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Urgestein trifft Occupy – aber welche Farbe hat Berlin? Klaus Bittermann und David Wagner beobachten die sich rapide wandelnde Hauptstadt
Beschreibungen von Berlin werden schnell zu Kampfschriften ums richtige Leben, und sonderbarerweise wird das anderswo, wo weniger programmatisch gewohnt wird, gar nicht ungern gelesen. Das gute, umwelt- und familienfreundliche Leben im neuen Prenzlauer Berg soll dann als das ganz falsche entlarvt werden: ein neues Biedermeier. Der gleiche Kampf wird längst um Kreuzberg geführt, nur dass dieser Bezirk noch nicht verloren sein soll an Mütter, Kinderwagen, Bioläden und die bösen, bösen Touristen. Doch überall drängen die Zuzügler aus den Provinzen den abgebrühten Einheimischen ihr Spießertum auf. Bloß, dass diese Einheimischen oft genug selbst als Provinzflüchtlinge begonnen hatten, vor allem in Kreuzberg. Berlin bleibt Flugsand, und wird auf Dauer seine zersetzende Kraft bewähren. Warten wir ab, bis der neue Prenzlauer Berg in die Pubertät kommt.
Einstweilen kann man sich die Zeit vertreiben mit zwei Sammlungen von Beobachtungen, die bleiben werden, weil sie den Moment aufbewahren. „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“ nennt Klaus Bittermann, der Doyen der Kreuzberger Literatur, seine Sammlung von Glossen. Sie sind so gut wie der Titel. Von seinem Wohnort nahe der Admiralsbrücke aus – sie verbindet SO 36 und Kreuzberg 61, den struppigen und den weniger struppigen Teil des Bezirks und ist neuerdings Stätte berüchtigter, von den Anwohnern erfolglos bekämpfter sommerlicher Biernächte des internationalen Jugendtourismus – beobachtet Bittermann den unaufhaltsamen Wandel seiner Lebenswelt. Seine Sympathie gehört dem Verschwindenden, den dunklen, verrauchten Punkschuppen, wo der Trinker und der Hertha-Fan noch regiert, wo Bommi Baumann Lesungen abhält und Gesundheit nicht der Maßstab aller Dinge ist.
Freilich, längst wachsen auch hier in der Nachbarschaft Salumerien, und selbst Bittermann trinkt zur offensiv genossenen Zigarette gern Latte macchiato. Dabei bewahrt er sich einen stoischen Tonfall in der niederen Frequenz des Hard-boiled-Romans von Raymond Chandler. Szene vom 1. Mai, dem Kiezfeiertag: „Am Ende des Lasters steht ein ganz junger Mensch. Er hält sehr gewissenhaft das Seil, hat rotgrüne Haare und ungefähr zwei Pfund Metall im Gesicht. Er verzieht keine Miene. Mit dem Metall geht das vielleicht auch gar nicht.“ „Da will ich nur Spaghetti essen, fragt mich die Bedienung: ,Geht's Ihnen gut?‘ Eigentlich schon, aber jetzt, wo mich die Frau fragt, geht’s mir auf jeden Fall schon mal ziemlich schlecht.“ Da hilft nur die Flucht in die düstere und ganz zu unrecht so heißende „Milchbar“ in der Manteuffelstraße, „denn hier ist man vor sensiblen Bedienungen sicher“. Schön zu lesen ist das und gar nicht unkomisch, vor allem wenn Bittermann seinen Kiez verlässt und durch eine Unibesetzung spaziert, weil da Toni Negri auftreten soll: Urgestein trifft Occupy.
Feiner, stiller, noch genauer ist der zwanzig Jahre jüngere David Wagner, der einzige deutsche Schüler Nicholson Bakers. Seine in zehn Jahren entstandenen Berlin-Glossen („Welche Farbe hat Berlin?“) übersetzen den Riesenprozess der Berliner Gesellschaftsbildung in ein Mosaik aus Straßenbildern, die man später einmal im Archiv wird nachprüfen können. „Wo Rossmann war, ist nun Kochhaus. Wo der Kleiderladen Meldestelle heißt, war im ersten Stock das Einwohnermeldeamt. Es gab eine Stadtbücherei, ein kleines Stück in die Pappelallee hinein, der Kiosk unter der Hochbahn ist verschwunden.“ Nicht nur, wer sich einst selbst noch in der „Meldestelle“ im DDR-Mief zu registrieren hatte, ist dankbar für solche Kataloge des Verschwindens.
Aber Wagner weiß auch, dass genau hier der DDR-Halbstarken-Film „Berlin – Ecke Schönhauser“ von Wolfgang Kohlhaase spielte, und zwar im Jahr 1957! Und er wirft schon mal den Blick nach vorn in eine ferne Zukunft: Was wird aus all den „Hostels“, wenn es keine Billigflieger mehr gibt? „Was, wenn Berlin eines fernen Tages reich und unsexy sein und es total uncool sein wird, nach Berlin zu kommen? Wird man die Hostels den veränderten demographischen Verhältnissen anpassen und in Altersheime umwandeln können? Die Avantgarde der Pensionisten hat sich die besten Plätze bereits gesichert. Seit Jahr und Tag schon gibt es den Ruhesitz am Zoo, ein Altersheim vom Weinsbergweg und eines am Hackeschen Markt, den Höfen gleich gegenüber.“
Welche Farbe hat Berlin? Ganz viele Farben hat es, und Wagners Aufzählung wird zum poème en prose : „Hell-Elfenbein? Sanssouci-Gelb? Lindgrün? Blau? Ist der berlinblaue Himmel, wenn er denn mal zu sehen ist, nicht die größte gleißende Farbfläche über der Stadt? Oder ist die Himmeltönung doch eher wolkengrau, gedeckt verwaschen? Waschbetongrau? Plattenbaubunt?“
Zwanzig Jahre Geschichte überspannen solche Adjektive: Früher war Berlin braunkohlegrau und bröckelbraun und nun: „In seinen Wohnungen hat Berlin die Honigfarbe von abgezogenen Dielen unter stuckweißen Decken.“ GUSTAV SEIBT
Klaus Bittermann
Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol
Kreuzberger Szenen. Edition Thiamat. Berlin 2011, 191 Seiten, 14,00 Euro.
David Wagner
Welche Farbe hat Berlin?
Verbrecher Verlag, Berlin 2011.
215 Seiten, 14,00 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Auf der Suche nach der verlorenen Normalität: David Wagner erkundet in vierzig Miniaturen Berlin. Dabei hat er Georg Simmel im Sinn und antwortet Franz Hessel.
Nein, David Wagners Buch ist kein Liebesroman. Und doch erzählt dieser Band, der unter dem Titel "Welche Farbe hat Berlin?" vierzig Prosaminiaturen versammelt, eine Liebesgeschichte. Denn Wagner blickt auf Berlin, als vertiefe er sich in den Anblick einer Geliebten. Er versucht, hinter den steinernen Fassaden der Stadt deren Charakter zu ergründen. Er fordert ihre Nähe, um umgekehrt von ihr die Inspiration und das Material für seine Erzählungen zu erhalten. Dieses spezielle Liebesverhältnis zwischen dem vierzigjährigen Schriftsteller und seiner Stadt zeichnet dieses Berlin-Buch aus. Auf dieses Charakteristikum weist der Titel selbst hin. Denn die Frage "Welche Farbe hat Berlin?" zielt auf die Perspektive ab, aus der Berlin hier geschildert wird. Da der Leser die Stadt mit David Wagners Augen sieht, sind für ihn alle Bilder von dessen Sichtweise gefärbt. Das Berlin dieses Buches trägt tatsächlich nur eine Farbe. Geprägt von Wagners Stil, erscheint es "wagnerfarben".
Was diese Färbung auszeichnet, macht wunderbar beiläufig der Moment des Aufbruchs klar, mit dem das Buch einsetzt: "Ich will bloß den Müll hinuntertragen in den Hof, unten aber, ich habe die zugeknotete Abfalltüte noch in der Hand, gefällt mir die Nacht so gut, es riecht nach Frühling, dass ich hinaus auf die Straße gehe. Ich gehe um zwei Ecken und stehe schon vor dem Café Haliflor - entscheide mich aber, die Luft ist so süß, weiterzugehen." Wagner dreht eine Runde durch seinen Kiez, kehrt auf ein Bier ins Haliflor ein und geht nach Hause zurück. Mehr passiert nicht. Oder besser gesagt: Alles, was passiert, liegt im Detail. Wie sorgsam man in Wagners Berlin mit Kleinigkeiten umzugehen hat, spielt die Aufbruchserzählung anhand des Müllbeutels durch. Anstatt ihn rasch wegzuwerfen, trägt der Erzähler ihn bis zuletzt bei sich, nur um ihn dem Container im Hof zu übergeben. Wer so unprätentiös durch Berlin spaziert, wer selbst dem Abfall Aufmerksamkeit schenkt, betrachtet Berlins Inszenierung aus kritischer Distanz. Der teilt auch das Faible für Geschwindigkeit und Innovation nur bedingt. Beobachten ja, aber bitte keine Teilhabe oder gar Begeisterung. Was Wagner an Berlin fasziniert, sind die stillen Seiten, die Mythen des Alltags, denen er in seinen Streifzügen vom Prenzlauer Berg über Mitte und Kreuzberg bis Neukölln nachspürt. Seine Texte machen sich auf die Suche nach der verlorenen Normalität.
Aus dieser Stilistik der Annäherung erwächst neue Farbigkeit. Ihr Nuancenreichtum zeigt sich Wagner, wenn er in den Himmel über Berlin blickt. Dort offenbart sich ein Farbenspiel aus "Hell-Elfenbein? Sanssouci-Gelb? Lindgrün? Blau? Ist der berlinblaue Himmel, wenn er denn mal zu sehen ist, nicht die größte gleißende Farbfläche über der Stadt? Oder ist die Himmeltönung nicht doch eher wolkengrau, gedeckt-verwaschen? Waschbetongrau? Plattenbaubunt?" Wagners feines Sensorium für Berlins stille Vielfalt schließt jede Festlegung auf eine Farbe aus. Sie fächert die Frage nach der einen Farbe in eine Palette weiterer Fragen auf. Diesem Berlin gelten Wagners Liebe und Sprachkunst. Einige Erzählungen machen ihren Leser zum Flaneur, der "mit diesem Büchlein in der Hand auch sehr bequem auf dem Sofa liegend durch Berlin spazieren gehen kann". Andere rücken den Leser in die Position des Betrachters, an dem einzelne Szenen wie im Film vorbeiziehen.
So lässt sich dieses Buch zum einen einfach als alternativer Berlin-Führer lesen, der an Orte führt, die jenseits der touristischen Wege liegen. Zugleich fordern die Erzählungen eine kulturtheoretische Lesart heraus. Diese Betrachtungen der Großstadt loten das Verhältnis zwischen der expandierten Kultur der Dinge und dem einzelnen Menschen aus. Diese Beziehung zu gestalten, erkannte bereits der Soziologe Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als die entscheidende Herausforderung der Moderne. Zumal sich erst in dieser Relation der Lebensstil einer bestimmten Zeit zeige, der dem Leben, so Simmel, seine "Färbung" verleihe. Simmels Vokabular und Denkmodell schwingen also bereits in Wagners titelgebender Farbenfrage mit.
Wie konsequent Wagner sich der Aufgabe, mit seinem Schreiben einem neuen Lebensstil nachzuspüren, stellt, zeigte schon sein Romanexperiment "Vier Äpfel" (2009), in dem er den Erzähler der bunten Warenwelt eines Supermarkts gegenüberstellt. Wagner nimmt den alltäglichen Gang durch den Supermarkt einerseits zum Anlass, unsere Konsumgesellschaft zu kritisieren, stellt ihn andererseits aber als Moment dar, der persönliche Erinnerungen an seine Zeit mit L. weckt. Aus dem Verhältnis zwischen massengefertigter Warenwelt und Subjekt entwickelte er eine melancholische Liebesgeschichte, wie sie gegenwärtiger kaum sein könnte. Wagners Berlin-Buch, in dem auch L. auftritt, setzt fort, was er in "Vier Äpfel" angelegt hat. Nur hat sich der Kosmos auf den Makrokosmos Berlin geweitet.
In der Weise, wie Wagner dort die Großstadt und ihr Geistesleben neu vermisst, beschleicht einen zunächst ein Biedermeierverdacht. Es scheint, als rede Wagner dem Rückzug ins Private das Wort. Aber man sollte seinen zurückgenommenen Ton nicht mit Harmlosigkeit verwechseln. Wie subtil seine Prosa ihre politische Brisanz entfaltet, zeigt exemplarisch seine Beschreibung der O2-Arena: "Die neue, größte Halle Berlins liegt wie ein riesiger gestrandeter Wal im Niemandsland zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße. Veranstaltungen mit bis zu 17 000 Zuschauern sollen hier bald alle paar Tage stattfinden. Die Eisbären werden hier spielen." Politisch ist diese Beschreibung, weil sie den Dialog sucht mit Franz Hessels berühmter Beschreibung des Sportpalasts aus seinem "Spazieren in Berlin" von 1929. Durch den Brückenschlag erst erscheint die Arena als Nachfolger des Sportpalasts. Nicht nur wegen des Sechstagerennens, das Hessel damals beschrieb, sondern auch wegen Goebbels "Sportpalastrede", in der er zum "Totalen Krieg" aufrief. Hessel konnte 1929 von dieser Rede nichts ahnen. Wenn Wagner beiläufig fragt, ob auch die O2-Arena einmal Schauplatz eines Parteitages werden könnte, dann zeigt der Autor, dass er sich der politischen Dimension sehr wohl bewusst ist. Wagners Neuvermessung Berlins ist liebevoll und scharfsichtig zugleich. Stets aber durchweht das schöne neue Berlin ein latentes Unbehagen.
CHRISTIAN METZ
David Wagner: "Welche Farbe hat Berlin?" Verbrecher Verlag, Berlin 2011. 224 S., br., 14,- [Euro].
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