine irritierte Antwort, einen offenen Brief, hier noch einmal komplett ab: "Eine Antwort habe ich bisher nicht erhalten."
Auch persönliche Freundschaften wie die mit Bodo Kirchhoff verstellen nicht Hages literaturkritisches Urteil; so wird Kirchhoffs Roman "Parlando" als meisterliche Verneigung vor Max Frischs "Stiller" dessen eher schwächeren Romanen wie "Eros und Asche" ("nicht besonders überzeugender Versuch"), "Die Liebe in groben Zügen" ("Gefühle scheinen wie unter der Decke gehalten, und das beschädigt am Ende das groß angelegte Romanprojekt") oder "Bericht zur Lage des Glücks" ("eine gewisse Ermüdung des so produktiven Autors schimmert durch") entgegengesetzt. Sehr amüsant ist der Bericht darüber, wie es dem unbescheidenen Kirchhoff 1982 gelang, im Singapurer Luxushotel Raffles, "das schon Hermann Hesse geliebt hatte", einen Rabatt herauszuhandeln: "So nahm der noch unbekannte Autor eines seiner Bücher unter den Arm und eilte zum Hoteldirektor: 'Hesse und ich haben denselben Verlag.'"
Noch einmal lässt sich hier die produktive Ehe von Friederike Mayröcker und Ernst Jandl anhand ihrer eigenen Aussagen nachvollziehen, konkret und dingfest sozusagen, und ganz nebenbei fallen dabei Sätze ab wie der von Mayröcker: "Das Schreiben von Gedichten hat für mich etwas mit Aquarellzeichnen zu tun, während die Prosa mehr Bildhauerei ist." Noch konkreter: "Es fühlt sich anders an, ich sitze anders." Und man erfährt noch einmal von Jurek Becker selbst, wie es kam, dass er vermutlich ein oder zwei Jahre jünger war als offiziell bekannt: Der Vater hatte ihn im Ghetto von Lódz gegenüber den deutschen Besatzern älter gemacht und sich später nicht mehr an das wirkliche Geburtsdatum erinnert. "Man wählte ein willkürliches Datum." Diese bis ins Mark gehende Ungewissheit findet Hage als Kennzeichen in Jurek Beckers Romanen wieder.
"Was wir euch erzählen" lädt auf diese Weise wie schon der Vorgängerband "Schriftstellerporträts" (2019) zur Relektüre oder zur Entdeckung hervorragender Literaten ein, diesmal mit einem etwas stärker auf die Bundesrepublik und die DDR (Brigitte Reimann, Jurek Becker, Monika Maron, Christoph Hein) gerichteten Fokus als der erste Band, der viel von Weltliteraten wie Marcel Proust, Thomas Mann, Franz Kafka, John Updike oder Joyce Carol Oates handelte. Bis zu den höchst gegenwärtigen Autoren Daniel Kehlmann und Terézia Mora spannt sich der profunde Überblick dieses aller Schwurbelei immer schon abholden Autors, der wärmstens empfohlen sei. OLIVER JUNGEN
Volker Hage: "Was wir euch erzählen". Schriftstellerporträts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 324 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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