Jessica sagt bedingungslos und in den unmöglichsten Momenten die Wahrheit. Ihr Widerwille gegen Anpassung bringt sie in dem kleinen englischen Badeort ständig in verquere Situationen. Sie hat genau eine Freundin – der Rest ihrer kleinen kriegsüberschatteten Welt begegnet ihr mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Aber das ist ihr egal, denn eigentlich braucht sie all ihre explosive Kraft, um Schriftstellerin zu werden. Oder ist sie das schon? „Weit weg von Verona“ ist Jane Gardams erster Roman. Doch er enthält bereits all das, wofür sie bewundert wird – die atmosphärische Stärke, den Mut zum Geheimnis und ihren besonderen Witz. Mit Jessica Vye hat sie eine der hinreißendsten Figuren überhaupt geschaffen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2018Kleine Schriftstellerin im Luftkrieg
Die herrliche neue Übersetzung von Jane Gardams frühem Roman „Weit weg von Verona“
Arnold Hanger ist ein miserabler Schriftsteller, aber er hat den Vorzug, dass es ihn nie gegeben hat. Daher ist es auch kein Wunder, dass „NIEMAND von dem Mann je gehört“ hatte, als er an Jessicas Schule Ende der 1930er Jahre als Stargast einen imponierenden Auftritt hinlegte. Jessica, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman „Weit weg von Verona“, war damals neun Jahre alt. Hanger imponierte den Schülern, weil er, schon im Gehen begriffen, sich umwandte und rief: „Zur Hölle mit der Schule! Es geht um die Sprache. DIE SPRACHE IST DAS LEBEN.“
Schon damals saß Jessica auf einem Zettelkonvolut mit Selbstgedichtetem und wollte, ebenso selbstbewusst wie unsicher, dringend wissen, ob ihre Texte etwas wert seien. Es gelang ihr, Hanger ihr junges Opus zuzustecken, und er schrieb ihr in einem Brief: „DU BIST OHNE JEDEN ZWEIFEL EINE ECHTE SCHRIFTSTELLERIN!“ So etwas vergisst ein Mädchen nicht. Der Auftakt ist gemacht: der von Jessicas Traum, Schriftstellerin zu werden und der von Gardams Buch.
Inzwischen befinden sich die Leser im Jahr 1940. Jessica ist zwölf, die Pubertät schleicht heran. Ihre Heimatstadt im Nordosten Englands wird regelmäßig von den Deutschen bombardiert; die Gasmaske gehört zur Ausrüstung so selbstverständlich wie der Schulranzen. Jessica ist daran gewöhnt. Sie ist noch ganz Kind: Was sie an Vorstellungen auf ihre Umwelt projiziert, das ist für sie die Wirklichkeit; die Nächte im Bombenkeller sind bei Tag schon wieder vergessen.
Zu den guten Ratschlägen an alle Autoren gehört es, nur über Dinge zu schreiben, von denen sie etwas verstehen. Folglich gibt es Romane sonder Zahl, deren Protagonisten Schriftsteller sind. Das Kalkül geht indes nicht immer auf, dann nämlich, wenn Autoren übersehen, dass die Umstände ihrer Berufsausübung für sie selbst sehr viel interessanter sind als für andere Leute. Was das Buch der englischen Autorin Jane Gardam angeht, gilt das nicht: „Weit weg von Verona“ gehört zu den schönsten „Schriftstellerromanen“ der Literaturgeschichte.
Jessica, wie gesagt, ist zwölf Jahre alt. Von zwei Dingen ist sie überzeugt. Das eine: Sie habe „die Gabe“ zu erahnen, was andere denken. Wann immer Klassenkameradinnen hinter ihrem Rücken tuscheln, so meint sie, ratschen die Mädchen schlecht über sie. Ihr Fazit: „ich bin nicht besonders beliebt“.
Zweitens: Sie habe mehr Durchblick als alle anderen – auch mehr als ihre Eltern, die sie ein bisschen bescheuert findet. Der Vater ist Pastor, wählt die Labour Party, schreibt für die linke Zeitschrift New Statesman und singt in der Kirche „zu laut“. Der Mutter brennt immer das Essen an, weil sie im Gemeindedienst so engagiert ist, dass sie nichts fertig kochen kann – und die Tochter findet die Zettel jedes Mal zu spät, auf denen die Mutter Fertigkochinstruktionen hinterlässt. Kurz: Jessica glaubt sich ihren Eltern überlegen.
Sie fühlt sich einsam in ihrer Höhe. Literatur hilft, ein wenig jedenfalls. In der öffentlichen Bibliothek gibt es ein Regal mit „Englischen Klassikern“. Diese Bücher will Jessica der alphabetischen Sortierung nach alle lesen. Als angehende Schriftstellerin ist sie sich nicht zu schade, von berühmten Autoren zu lernen. Konsterniert stellt sie fest: von A bis C läuft es ganz gut, da gibt es Jane Austen, Emily Brontë und Charles Dickens. Dann kommt noch Thomas Hardy – und dann lange praktisch gar nichts, bevor es bei dem Buchstaben R mit Samuel Richardson wieder losgeht.
Derweil fallen nachts die deutschen Bomben; einmal gerät Jessica tagsüber in ein Bombardement. Sie trifft einen Jungen, den sie wunderschön findet. Manche Lehrerinnen mag sie, andere findet sie grässlich. Ganz übel stößt ihr auf, wenn sie beteuern soll, sie werde aus einem Fehler lernen: entwürdigend findet sie das. Neben dem „Schriftstelleroman“ gibt es ein weiteres Genre, mit dem Leser ins Hadern kommen können: Den Entwicklungsroman, vom Vorurteil zur Einsicht, vom Egozentrismus zur Empathie. Gardams Jessica lernt zwar eine ganze Menge, aber weil sie das in ihrer Ich-Erzählung gar nicht recht wahrnimmt, fühlen auch die Leser sich nicht geschulmeistert.
Jane Gardam hat ihren Roman „Weit weg von Verona“ 1971 erstmals veröffentlicht. 1940 war sie, genau wie ihre Heldin, 12 Jahre alt. Offenbar hatte sie dreißig Jahre später noch eine gute Erinnerung an die absurden Beobachtungen, die man als kleiner Mensch in der Welt der Großen macht. Ihr Buch ist ganz ungemein lustig. Die Komik erwächst nicht allein aus Sprachwitz und Esprit, wofür die britische Literatur bekannt ist, sondern auch aus ihrem Sinn für die Psyche unterschiedlicher Menschen, seien es Erwachsene oder Kinder.
Das solide Fundament von Gardams Komik ist ihre genaue Schilderung der Lebensverhältnisse in der Ortschaft, in der Jessica heranwächst. Einmal ist das Mädchen eingeladen in der Villa eines in der Hierarchie über ihrem Vater stehenden Geistlichen, dessen Familie zwar sparsam, aber in besseren Verhältnissen lebt. Alle seine Kinder gehen auf ein Internat. Jessicas Mutter ist schrecklich aufgeregt und überlegt hin und her, was die Tochter an diesem wichtigen Tag anziehen soll. Nachdem sie Jessica damit ausführlich auf die Nerven gegangen ist und ihr ein grässliches Flanellkleid aufgedrängt hat, beendet die Mutter das Thema mit den Worten: „Das ist das einzig Gute am Krieg – niemand hat bessere Kleider als die anderen.“
„Weit weg von Verona“ wird deutschen Lesern auch eine Freude sein, weil Isabel Bogdan es herrlich frech ins Deutsche übersetzt hat, mit Schwung, mit einer amüsanten Mischung von Umgangssprache (inklusive Comicheft-Ausdrücken wie „seufz“, „jaul“) und schön gebauten Sätzen mit altmodischen Wörtern wie „Schnickschnack“.
Erklärungsbedürftig ist noch der Titel „Weit weg von Verona“: Das ganze Buch über versucht Jessica immer wieder Shakespeares „Romeo und Julia“ zu lesen, deren Protagonisten bekanntlich in Verona leben. Es gelingt ihr nicht, sie kommt, wie sie sagt, „nicht rein“. Im Jahr 1940, unter deutschen Bomben, mit Lebensmittelkarten und Problemen, die mit denen der Montagues und Capulets so gar nichts zu tun haben, lebt sie wirklich weit weg von Verona. Am Ende stellt sich für Jessica natürlich die Frage, ob sie zur Schriftstellerin taugt: Grins, grins.
FRANZISKA AUGSTEIN
Wenn sie aus ihren
Fehlern lernen soll, findet
sie das entwürdigend
Jane Gardam:
Weit weg von Verona. Roman. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin, München 2018. 237 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die herrliche neue Übersetzung von Jane Gardams frühem Roman „Weit weg von Verona“
Arnold Hanger ist ein miserabler Schriftsteller, aber er hat den Vorzug, dass es ihn nie gegeben hat. Daher ist es auch kein Wunder, dass „NIEMAND von dem Mann je gehört“ hatte, als er an Jessicas Schule Ende der 1930er Jahre als Stargast einen imponierenden Auftritt hinlegte. Jessica, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman „Weit weg von Verona“, war damals neun Jahre alt. Hanger imponierte den Schülern, weil er, schon im Gehen begriffen, sich umwandte und rief: „Zur Hölle mit der Schule! Es geht um die Sprache. DIE SPRACHE IST DAS LEBEN.“
Schon damals saß Jessica auf einem Zettelkonvolut mit Selbstgedichtetem und wollte, ebenso selbstbewusst wie unsicher, dringend wissen, ob ihre Texte etwas wert seien. Es gelang ihr, Hanger ihr junges Opus zuzustecken, und er schrieb ihr in einem Brief: „DU BIST OHNE JEDEN ZWEIFEL EINE ECHTE SCHRIFTSTELLERIN!“ So etwas vergisst ein Mädchen nicht. Der Auftakt ist gemacht: der von Jessicas Traum, Schriftstellerin zu werden und der von Gardams Buch.
Inzwischen befinden sich die Leser im Jahr 1940. Jessica ist zwölf, die Pubertät schleicht heran. Ihre Heimatstadt im Nordosten Englands wird regelmäßig von den Deutschen bombardiert; die Gasmaske gehört zur Ausrüstung so selbstverständlich wie der Schulranzen. Jessica ist daran gewöhnt. Sie ist noch ganz Kind: Was sie an Vorstellungen auf ihre Umwelt projiziert, das ist für sie die Wirklichkeit; die Nächte im Bombenkeller sind bei Tag schon wieder vergessen.
Zu den guten Ratschlägen an alle Autoren gehört es, nur über Dinge zu schreiben, von denen sie etwas verstehen. Folglich gibt es Romane sonder Zahl, deren Protagonisten Schriftsteller sind. Das Kalkül geht indes nicht immer auf, dann nämlich, wenn Autoren übersehen, dass die Umstände ihrer Berufsausübung für sie selbst sehr viel interessanter sind als für andere Leute. Was das Buch der englischen Autorin Jane Gardam angeht, gilt das nicht: „Weit weg von Verona“ gehört zu den schönsten „Schriftstellerromanen“ der Literaturgeschichte.
Jessica, wie gesagt, ist zwölf Jahre alt. Von zwei Dingen ist sie überzeugt. Das eine: Sie habe „die Gabe“ zu erahnen, was andere denken. Wann immer Klassenkameradinnen hinter ihrem Rücken tuscheln, so meint sie, ratschen die Mädchen schlecht über sie. Ihr Fazit: „ich bin nicht besonders beliebt“.
Zweitens: Sie habe mehr Durchblick als alle anderen – auch mehr als ihre Eltern, die sie ein bisschen bescheuert findet. Der Vater ist Pastor, wählt die Labour Party, schreibt für die linke Zeitschrift New Statesman und singt in der Kirche „zu laut“. Der Mutter brennt immer das Essen an, weil sie im Gemeindedienst so engagiert ist, dass sie nichts fertig kochen kann – und die Tochter findet die Zettel jedes Mal zu spät, auf denen die Mutter Fertigkochinstruktionen hinterlässt. Kurz: Jessica glaubt sich ihren Eltern überlegen.
Sie fühlt sich einsam in ihrer Höhe. Literatur hilft, ein wenig jedenfalls. In der öffentlichen Bibliothek gibt es ein Regal mit „Englischen Klassikern“. Diese Bücher will Jessica der alphabetischen Sortierung nach alle lesen. Als angehende Schriftstellerin ist sie sich nicht zu schade, von berühmten Autoren zu lernen. Konsterniert stellt sie fest: von A bis C läuft es ganz gut, da gibt es Jane Austen, Emily Brontë und Charles Dickens. Dann kommt noch Thomas Hardy – und dann lange praktisch gar nichts, bevor es bei dem Buchstaben R mit Samuel Richardson wieder losgeht.
Derweil fallen nachts die deutschen Bomben; einmal gerät Jessica tagsüber in ein Bombardement. Sie trifft einen Jungen, den sie wunderschön findet. Manche Lehrerinnen mag sie, andere findet sie grässlich. Ganz übel stößt ihr auf, wenn sie beteuern soll, sie werde aus einem Fehler lernen: entwürdigend findet sie das. Neben dem „Schriftstelleroman“ gibt es ein weiteres Genre, mit dem Leser ins Hadern kommen können: Den Entwicklungsroman, vom Vorurteil zur Einsicht, vom Egozentrismus zur Empathie. Gardams Jessica lernt zwar eine ganze Menge, aber weil sie das in ihrer Ich-Erzählung gar nicht recht wahrnimmt, fühlen auch die Leser sich nicht geschulmeistert.
Jane Gardam hat ihren Roman „Weit weg von Verona“ 1971 erstmals veröffentlicht. 1940 war sie, genau wie ihre Heldin, 12 Jahre alt. Offenbar hatte sie dreißig Jahre später noch eine gute Erinnerung an die absurden Beobachtungen, die man als kleiner Mensch in der Welt der Großen macht. Ihr Buch ist ganz ungemein lustig. Die Komik erwächst nicht allein aus Sprachwitz und Esprit, wofür die britische Literatur bekannt ist, sondern auch aus ihrem Sinn für die Psyche unterschiedlicher Menschen, seien es Erwachsene oder Kinder.
Das solide Fundament von Gardams Komik ist ihre genaue Schilderung der Lebensverhältnisse in der Ortschaft, in der Jessica heranwächst. Einmal ist das Mädchen eingeladen in der Villa eines in der Hierarchie über ihrem Vater stehenden Geistlichen, dessen Familie zwar sparsam, aber in besseren Verhältnissen lebt. Alle seine Kinder gehen auf ein Internat. Jessicas Mutter ist schrecklich aufgeregt und überlegt hin und her, was die Tochter an diesem wichtigen Tag anziehen soll. Nachdem sie Jessica damit ausführlich auf die Nerven gegangen ist und ihr ein grässliches Flanellkleid aufgedrängt hat, beendet die Mutter das Thema mit den Worten: „Das ist das einzig Gute am Krieg – niemand hat bessere Kleider als die anderen.“
„Weit weg von Verona“ wird deutschen Lesern auch eine Freude sein, weil Isabel Bogdan es herrlich frech ins Deutsche übersetzt hat, mit Schwung, mit einer amüsanten Mischung von Umgangssprache (inklusive Comicheft-Ausdrücken wie „seufz“, „jaul“) und schön gebauten Sätzen mit altmodischen Wörtern wie „Schnickschnack“.
Erklärungsbedürftig ist noch der Titel „Weit weg von Verona“: Das ganze Buch über versucht Jessica immer wieder Shakespeares „Romeo und Julia“ zu lesen, deren Protagonisten bekanntlich in Verona leben. Es gelingt ihr nicht, sie kommt, wie sie sagt, „nicht rein“. Im Jahr 1940, unter deutschen Bomben, mit Lebensmittelkarten und Problemen, die mit denen der Montagues und Capulets so gar nichts zu tun haben, lebt sie wirklich weit weg von Verona. Am Ende stellt sich für Jessica natürlich die Frage, ob sie zur Schriftstellerin taugt: Grins, grins.
FRANZISKA AUGSTEIN
Wenn sie aus ihren
Fehlern lernen soll, findet
sie das entwürdigend
Jane Gardam:
Weit weg von Verona. Roman. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin, München 2018. 237 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2018Wie kommt der Blitzkrieg in den Bärlauchwald?
Jane Gardams wiederentdeckter Romanerstling "Weit weg von Verona" schildert eine englische Jugend um 1940 - aber fragt auch, was Jungsein überhaupt heißt
Tut, als wäre es wahr, ist aber alles gelogen! Voller Belanglosigkeiten, formlos, selbstverliebt, zu lang! Am besten vernichten! Gnadenlos donnert das Verdikt von Jessicas Lehrerin Miss Dobbs auf die Zwölfjährige nieder, dabei können wir uns ungefähr vorstellen, wie furios deren 47-Seiten-Aufsatz zum einfallslosesten aller Themen, "Mein schönster Ferientag", war: Sein Inhalt gehört zum höchst amüsanten Auftakt von Jane Gardams Roman "Weit weg von Verona". Darin tritt uns die wahlweise als "Grand Old Lady" oder "erstaunlichstes It-Girl" der britischen Literatur titulierte Schriftstellerin, die 1928 geboren wurde, in Deutschland lange nahezu unbekannt blieb und vor drei Jahren - dem Hanser Verlag sei Dank - mit ihrer Trilogie um die Leute von Old Filth auch bei uns Bestsellerlisten eroberte, noch frischer und frecher entgegen, als sie es ohnehin geblieben ist.
"Fern von Verona" ist Jane Gardams Erstling, 1971 erschienen und zuerst als Jugendbuch vermarktet. "Ich" ist sein erstes Wort. Und das Wort hat eine eigenwillige Hilfspfarrerstochter, die sich immerzu sagen lassen muss, dass man Sätze nicht mit "ich" beginne. Dabei ist sie doch schon im Alter von neun Jahren von dem vor Ort weltberühmten Literaten Arnold Hanger beim Namen genannt worden und hat eine Berufung zugesprochen bekommen: "Jessica Vye, du bist ohne jeden Zweifel eine echte Schriftstellerin."
So ist es. Denn Jessica hat den literarischen Charakterdefekt "unweigerlich immer und überall die Wahrheit zu sagen", dazu die Fähigkeiten, das Erstaunliche im Alltäglichen zu sehen und es in Worte zu fassen. Dieses junge Alter Ego der Autorin - wie Jane Gardam wächst Jessica Vye in einem englischen Badeort auf - begleiten wir durch knapp vier Jahre, in denen der Zweite Weltkrieg über das fiktive Cleveland Sands zieht. Der Strand ist vermint, nachts kommen die Bomber. Aber über dem mal ferneren, mal näheren Grollen der Weltkatastrophe flattert mit quecksilbriger Lebendigkeit dieses Mädchen an der Schwelle zur Jugendlichen, das notiert: "Komisch, dass man die Luftangriffe tagsüber einfach vergisst."
Jessica ficht ihre eigenen Kämpfe aus: damit, dass sie angeblich keiner mag, dass sie drei Tadel an einem Tag kassiert (zu Unrecht!), und damit, dass sie selbst vieles als derart überwältigend wunderbar, verwirrend oder einschüchternd erlebt, dass sie gar nicht anders kann, als es abscheulich zu finden. Wodurch sie im ständigen Clinch mit sich selbst liegt, aber auch charmant böse Bekenntnisse für Teilzeit-Misanthropen raushaut wie: "Ich mag Leute, die dauernd Klavier spielen, eigentlich nicht so gerne. Sie haben so gemeine kleine Münder." Die Lehrerin Miss Phelomen, eine der phänomenal verschrobenen Helfergestalten in diesem an starken Frauencharakteren reichen Roman, sagt, das liege am Magen. Was ein sehr schönes Wort für Pubertät ist.
Nicht, dass das große Schreckliche dadurch seinen Schrecken verlöre. Die Gasmaske liegt immer im Ranzen, alles ist rationiert, und Springseilreime der Kinder handeln von Hitler. Aber wer kann schon, zumal als Gerade-mal-Teenager, in ängstlicher Erstarrung verharren? Das Kunststück Jane Gardams liegt darin, dass es ihr gelingt, durch das Prisma des Schulalltags an Jessicas Highschool, ihrer Ausflüge mit anderen Mädchen und schließlich mit dem wunderbarsten aller Jungen Blitze des Blitzkriegs zucken zu lassen. Nicht als zeithistorisches Dekorationsgewitter, sondern um erhellende Momente zu markieren, in denen Jessica wächst.
Da ist im ersten Abschnitt des in drei Teile gegliederten Romans die Begegnung im Bärlauchwald mit einem entflohenen italienischen Kriegsgefangenen, dem "Verrückten", die als Verzauberung beginnt. Augenblicke später scheint das ganze Elend des geschlagenen Kämpfers für eine schlechte Sache als menschliche Tragödie auf. Und wieder Wimpernschläge darauf tritt ein "komisches Mögen" in den Blick des Soldaten. Da wird es plötzlich sehr kalt und dunkel.
Alles verändert sich unentwegt, auch weil es eine Frage der Perspektive ist. Mal direkt an den Leser gerichtet, mal in Form von Briefen, die Jessica empfängt, dann wieder in der von Briefen, die sie schreibt (und zur Hälfte zurückhält), immer in einer vor Ausrufen, Einschüben und Hervorhebungen in Großbuchstaben tanzenden Sprache, verlebendigt Jane Gardam, was es bedeutet, Jugendliche zu sein: in eine phantastische Welt ohne Sicherheiten einzutreten - voller unbekannter Gefahren.
Diesen zeitlosen Aspekt an Jessicas Geschichte macht der Verlag stark, wenn er mit Titelbild und Klappentext jeglichen Hinweis auf ihre Handlungs- und Entstehungszeit vermeidet. Tatsächlich wirkt Jessica, obwohl Isabel Bogdans Übersetzung jede Anbiederung an allzu gegenwärtiges Deutsch vermeidet und obwohl ein Bombenangriff auf eine Arbeitersiedlung zu den zentralen Erschütterungen der Protagonistin gehört, erstaunlich heutig. Sie ist unabhängig und will keine Dame werden, sondern ein guter Mensch, sie lässt sich wenig sagen und erst recht nicht das Schreiben ausreden. Arnold Hanger soll recht behalten.
URSULA SCHEER
Jane Gardam:
"Weit weg von Verona".
Roman.
Aus dem Englischen von
Isabel Bogdan. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jane Gardams wiederentdeckter Romanerstling "Weit weg von Verona" schildert eine englische Jugend um 1940 - aber fragt auch, was Jungsein überhaupt heißt
Tut, als wäre es wahr, ist aber alles gelogen! Voller Belanglosigkeiten, formlos, selbstverliebt, zu lang! Am besten vernichten! Gnadenlos donnert das Verdikt von Jessicas Lehrerin Miss Dobbs auf die Zwölfjährige nieder, dabei können wir uns ungefähr vorstellen, wie furios deren 47-Seiten-Aufsatz zum einfallslosesten aller Themen, "Mein schönster Ferientag", war: Sein Inhalt gehört zum höchst amüsanten Auftakt von Jane Gardams Roman "Weit weg von Verona". Darin tritt uns die wahlweise als "Grand Old Lady" oder "erstaunlichstes It-Girl" der britischen Literatur titulierte Schriftstellerin, die 1928 geboren wurde, in Deutschland lange nahezu unbekannt blieb und vor drei Jahren - dem Hanser Verlag sei Dank - mit ihrer Trilogie um die Leute von Old Filth auch bei uns Bestsellerlisten eroberte, noch frischer und frecher entgegen, als sie es ohnehin geblieben ist.
"Fern von Verona" ist Jane Gardams Erstling, 1971 erschienen und zuerst als Jugendbuch vermarktet. "Ich" ist sein erstes Wort. Und das Wort hat eine eigenwillige Hilfspfarrerstochter, die sich immerzu sagen lassen muss, dass man Sätze nicht mit "ich" beginne. Dabei ist sie doch schon im Alter von neun Jahren von dem vor Ort weltberühmten Literaten Arnold Hanger beim Namen genannt worden und hat eine Berufung zugesprochen bekommen: "Jessica Vye, du bist ohne jeden Zweifel eine echte Schriftstellerin."
So ist es. Denn Jessica hat den literarischen Charakterdefekt "unweigerlich immer und überall die Wahrheit zu sagen", dazu die Fähigkeiten, das Erstaunliche im Alltäglichen zu sehen und es in Worte zu fassen. Dieses junge Alter Ego der Autorin - wie Jane Gardam wächst Jessica Vye in einem englischen Badeort auf - begleiten wir durch knapp vier Jahre, in denen der Zweite Weltkrieg über das fiktive Cleveland Sands zieht. Der Strand ist vermint, nachts kommen die Bomber. Aber über dem mal ferneren, mal näheren Grollen der Weltkatastrophe flattert mit quecksilbriger Lebendigkeit dieses Mädchen an der Schwelle zur Jugendlichen, das notiert: "Komisch, dass man die Luftangriffe tagsüber einfach vergisst."
Jessica ficht ihre eigenen Kämpfe aus: damit, dass sie angeblich keiner mag, dass sie drei Tadel an einem Tag kassiert (zu Unrecht!), und damit, dass sie selbst vieles als derart überwältigend wunderbar, verwirrend oder einschüchternd erlebt, dass sie gar nicht anders kann, als es abscheulich zu finden. Wodurch sie im ständigen Clinch mit sich selbst liegt, aber auch charmant böse Bekenntnisse für Teilzeit-Misanthropen raushaut wie: "Ich mag Leute, die dauernd Klavier spielen, eigentlich nicht so gerne. Sie haben so gemeine kleine Münder." Die Lehrerin Miss Phelomen, eine der phänomenal verschrobenen Helfergestalten in diesem an starken Frauencharakteren reichen Roman, sagt, das liege am Magen. Was ein sehr schönes Wort für Pubertät ist.
Nicht, dass das große Schreckliche dadurch seinen Schrecken verlöre. Die Gasmaske liegt immer im Ranzen, alles ist rationiert, und Springseilreime der Kinder handeln von Hitler. Aber wer kann schon, zumal als Gerade-mal-Teenager, in ängstlicher Erstarrung verharren? Das Kunststück Jane Gardams liegt darin, dass es ihr gelingt, durch das Prisma des Schulalltags an Jessicas Highschool, ihrer Ausflüge mit anderen Mädchen und schließlich mit dem wunderbarsten aller Jungen Blitze des Blitzkriegs zucken zu lassen. Nicht als zeithistorisches Dekorationsgewitter, sondern um erhellende Momente zu markieren, in denen Jessica wächst.
Da ist im ersten Abschnitt des in drei Teile gegliederten Romans die Begegnung im Bärlauchwald mit einem entflohenen italienischen Kriegsgefangenen, dem "Verrückten", die als Verzauberung beginnt. Augenblicke später scheint das ganze Elend des geschlagenen Kämpfers für eine schlechte Sache als menschliche Tragödie auf. Und wieder Wimpernschläge darauf tritt ein "komisches Mögen" in den Blick des Soldaten. Da wird es plötzlich sehr kalt und dunkel.
Alles verändert sich unentwegt, auch weil es eine Frage der Perspektive ist. Mal direkt an den Leser gerichtet, mal in Form von Briefen, die Jessica empfängt, dann wieder in der von Briefen, die sie schreibt (und zur Hälfte zurückhält), immer in einer vor Ausrufen, Einschüben und Hervorhebungen in Großbuchstaben tanzenden Sprache, verlebendigt Jane Gardam, was es bedeutet, Jugendliche zu sein: in eine phantastische Welt ohne Sicherheiten einzutreten - voller unbekannter Gefahren.
Diesen zeitlosen Aspekt an Jessicas Geschichte macht der Verlag stark, wenn er mit Titelbild und Klappentext jeglichen Hinweis auf ihre Handlungs- und Entstehungszeit vermeidet. Tatsächlich wirkt Jessica, obwohl Isabel Bogdans Übersetzung jede Anbiederung an allzu gegenwärtiges Deutsch vermeidet und obwohl ein Bombenangriff auf eine Arbeitersiedlung zu den zentralen Erschütterungen der Protagonistin gehört, erstaunlich heutig. Sie ist unabhängig und will keine Dame werden, sondern ein guter Mensch, sie lässt sich wenig sagen und erst recht nicht das Schreiben ausreden. Arnold Hanger soll recht behalten.
URSULA SCHEER
Jane Gardam:
"Weit weg von Verona".
Roman.
Aus dem Englischen von
Isabel Bogdan. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Weit weg von Verona' gehört zu den schönsten 'Schriftstellerromanen' der Literaturgeschichte ... Das Buch wird deutschen Lesern auch eine Freude sein, weil Isabel Bogdan es herrlich frech ins Deutsche übersetzt hat, mit Schwung, mit einer amüsanten Mischung von Umgangssprache und schön gebauten Sätzen mit altmodischen Wörtern wie 'Schnickschnack'." Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung, 21.11.18
"Das Kunststück Jane Gardams liegt darin, dass es ihr gelingt, durch das Prisma des Schulalltags an Jessicas Highschool, ihrer Ausflüge mit anderen Mädchen und schließlich mit dem wunderbarsten aller Jungen Blitze des Blitzkriegs zucken zu lassen." Ursula Scheer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2018
"Wir treffen auf eine der hinreißendsten Mädchen-Heldinnen der englischen Literaturgeschichte[...] Jessica Vye ist eine Erzählerin, an der man seine reine Freude hat. Ein kleiner, runder Roman, in dem Jane Gardam schon den ironisch-humorvollen Ton anschlägt, für den auch die deutsche Leserschaft sie so liebt." Mareike Ilsemann, WDR 5, 03.11.2018
"Ich habe diesen Roman sehr, sehr gern gelesen - als Erstlingsroman, als Debüt ein hochinteressantes Buch." Rainer Moritz, NDR Kultur, 28.08.2018
"Es ist die Direktheit des Tons, die Leichtigkeit und Frische ihres Stils. Sie sorgen dafür, dass es nur einen Absatz braucht, um auch Jane Gardams ersten Roman auf Anhieb zu mögen." Claudia Voigt, Literatur Spiegel, 25.08.2018
"In 'Weit weg von Verona' findet sich bereits alles, das Gardams Werk auszeichnet: ein klarer, behänder Schreibstil, scharfe Beobachtung, subtile Charakterzeichnung, hintergründig-witzige Dialogführung, raffinierte Plot-Konstruktion, ein Erzählgestus von klarsichtiger Nüchternheit und stoischem Pragmatismus, durchsprenkelt mit leisem Sarkasmus." Sigrid Löffler, Kulturradio rbb, 20.08.2018
"In Jessica steckt viel von Jane Gardam, die eine Menge von dieser seltenen Sorte 'liebenswürdiger Humor' besitzt." Peter Pisa, Kurier, 11.08.18
"Jane Gardams Sprache, von Isabel Bogdan mit vibrierender Lust übersetzt, ist klar und erfrischend wie das Wasser der Seen im Lake District." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.18
"Das Kunststück Jane Gardams liegt darin, dass es ihr gelingt, durch das Prisma des Schulalltags an Jessicas Highschool, ihrer Ausflüge mit anderen Mädchen und schließlich mit dem wunderbarsten aller Jungen Blitze des Blitzkriegs zucken zu lassen." Ursula Scheer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2018
"Wir treffen auf eine der hinreißendsten Mädchen-Heldinnen der englischen Literaturgeschichte[...] Jessica Vye ist eine Erzählerin, an der man seine reine Freude hat. Ein kleiner, runder Roman, in dem Jane Gardam schon den ironisch-humorvollen Ton anschlägt, für den auch die deutsche Leserschaft sie so liebt." Mareike Ilsemann, WDR 5, 03.11.2018
"Ich habe diesen Roman sehr, sehr gern gelesen - als Erstlingsroman, als Debüt ein hochinteressantes Buch." Rainer Moritz, NDR Kultur, 28.08.2018
"Es ist die Direktheit des Tons, die Leichtigkeit und Frische ihres Stils. Sie sorgen dafür, dass es nur einen Absatz braucht, um auch Jane Gardams ersten Roman auf Anhieb zu mögen." Claudia Voigt, Literatur Spiegel, 25.08.2018
"In 'Weit weg von Verona' findet sich bereits alles, das Gardams Werk auszeichnet: ein klarer, behänder Schreibstil, scharfe Beobachtung, subtile Charakterzeichnung, hintergründig-witzige Dialogführung, raffinierte Plot-Konstruktion, ein Erzählgestus von klarsichtiger Nüchternheit und stoischem Pragmatismus, durchsprenkelt mit leisem Sarkasmus." Sigrid Löffler, Kulturradio rbb, 20.08.2018
"In Jessica steckt viel von Jane Gardam, die eine Menge von dieser seltenen Sorte 'liebenswürdiger Humor' besitzt." Peter Pisa, Kurier, 11.08.18
"Jane Gardams Sprache, von Isabel Bogdan mit vibrierender Lust übersetzt, ist klar und erfrischend wie das Wasser der Seen im Lake District." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.18