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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Warum quälen Menschen einander? Martin Musers Jugendroman „WEIL.“ ist ein Psychothriller über Ethik und Moral
Schon das Cover ist ein Hingucker: „WEIL.“ steht da in blutroten, glänzenden Großbuchstaben, dahinter ein Punkt. Der wird wichtig werden. Aber zuerst einmal erinnern die drei mal drei Kästchen an Objektträger, wie sie unters Mikroskop gelegt werden, um etwas genau zu untersuchen. Tatsächlich ist der erste Jugendroman von Martin Muser eine Versuchsanordnung, eine Denk-Konstruktion, die das „Warum?“-Spiel aus Kindertagen zum unerbittlichen Lehrstück über moralphilosophische und gesellschaftspolitische Fragen zuspitzt: Warum? Darum. Warum? Weil.
Neun Personen treten auf: die Schulfreunde Esther, Manuel, Selin, Knut, Philipp, außerdem Liam, den die Clique ein Stück im Auto mitnimmt und darum „den Anhalter“ nennt, später dessen älterer Bruder Henk mit Kumpel Arne, und Herr Hanika, ein Nachbar und pensionierter Musiker mitsamt seinem Hund Telemann. Die Clique ist unterwegs ins Wochenendhaus von Esthers Eltern. Sie wollen dort fürs Ethik-Abi lernen. Dass daraus ein unerbittlicher Praxistest auf graue Theorie werden könnte, ahnen sie nicht, erst recht nicht, wie katastrophal das Ganze endet.
Weil Liam nervt, lassen Esther und die anderen ihn an der nächstbesten Tankstelle stehen, seine Tasche werfen sie aus dem Fenster, später baden sie im See, reden, rauchen, lachen – was man eben so macht, wenn man jung und unbeschwert ist. Bis am nächsten Morgen an die Tür gehämmert wird. Bis Henk, Arne und im Schlepptau Liam die Tasche zurückfordern. „Wir haben jetzt ein Problem“, sagt Henk. „Ein ethisches. Aber das ist ja genau euer Ding.“
Die Drei dringen ins Haus ein, sie stören, verstören die Jugendlichen. Deren Versuch, sich freizukaufen, scheitert, sie werden gequält und zu Tode geängstigt: Henk hat ein Gewehr dabei. Je bedrohlicher die Situation wird, je systematischer und grausamer der Terror, desto mehr zerlegt es die Gruppe in Einzelkämpfer. Die zeigen unter Hochdruck ihr wahres, oder vorsichtiger, ihr auch mögliches Gesicht.
Martin Muser, bisher als Autor von Drehbüchern und Kinderromanen („Kannawoniwasein“) in der Tradition von Erich Kästner bekannt, entwickelt seine knappe Erzählung konsequent, treibt sie dialogstark und mit schnellen Perspektivwechseln konzentriert voran, beobachtet und seziert, was passiert. Die Figuren wissen nicht, wie ihnen geschieht und warum. Weil sie sich als Teil einer Versuchsanordnung lesen lassen, agieren sie verschiedene Verhaltensmuster aus: Sie sind vernünftig, mutig, angepasst, feige, sie begehren auf, knicken ein, fallen um. Manuel vermittelt, Philipp will Hilfe holen, Esther versucht zu fliehen, Selin wehrt sich, der alte Hanika schaut aus sicherer Entfernung weg und verweigert jede Unterstützung. Er ist der typische Mitläufer. Weil ihn die Jugendlichen geärgert haben? Warum? Darum. Warum? Weil.
Gewalt und deren Entstehung, Mechanismen, Folgen erzählend zu durchdringen, hat eine lange Tradition. Romane wie „Herr der Fliegen“ von William Golding oder „NICHTS“ von Janne Teller haben beleuchtet, wie (junge) Menschen in Extremsituationen reagieren. Der Drehbuchautor Martin Muser bezieht sich auf Film-Vorbilder, das zeigen zwei Zitate zu Beginn seines Buches. Einer davon ist „Funny Games“ des österreichischen Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahr 1997. Als Horrorfilm, Psychothriller, Medienkritik oder Gewaltorgie rezipiert, war er hoch umstritten. Auch „WEIL.“ folgt dem Muster einer Eskalation. Aggressionen werden exzessiv ausgelebt, jedes Ringen um Lösungen scheitert, alternative Optionen gibt es nicht. Muser folgt der Fatalität der griechischen Tragödie, nur ohne Katharsis. Helden gibt es keine, Opfer- und Täterrollen verschwimmen, unschuldig ist hier niemand, aber jede Verhältnismäßigkeit aufgehoben: Tötungsphantasien, weil einer versetzt worden ist? Kaputte Kindheiten als Rechtfertigung?
Solche Gedanken und Fragen bleiben wie auf einer Bühne stehen und lassen sich anschauen. Sie erweisen sich als das, was sie sind: nutzlos. Kausalzusammenhänge ergeben sich immer erst aus der Rückschau. Sie sind dem Wunsch nach Erklärung, womöglich Schutz, geschuldet. Muser aber erzählt etwas anderes. Das Ergebnis seines Versuchs nimmt schon das Cover vorweg: Hinter „WEIL.“ steht ja kein Fragezeichen, kein Gedankenstrich, nichts, was Offenheit signalisiert. Der finale Punkt sagt: Es gibt keinen Grund, keine Begründung, es gibt nur das, was passiert. „Es gehört zu den Zumutungen des Buches, dass es am Ende keine Antwort gibt“, schreibt Muser im Nachwort.
Damit bricht der Autor nicht nur mit der jugendliterarischen Erzählkonvention, nach der am Ende einer Geschichte so etwas wie eine Perspektive stehen muss. In Zeiten, in denen ständig der gesellschaftliche Ausgleich gesucht wird, an Absprachen und Verabredungen gearbeitet wird – und dann trotzdem so etwas wie der russische Angriff auf die Ukraine passiert, hat eine solche Denk-Konstruktion politische Dimension.
„WEIL.“ ist ein radikaler Störenfried, weil das Buch ein alt bekanntes, aber immer wieder optimistisch in Frage gestelltes Menschenbild fortschreibt und die Konsequenzen unerbittlich aufzeigt: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Ein Blick aufs Weltgeschehen, auf aktuelle Kriege oder in jüngster Zeit auf Kinder, die Kinder töten, beweist: Menschen können immer alles sein, gut und böse, Täter, Opfer, beides zugleich. Angst und Abgründe sind in allen. Und so ist die Lehre dieses Lehrstücks, dass es keine Lehre gibt. Dafür aber jede Menge Denkanstöße: Unbequem, dunkel, spannend machen sie Ambivalenzen sichtbar. Warum es Gewalt gibt? „WEIL.“.
CHRISTINE KNÖDLER
Menschen können immer
alles sein, gut und böse,
Täter, Opfer
Martin Muser, geboren 1965, ist mit der „Kannawoniwasein“-Kinderbuchreihe bekannt geworden. In „WEIL.“ geht es nun wesentlich düsterer zu. Foto: Mina Binder/IJB
Martin Muser: WEIL.. Carlsen, Hamburg 2023. 128 Seiten, 13 Euro.
Ab 14 Jahren.
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