Wann nützen Gefängnisse und wo richten sie Schaden an? Der Rechtsanwalt und ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli zeichnet ein differenziertes Bild des Strafvollzugs und zeigt Alternativen zu sinnlosen Haftstrafen auf. Unbestreitbar haben wir alle ein Bedürfnis nach Strafe: Wer gegen Gesetze verstößt, soll nicht ungeschoren davonkommen. Den Täter zur Verantwortung zu ziehen, ihn zur Reue anzuhalten, abzuschrecken, den Opfern Genugtuung zu verschaffen und die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen – das sind die Hoffnungen, die sich an Gefängnisstrafen knüpfen. Aber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung weiß Thomas Galli: Selten wird auch nur eins dieser Ziele erreicht. Der promovierte Jurist widerlegt anhand vieler Beispiele aus dem Gefängnisalltag detailliert die Gründe für eine Haftstrafe – zumindest für die Mehrheit aller Straftaten. An die Stelle von Vergeltung und Buße müssen Verantwortung und Wiedergutmachung treten, fordert Galli. Denn durch die ausschließliche Fokussierung auf den Täter geraten die Opfer aus dem Blick. Thomas Galli zwingt uns zu einem Perspektivwechsel und macht deutlich, wie wir unser Strafrecht ändern können, um in einer Welt mit mehr Gerechtigkeit und Sicherheit zu leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2020Das Unbehagen am Freiheitsentzug
Schuld und Sühne: Der ehemalige Leiter einer Strafvollzugsanstalt Thomas Galli denkt darüber nach, wie Kriminelle in Zukunft bestraft werden sollten.
Obwohl es noch zu früh ist, die staatlich verordneten Einschränkungen in der Corona-Krise zu bewerten, haben sie uns eines schon jetzt deutlich gezeigt: Eingriffe in die menschliche Freiheit können überaus schmerzhaft sein. So haben auch wir nunmehr eine leise Ahnung davon, was es bedeutet, längere Zeit auf engem Raum zubringen zu müssen. Dabei besitzt der Normalbürger gegenüber dem Strafgefangenen noch das Privileg, auswählen zu können, mit wem er Tisch und Bett teilt. Und darüber hinaus dürfte selbst die kleine Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus noch deutlich komfortabler ausfallen als die Einzelzelle in einer deutschen Justizvollzugsanstalt.
Corona führt zudem zu einem seltsamen Effekt: Während wir zusammenrücken, beginnen sich die deutschen Gefängnisse zu leeren. Freiheitsstrafen werden unterbrochen, Haftantritte verschoben. Aus der Türkei wird gar gemeldet, dass die Gefahren des Virus rund neunzigtausend Straftätern dazu verhelfen sollen, vorzeitig ihre Freiheit wiederzuerlangen. Diese aus der Not geborene Politik eines Verzichts auf Inhaftierungen, die bis jetzt erstaunlich geräuschlos vonstattengeht, wirft die Frage auf, ob unsere Strafanstalten nicht weit weniger benötigt werden, als wir das bisher für möglich gehalten haben.
Das Buch, das Thomas Galli noch vor der Krise geschrieben hat, beantwortet die Frage schon im Titel: "Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen". Die These gewinnt dadurch an Brisanz, dass der Autor zwei Justizvollzugsanstalten in Sachsen leitete. Er hat sich ein ambitioniertes Programm vorgenommen, denn er will beschreiben, "wie die Strafe der Zukunft aussehen sollte".
Gleich zu Beginn greift er ein gewichtiges Thema auf: Warum strafen wir? Dieser Frage kann man auf nur zehn Seiten unmöglich gerecht werden, ist damit doch eine strafrechtstheoretische Diskussion aufgerufen, die vom Altertum bis zur Gegenwart reicht und eine Fülle von Gerechtigkeits-, aber auch Nützlichkeitserwägungen umfasst. Damit hält sich der Autor allerdings nicht lange auf; bestraft werde, so die wenig differenzierte Diagnose, nur aus "Rache" und "Vergeltung". Auf den nächsten hundertfünfzig Seiten liefert Galli indes eine im Wesentlichen profunde Kritik der Freiheitsstrafe und vor allem der Realität in den deutschen Gefängnissen.
Dazu gehört, dass es schon an einer Erfolgskontrolle derjenigen Bemühungen fehlt, die in den deutschen Anstalten zur Wiedereingliederung der Straftäter unternommen werden. Die Zahlen in der sogenannten Rückfallstatistik, welche nur einer privaten Initiative engagierter Kriminologen zu verdanken ist, sind nicht besonders ermutigend: Von den aus einer Freiheitsstrafe entlassenen Personen werden innerhalb von neun Jahren mehr als sechzig Prozent rückfällig. Jeder Dritte muss sogar in den Strafvollzug zurück. Eine Erfolgsgeschichte der Resozialisierung ist das nicht, auch wenn sich daraus nicht ohne weiteres, wie der Autor meint, ableiten lässt, dass die Strafhaft die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht.
Auch den weiteren von Galli gegenüber der derzeitigen Praxis des Strafvollzugs ins Felde geführten Monita ist im Großen und Ganzen zuzustimmen. So sind Gefängnisse sowohl Orte der Gewalt als auch des unerlaubten Drogenkonsums. Der in diesen Einrichtungen strikt reglementierende Rahmen konterkariert den Anspruch, gestrauchelte Menschen dort auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Das Streben nach größtmöglicher Sicherheit verhindert nicht selten vollzugsöffnende Maßnahmen, die ein wichtiger Baustein dafür sein können, dass der Übergang nach draußen gelingt. Galli hebt zutreffend hervor, dass der Bestrafte zuerst aus der Gesellschaft ausgeschlossen werde, um ihn durch Resozialisierungsmaßnahmen wieder dorthin zurückzubringen. Ob angesichts dieser und weiterer gewichtiger Kritikpunkte gleich der gesamte Strafvollzug gegen die Menschenwürde verstößt, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Was verordnet der Autor als Medizin? Zunächst will er den in der Tat christlich konnotierten Begriff der Schuld durch den der Verantwortung ersetzen, ohne die konkreten Folgen dieses Manövers ausreichend zu verdeutlichen. Eher holzschnittartig kommen auch Überlegungen daher, Straftaten zukünftig in zehn Unrechtskategorien zu unterteilen und über die konkret aufzuerlegenden Maßnahmen ein "Gremium aus Fachleuten, Opfer, Täter und Gemeindemitgliedern" entscheiden zu lassen.
Weitere von Galli erhobene Forderungen werden zu Recht bereits seit langem diskutiert: Entkriminalisierung von Drogen- und Bagatelldelikten, Einführung der gemeinnützigen Arbeit als weitere Hauptstrafe, Ausbau der Bewährungsmöglichkeiten, Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, elektronisch überwachter Hausarrest als Alternative zum geschlossenen Vollzug, Stärkung von Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich. Freilich ist es nicht nur das Beharrungsvermögen des Justizapparats, das derartige Neuerungen bisher verhindert hat. Denn gegen viele dieser Reformforderungen gibt es gute Argumente. Wird etwa ohne die Möglichkeit, mit der Ersatzfreiheitsstrafe zu drohen, die Geldstrafe zukünftig noch ernst genommen werden?
Die Gefängnisse ganz abschaffen will Galli aber nicht. So sollen "die schwersten Fälle" in sogenannten "Longstay-Einrichtungen" untergebracht werden. Hier stellen sich gleichwohl zwei Fragen: Besteht nicht die Gefahr, dass diese "Fälle" - oder besser Menschen - damit aufgegeben werden? Und wie lassen sich diese Personen auch nur einigermaßen treffsicher identifizieren?
Ungeachtet dieser Bedenken bleibt das Verdienst des Autors, dem in der Fachwelt längst geäußerten Unbehagen an der Freiheitsstrafe und der Praxis des Strafvollzugs eine öffentlichkeitswirksame Stimme verliehen zu haben. Und in der Tat spricht alles dafür, dass in Deutschland weniger eingesperrt werden müsste. Auch nach Corona.
JÖRG KINZIG
Thomas Galli: "Weggesperrt". Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körberstiftung, Hamburg 2020. 312 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schuld und Sühne: Der ehemalige Leiter einer Strafvollzugsanstalt Thomas Galli denkt darüber nach, wie Kriminelle in Zukunft bestraft werden sollten.
Obwohl es noch zu früh ist, die staatlich verordneten Einschränkungen in der Corona-Krise zu bewerten, haben sie uns eines schon jetzt deutlich gezeigt: Eingriffe in die menschliche Freiheit können überaus schmerzhaft sein. So haben auch wir nunmehr eine leise Ahnung davon, was es bedeutet, längere Zeit auf engem Raum zubringen zu müssen. Dabei besitzt der Normalbürger gegenüber dem Strafgefangenen noch das Privileg, auswählen zu können, mit wem er Tisch und Bett teilt. Und darüber hinaus dürfte selbst die kleine Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus noch deutlich komfortabler ausfallen als die Einzelzelle in einer deutschen Justizvollzugsanstalt.
Corona führt zudem zu einem seltsamen Effekt: Während wir zusammenrücken, beginnen sich die deutschen Gefängnisse zu leeren. Freiheitsstrafen werden unterbrochen, Haftantritte verschoben. Aus der Türkei wird gar gemeldet, dass die Gefahren des Virus rund neunzigtausend Straftätern dazu verhelfen sollen, vorzeitig ihre Freiheit wiederzuerlangen. Diese aus der Not geborene Politik eines Verzichts auf Inhaftierungen, die bis jetzt erstaunlich geräuschlos vonstattengeht, wirft die Frage auf, ob unsere Strafanstalten nicht weit weniger benötigt werden, als wir das bisher für möglich gehalten haben.
Das Buch, das Thomas Galli noch vor der Krise geschrieben hat, beantwortet die Frage schon im Titel: "Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen". Die These gewinnt dadurch an Brisanz, dass der Autor zwei Justizvollzugsanstalten in Sachsen leitete. Er hat sich ein ambitioniertes Programm vorgenommen, denn er will beschreiben, "wie die Strafe der Zukunft aussehen sollte".
Gleich zu Beginn greift er ein gewichtiges Thema auf: Warum strafen wir? Dieser Frage kann man auf nur zehn Seiten unmöglich gerecht werden, ist damit doch eine strafrechtstheoretische Diskussion aufgerufen, die vom Altertum bis zur Gegenwart reicht und eine Fülle von Gerechtigkeits-, aber auch Nützlichkeitserwägungen umfasst. Damit hält sich der Autor allerdings nicht lange auf; bestraft werde, so die wenig differenzierte Diagnose, nur aus "Rache" und "Vergeltung". Auf den nächsten hundertfünfzig Seiten liefert Galli indes eine im Wesentlichen profunde Kritik der Freiheitsstrafe und vor allem der Realität in den deutschen Gefängnissen.
Dazu gehört, dass es schon an einer Erfolgskontrolle derjenigen Bemühungen fehlt, die in den deutschen Anstalten zur Wiedereingliederung der Straftäter unternommen werden. Die Zahlen in der sogenannten Rückfallstatistik, welche nur einer privaten Initiative engagierter Kriminologen zu verdanken ist, sind nicht besonders ermutigend: Von den aus einer Freiheitsstrafe entlassenen Personen werden innerhalb von neun Jahren mehr als sechzig Prozent rückfällig. Jeder Dritte muss sogar in den Strafvollzug zurück. Eine Erfolgsgeschichte der Resozialisierung ist das nicht, auch wenn sich daraus nicht ohne weiteres, wie der Autor meint, ableiten lässt, dass die Strafhaft die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht.
Auch den weiteren von Galli gegenüber der derzeitigen Praxis des Strafvollzugs ins Felde geführten Monita ist im Großen und Ganzen zuzustimmen. So sind Gefängnisse sowohl Orte der Gewalt als auch des unerlaubten Drogenkonsums. Der in diesen Einrichtungen strikt reglementierende Rahmen konterkariert den Anspruch, gestrauchelte Menschen dort auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Das Streben nach größtmöglicher Sicherheit verhindert nicht selten vollzugsöffnende Maßnahmen, die ein wichtiger Baustein dafür sein können, dass der Übergang nach draußen gelingt. Galli hebt zutreffend hervor, dass der Bestrafte zuerst aus der Gesellschaft ausgeschlossen werde, um ihn durch Resozialisierungsmaßnahmen wieder dorthin zurückzubringen. Ob angesichts dieser und weiterer gewichtiger Kritikpunkte gleich der gesamte Strafvollzug gegen die Menschenwürde verstößt, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Was verordnet der Autor als Medizin? Zunächst will er den in der Tat christlich konnotierten Begriff der Schuld durch den der Verantwortung ersetzen, ohne die konkreten Folgen dieses Manövers ausreichend zu verdeutlichen. Eher holzschnittartig kommen auch Überlegungen daher, Straftaten zukünftig in zehn Unrechtskategorien zu unterteilen und über die konkret aufzuerlegenden Maßnahmen ein "Gremium aus Fachleuten, Opfer, Täter und Gemeindemitgliedern" entscheiden zu lassen.
Weitere von Galli erhobene Forderungen werden zu Recht bereits seit langem diskutiert: Entkriminalisierung von Drogen- und Bagatelldelikten, Einführung der gemeinnützigen Arbeit als weitere Hauptstrafe, Ausbau der Bewährungsmöglichkeiten, Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, elektronisch überwachter Hausarrest als Alternative zum geschlossenen Vollzug, Stärkung von Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich. Freilich ist es nicht nur das Beharrungsvermögen des Justizapparats, das derartige Neuerungen bisher verhindert hat. Denn gegen viele dieser Reformforderungen gibt es gute Argumente. Wird etwa ohne die Möglichkeit, mit der Ersatzfreiheitsstrafe zu drohen, die Geldstrafe zukünftig noch ernst genommen werden?
Die Gefängnisse ganz abschaffen will Galli aber nicht. So sollen "die schwersten Fälle" in sogenannten "Longstay-Einrichtungen" untergebracht werden. Hier stellen sich gleichwohl zwei Fragen: Besteht nicht die Gefahr, dass diese "Fälle" - oder besser Menschen - damit aufgegeben werden? Und wie lassen sich diese Personen auch nur einigermaßen treffsicher identifizieren?
Ungeachtet dieser Bedenken bleibt das Verdienst des Autors, dem in der Fachwelt längst geäußerten Unbehagen an der Freiheitsstrafe und der Praxis des Strafvollzugs eine öffentlichkeitswirksame Stimme verliehen zu haben. Und in der Tat spricht alles dafür, dass in Deutschland weniger eingesperrt werden müsste. Auch nach Corona.
JÖRG KINZIG
Thomas Galli: "Weggesperrt". Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körberstiftung, Hamburg 2020. 312 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Peggy Fiebig erfährt vom Juristen und Kriminologen Thomas Galli, der auch Praxiserfahrung mitbringt, wie sich der Strafvollzug sinnvoll reformieren ließe. Der vom Autor geschilderte Gefängnisalltag lässt Fiebig ahnen, dass bloßes "Wegsperren" weder Tätern noch Opfern oder der Gesellschaft hilft. Alternativ schlägt der Autor laut Rezensentin anhand von Beispielen offeneren Freiheitsentzug, Fußfesseln und mehr Verantwortung der Täter für ihre Taten vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.07.2020Gehe nicht
ins Gefängnis
Thomas Galli zeigt Alternativen zum Strafvollzug auf
Der ehemalige Gefängnisdirektor von Zeithain und Torgau, Thomas Galli, hat mit „Weggesperrt“ ein gut lesbares, spannendes und teilweise revolutionäres Buch vorgelegt. Dabei erzählt er manche passende Lebensgeschichte aus seinem Erfahrungsbereich. Laut Untertitel will Galli begründen, „warum Gefängnisse niemandem nützen“. Tatsächlich macht er aber viel mehr. Er zeigt auf, wie man besser mit Straftaten umgehen könnte, damit die Täter und die Gesellschaft „Leben in sozialer Verantwortung“ lernen.
Zu unterscheiden ist bei Galli zwischen Erkenntnissen zum Strafvollzug, die er mit fast allen Fachleuten heute teilt, und seinen Denkanstößen, die Straf- und Prozessrecht fundamental infrage stellen. Gefängnisse sind teuer, aber sie können ihre Aufgaben trotz aller Anstrengungen kaum erfüllen. Nur im Ausnahmefall verlassen ihre Insassen sie „resozialisiert“, selten haben diese dort gelernt, „ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten“ zu führen, wie es die Strafvollzugsgesetze aller deutschen Bundesländer fordern. Meist ist die Lage der Haftentlassenen sogar schwieriger geworden als zuvor. Soziales Verhalten, wie es in Freiheit erwartet wird, haben sie nicht lernen können. Der Schaden, den sie angerichtet haben, wurde auch da nicht wieder gutgemacht, wo dies ansatzweise möglich wäre.
Auch sichert „Wegsperren“ die Gesellschaft höchstens vorübergehend vor den Menschen, die Straftaten begehen. Denn die allermeisten „sitzen“ wegen wiederholter kleinerer Straftaten für wenige Monate oder Jahre. Laut Galli sind das mehr als 90 Prozent der Insassen. In Medien und an Stammtischen aber bestimmen Mörder, Kinderschänder und andere Gewalttäter die Debatte. Wenn diese auch nach vielen Jahren Haft noch gefährlich erscheinen, sind sie die Einzigen, die lebenslänglich von anderen ferngehalten werden müssen. Galli nennt sie die wenigen „schwersten Fälle“, die auf Dauer getrennt von anderen Bürgern untergebracht werden müssen – selbstverständlich in menschenwürdiger Weise, will man den Ansprüchen des Europäischen Gerichtshofs, der UN und humaner Gesellschaften gerecht werden.
Muss das Gefängnis heute also als nicht funktional und als historisch antiquiert gelten, so beginnt die Suche nach Alternativen. Galli nennt hier ein Vielerlei von Möglichkeiten, wobei er es versäumt, sie zu gewichten und zu systematisieren. Er nennt und begründet Maßnahmen, die seit geraumer Zeit auch von anderen Praktikern genannt werden. Stellt man sie systematisch dar, so beginnen sie mit Vorschlägen zur Vermeidung von Haft und Kriminalisierung. Galli nennt hier „Entkriminalisierung von Drogenkonsum- und Bagatelldelikten“, wo dies sinnvoll ist. Dann die „Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe“ und den „Ausbau der Bewährungshilfe“, so dass auch Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden können. Für Einzelne kommt seiner Meinung nach auch „elektronisch überwachter Hausarrest“ infrage.
Aktiver gefordert werden Rechtsverletzer, wenn es bei Galli um „Aspekte der (Wieder-)Gutmachung“ geht, in denen die schon heute bestehenden Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs erweitert werden und das Konzept restaurativer Justiz zum Tragen kommt. Auch „gemeinnützige Arbeit“ wird heute bereits als Sanktionsmaßnahme eingesetzt, gelingt aber in der Regel nur, wenn sie angemessen sozialarbeiterisch begleitet und wenn in Projektgruppen gearbeitet wird. Dasselbe gilt für „dezentrale freie Formen“ des Justizvollzugs. Galli meint damit von der Justiz verantwortete und von freien Trägern durchgeführte soziale und handwerkliche Projekte in der Region mit einer begrenzten Anzahl von Straftätern. In den sächsischen Strafvollzugsgesetzen sind sie ausdrücklich vorgesehen, aber bisher nur für wenige jugendliche Strafgefangene nach einem in Baden-Württemberg entwickelten Konzept realisiert. Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Dresden sieht sie jetzt auch für erwachsene Männer und Frauen vor.
Sind dies alles geeignete Maßnahmen, die bereits bestehen oder vom Gesetz her möglich sind und nur eingerichtet oder erweitert werden müssen, so sind Gallis weitere beiden Vorschläge eine kleine Revolution. Ihre Verwirklichung ist nicht kurzfristig möglich, weil sie politischer Vorbereitung und gesetzlicher Regelung bedürfen. Allerdings sind diese Vorschläge nicht neu. Denn eine kleine interdisziplinäre Forschungsstudiengruppe des Evangelischen Studienwerks Villigst hat sie bereits im Zusammenhang der Justizvollzugsreformdiskussionen der alten Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre gemacht. Damals, als das Justizvollzugspersonal noch Waffen trug und ohne Gesetzesgrundlage nach einer „Dienst- und Vollzugsordnung“ arbeitete, galten diese Vorschläge noch als zu radikal. Heute könnte ihre Stunde gekommen sein.
Galli möchte nämlich in Zukunft auf ein Strafrecht verzichten, in dessen Zentrum die Schuld steht, die ein Rechtsverletzer in der Vergangenheit auf sich geladen habe. Seine Strafe soll nach geltendem Recht dieser Schuld entsprechen. Dahinter steht der alte Rachegedanke. Nur dass die Rache jetzt nicht vom Opfer und seinen Angehörigen, sondern „im Namen des Volkes“ vollzogen werden soll. Das Gericht untersucht und sanktioniert dabei Vergangenheit. Galli aber geht es um die Zukunft – des Opfers, des Täters und auch der Gesellschaft. Deshalb soll staatliches Recht nach Verantwortung fragen. Sie hätte in der Vergangenheit übernommen werden müssen und soll in Gegenwart und Zukunft besser wahrgenommen werden. Nichts anderes meint „Resozialisierung“, die nach einhelliger gesetzlicher Bestimmung das Ziel des Justizvollzugs ist.
Damit ein solches zukunftsorientiertes Strafrecht – es müsste jetzt korrekter Maßnahmerecht heißen! – verwirklicht werden kann, bedarf es auch eines neuen Prozessrechts. Denn Juristen sind überfordert, wenn sie über angemessene Maßnahmen entscheiden sollen. Galli möchte deshalb das Gerichtsverfahren in zwei Schritten durchführen. Zuerst soll ein juristisch besetztes Gremium darüber urteilen, wer in welcher Weise für welche Tat verantwortlich ist. In einem zweiten Gremium beraten und entscheiden dann Mitglieder der Zivilgesellschaft, Opfer(vertreter) und Täter zusammen mit Sozialarbeitern, welche Maßnahmen angesichts der festgestellten Rechtsverletzung zur Übernahme und Einübung von Verantwortung nötig sind und verbindlich umgesetzt werden müssen.
ULFRID KLEINERT
Ulfrid Kleinert ist Theologe und seit 2000 Vorsitzender des Beirats der JVA Dresden und des Hammer Weg e.V. für Strafgefangene.
Galli wirbt etwa für
„dezentrale freie Formen“
des Justizvollzugs
Das Gericht sanktioniert
die Vergangenheit, dem Autor
geht es um die Zukunft
Thomas Galli:
Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020,
312 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ins Gefängnis
Thomas Galli zeigt Alternativen zum Strafvollzug auf
Der ehemalige Gefängnisdirektor von Zeithain und Torgau, Thomas Galli, hat mit „Weggesperrt“ ein gut lesbares, spannendes und teilweise revolutionäres Buch vorgelegt. Dabei erzählt er manche passende Lebensgeschichte aus seinem Erfahrungsbereich. Laut Untertitel will Galli begründen, „warum Gefängnisse niemandem nützen“. Tatsächlich macht er aber viel mehr. Er zeigt auf, wie man besser mit Straftaten umgehen könnte, damit die Täter und die Gesellschaft „Leben in sozialer Verantwortung“ lernen.
Zu unterscheiden ist bei Galli zwischen Erkenntnissen zum Strafvollzug, die er mit fast allen Fachleuten heute teilt, und seinen Denkanstößen, die Straf- und Prozessrecht fundamental infrage stellen. Gefängnisse sind teuer, aber sie können ihre Aufgaben trotz aller Anstrengungen kaum erfüllen. Nur im Ausnahmefall verlassen ihre Insassen sie „resozialisiert“, selten haben diese dort gelernt, „ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten“ zu führen, wie es die Strafvollzugsgesetze aller deutschen Bundesländer fordern. Meist ist die Lage der Haftentlassenen sogar schwieriger geworden als zuvor. Soziales Verhalten, wie es in Freiheit erwartet wird, haben sie nicht lernen können. Der Schaden, den sie angerichtet haben, wurde auch da nicht wieder gutgemacht, wo dies ansatzweise möglich wäre.
Auch sichert „Wegsperren“ die Gesellschaft höchstens vorübergehend vor den Menschen, die Straftaten begehen. Denn die allermeisten „sitzen“ wegen wiederholter kleinerer Straftaten für wenige Monate oder Jahre. Laut Galli sind das mehr als 90 Prozent der Insassen. In Medien und an Stammtischen aber bestimmen Mörder, Kinderschänder und andere Gewalttäter die Debatte. Wenn diese auch nach vielen Jahren Haft noch gefährlich erscheinen, sind sie die Einzigen, die lebenslänglich von anderen ferngehalten werden müssen. Galli nennt sie die wenigen „schwersten Fälle“, die auf Dauer getrennt von anderen Bürgern untergebracht werden müssen – selbstverständlich in menschenwürdiger Weise, will man den Ansprüchen des Europäischen Gerichtshofs, der UN und humaner Gesellschaften gerecht werden.
Muss das Gefängnis heute also als nicht funktional und als historisch antiquiert gelten, so beginnt die Suche nach Alternativen. Galli nennt hier ein Vielerlei von Möglichkeiten, wobei er es versäumt, sie zu gewichten und zu systematisieren. Er nennt und begründet Maßnahmen, die seit geraumer Zeit auch von anderen Praktikern genannt werden. Stellt man sie systematisch dar, so beginnen sie mit Vorschlägen zur Vermeidung von Haft und Kriminalisierung. Galli nennt hier „Entkriminalisierung von Drogenkonsum- und Bagatelldelikten“, wo dies sinnvoll ist. Dann die „Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe“ und den „Ausbau der Bewährungshilfe“, so dass auch Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden können. Für Einzelne kommt seiner Meinung nach auch „elektronisch überwachter Hausarrest“ infrage.
Aktiver gefordert werden Rechtsverletzer, wenn es bei Galli um „Aspekte der (Wieder-)Gutmachung“ geht, in denen die schon heute bestehenden Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs erweitert werden und das Konzept restaurativer Justiz zum Tragen kommt. Auch „gemeinnützige Arbeit“ wird heute bereits als Sanktionsmaßnahme eingesetzt, gelingt aber in der Regel nur, wenn sie angemessen sozialarbeiterisch begleitet und wenn in Projektgruppen gearbeitet wird. Dasselbe gilt für „dezentrale freie Formen“ des Justizvollzugs. Galli meint damit von der Justiz verantwortete und von freien Trägern durchgeführte soziale und handwerkliche Projekte in der Region mit einer begrenzten Anzahl von Straftätern. In den sächsischen Strafvollzugsgesetzen sind sie ausdrücklich vorgesehen, aber bisher nur für wenige jugendliche Strafgefangene nach einem in Baden-Württemberg entwickelten Konzept realisiert. Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Dresden sieht sie jetzt auch für erwachsene Männer und Frauen vor.
Sind dies alles geeignete Maßnahmen, die bereits bestehen oder vom Gesetz her möglich sind und nur eingerichtet oder erweitert werden müssen, so sind Gallis weitere beiden Vorschläge eine kleine Revolution. Ihre Verwirklichung ist nicht kurzfristig möglich, weil sie politischer Vorbereitung und gesetzlicher Regelung bedürfen. Allerdings sind diese Vorschläge nicht neu. Denn eine kleine interdisziplinäre Forschungsstudiengruppe des Evangelischen Studienwerks Villigst hat sie bereits im Zusammenhang der Justizvollzugsreformdiskussionen der alten Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre gemacht. Damals, als das Justizvollzugspersonal noch Waffen trug und ohne Gesetzesgrundlage nach einer „Dienst- und Vollzugsordnung“ arbeitete, galten diese Vorschläge noch als zu radikal. Heute könnte ihre Stunde gekommen sein.
Galli möchte nämlich in Zukunft auf ein Strafrecht verzichten, in dessen Zentrum die Schuld steht, die ein Rechtsverletzer in der Vergangenheit auf sich geladen habe. Seine Strafe soll nach geltendem Recht dieser Schuld entsprechen. Dahinter steht der alte Rachegedanke. Nur dass die Rache jetzt nicht vom Opfer und seinen Angehörigen, sondern „im Namen des Volkes“ vollzogen werden soll. Das Gericht untersucht und sanktioniert dabei Vergangenheit. Galli aber geht es um die Zukunft – des Opfers, des Täters und auch der Gesellschaft. Deshalb soll staatliches Recht nach Verantwortung fragen. Sie hätte in der Vergangenheit übernommen werden müssen und soll in Gegenwart und Zukunft besser wahrgenommen werden. Nichts anderes meint „Resozialisierung“, die nach einhelliger gesetzlicher Bestimmung das Ziel des Justizvollzugs ist.
Damit ein solches zukunftsorientiertes Strafrecht – es müsste jetzt korrekter Maßnahmerecht heißen! – verwirklicht werden kann, bedarf es auch eines neuen Prozessrechts. Denn Juristen sind überfordert, wenn sie über angemessene Maßnahmen entscheiden sollen. Galli möchte deshalb das Gerichtsverfahren in zwei Schritten durchführen. Zuerst soll ein juristisch besetztes Gremium darüber urteilen, wer in welcher Weise für welche Tat verantwortlich ist. In einem zweiten Gremium beraten und entscheiden dann Mitglieder der Zivilgesellschaft, Opfer(vertreter) und Täter zusammen mit Sozialarbeitern, welche Maßnahmen angesichts der festgestellten Rechtsverletzung zur Übernahme und Einübung von Verantwortung nötig sind und verbindlich umgesetzt werden müssen.
ULFRID KLEINERT
Ulfrid Kleinert ist Theologe und seit 2000 Vorsitzender des Beirats der JVA Dresden und des Hammer Weg e.V. für Strafgefangene.
Galli wirbt etwa für
„dezentrale freie Formen“
des Justizvollzugs
Das Gericht sanktioniert
die Vergangenheit, dem Autor
geht es um die Zukunft
Thomas Galli:
Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020,
312 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 13,99 Euro.
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