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Wer die Geschichte des Valentino Achak Deng liest, wird die Abendnachrichten mit anderen Augen sehen: Dave Eggers leistet humanitäre Hilfe / Von Felicitas von Lovenberg
Der Junge, dessen Geschichte hier erzählt wird, hat viele Namen. Seine Eltern in Marial Bai in Südsudan nennen ihn Achak oder Marialdit. "Du da in Rot!", ruft ihn ein Soldat im Bürgerkrieg, ein anderer spricht ihn an als "Jaysh al-Ahmar", Rote Armee. Die anderen Jungen, die es wie er nach Äthiopien, ins Flüchtlingslager Pinyudo, geschafft haben, taufen ihn "Weit gegangen" - wie er sie umgekehrt auch. Für die Kameraden im UN-Camp Kakuma ist er Dominic, und in die Vereinigten Staaten reist er ein unter dem Namen Dominic Arou. Dort wiederum ist er zunächst einmal einer der knapp viertausend sogenannten Lost Boys, die 2000, nach vierzehn Jahren, aus den äthiopischen Lagern geholt und in Amerika aufgenommen werden. Nach drei Jahren in Atlanta schließlich nimmt er den Namen Valentino Achak Deng an, eine Kombination aus seiner ursprünglichen und seiner späteren Identität.
Die Odyssee des Valentino Achak Deng schildert Dave Eggers in "Weit gegangen". Das Buch will beides sein, in der Ich-Form erzählte Autobiographie Dengs, und Roman, es muss also nicht alles stimmen - beziehungsweise hat Eggers die Geschichte Dengs offenbar um Erfahrungen anderer Lost Boys angereichert und so weiter verdichtet. Dave Eggers, ein inzwischen auch jenseits von Amerika so bekannter wie beliebter Autor, hat sich ganz in den Dienst der guten Sache gestellt. Er erzählt ein höchst eigenes und zugleich exemplarisches afrikanisches Schicksal, wie man es sich ärmer, brutaler und entbehrungsreicher nicht denken kann, und verleiht so den Abendnachrichten ein Gesicht, das man nicht mehr vergisst. Er sagt die Wahrheit, und er sagt sie gut. Er spendet seine Einkünfte aus dem Buch für Wiederaufbaumaßnahmen in Sudan. "Weit gegangen" ist zweifellos eine noble Tat. Aber ist es schon deswegen auch große Literatur?
Achak ist sechs Jahre alt, als sein Dorf verwüstet und er in dem Aufruhr von seinen Eltern getrennt wird. Auf der Flucht vor dem Anblick der Toten schließt er sich anderen heimatlos gewordenen Jungen an, die Gruppe schwillt an zu einem Strom von Kindern, vor allem Jungen, die eher fliehen konnten als Mädchen, da sie tagsüber oft abseits der Hütten auf den Feldern arbeiteten oder Vieh hüteten. Sie gehen und gehen und gehen; in Äthiopien, so heißt es, wären sie in Sicherheit. Manche lassen sich von den Soldaten der SPLA, der sudanesischen Befreiungsarmee, rekrutieren. Einige werden krank oder von Landminen zerfetzt, andere verhungern, manche werden verrückt, und viele stehen vor Erschöpfung irgendwann einfach nicht mehr auf. Das Sterben der Jungen wird immer leichter und vollzieht sich ohne Gegenwehr: "Das Leben fiel aus ihm heraus", beschreibt Eggers Dengs Erfahrung, "und sein Fleisch kehrte zur Erde zurück." Ein Satz, der häufig wiederkehrt. Schließlich trennt sie von Äthiopien, wo sie ihre Familien wiederzusehen hoffen, nur noch ein Fluss voller Krokodile. Dann der Schock: "Das Land sah genauso aus wie die andere Seite des Flusses, die Seite, wo der Sudan war, die Seite, die wir verlassen hatten. Es gab keine Hütten. Es gab keine medizinischen Einrichtungen. Kein Essen. Kein Trinkwasser. ,Das kann es nicht sein', sagte ich. ,Doch, Achak, wir sind da.'"
Für sein autobiographisches Buch "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität" (2003) über den frühen Krebstod der Eltern, der ihn für seine drei jüngeren Geschwister in eine Art Mutterrolle katapultierte, fand Dave Eggers einen aufgekratzten Ton, der mühelos die prekäre Balance zwischen Trauer und Situationskomik hielt. Die Geschichte Valentino Achak Dengs hält keine solchen Auflockerungen bereit, im Gegenteil. Denn Eggers erzählt sie als Rückblende des erwachsenen Mannes, der in seiner Wohnung in Atlanta von Schwarzen überfallen und ausgeraubt wird. Gefesselt und verprügelt auf dem Boden liegend, muss er mitansehen, wie seine bescheidenen Habseligkeiten davongeschleppt werden. Ein Junge, der dem Gedemütigten nicht in die Augen blicken kann, bewacht ihn, und diesem erzählt er in Gedanken seine Geschichte. Nachdem sein Mitbewohner endlich nach Hause gekommen ist, ihn befreit und ins Krankenhaus bringt, wo er in der leeren Notaufnahme stundenlang darauf wartet, endlich dranzukommen, richtet er seinen inneren Monolog an den dickfelligen Mann an der Rezeption. Dieser dramaturgische Kniff, der den Leser erst alle fünfzig, später dann alle hundert Seiten aus Afrika in eine zwar vertrautere, doch keineswegs anheimelndere Umgebung holt, dient als unaufdringliche Vergegenwärtigung dafür, dass Amerika mit dem Rassismus, einer aufflackernden "Geld regiert die Welt und die Krankenversorgung"-Mentalität, ja, selbst einem hochanständigen, doch oft unbeholfenen Gutmenschentum für die Flüchtlinge keineswegs immer das gelobte Land darstellt, sondern eben auch eine Fremde. Allerdings überlässt Eggers sich und uns zunehmend dem Strom der Ereignisse, die Valentino Achak Deng vom Auffanglager Pinyudo in das Flüchtlingslager der Vereinten Nationen in Kakuma und von dort in die Vereinigten Staaten bringen. In Äthiopien besucht er die Schule, lernt Englisch, trifft Mädchen, findet Freunde - aber er weiß nicht, was aus seinen Eltern geworden ist. Und auch im Camp ist der Tod nie weit.
Afrika ist längst nicht mehr der von Tania Blixen oder Ernest Hemingway literarisch kartierte Kontinent für Großwildjäger und andere zivilisationsmüde Europäer. Gerade in diesem Jahr hat er so engagierte Romane wie "Hundert Tage" von Lukas Bärfuss oder "Der General und der Clown" von Rainer Wocherle über den Völkermord in Ruanda hervorgebracht. Dave Eggers hingegen schreibt nicht als Blauhelm-Beobachter, sondern gewissermaßen als Afrikaner. Eben daraus bezieht sein Buch die unmittelbar berührende Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses. Aus der fremderzählten Autobiographie zusätzlich einen Roman zu machen, wäre indes nicht nötig gewesen; es gelingt auch nicht. Eggers will das Geschehen einerseits vermitteln und zugleich mitten hineinführen; er bemüht sich um einen Ton, der nicht literarisierend beschönigen, sondern schlicht erzählen will, kann aber seine Betroffenheit nicht immer verhehlen - das könnte wohl nur der, der diese Geschichte selbst erlebt hat. So ist ein Werk entstanden, das sich aus Empathie speist und diese auch im Leser weckt, aber das kein Kunstwerk sein will, weil es dazu einer Distanz (keiner Distanzierung!) bedurft hätte, die Eggers nicht aufkommen lässt. Und so leidet das Buch nicht nur an Überlänge und dann einer dem Schluss zustrebenden Eile, die sich nurmehr wenig um die Feinheiten der Dramaturgie schert, sondern ausgerechnet an seiner guten Absicht.
"Weit gegangen" ist eine Art oral history des sudanesischen Bürgerkriegs, ein Mahnmal für die zweieinhalb Millionen Menschen, die dabei umgekommen sind, und ein Dank an jene Amerikaner, die sich der Lost Boys annahmen. Es ist ein Akt humanitärer Hilfe in Buchform. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Dave Eggers: "Weit gegangen". Das Leben des Valentino Achak Deng. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 764 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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