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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Constanze Neumanns Roman "Wellenflug" über die eigene Familiengeschichte von 1850 bis 1950
"Zahlen sind wichtig." Diesen Satz hörte die zwölfjährige Constanze Neumann aus dem Mund ihres Großvaters, während sie in Judith Kerrs Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" las. Und dann: "Am 26. März 1943 haben sie meinen Vater, deinen Urgroßvater, abgeholt. Und fast auf den Tag genau dreißig Jahre später bist du zur Welt gekommen." Das Mädchen, das Judith Kerr einmal war und dessen Fluchtgeschichte aus NS-Deutschland im "Rosa Kaninchen" erzählt wird, kannte Neumanns Großvater persönlich; es war die Tochter seiner Cousine Julia Weismann, der zweiten Frau von Alfred Kerr. Wer aber war dieser Großvater, dessen eigentümlich schwankenden Gang Großmutter und Mutter damit erklärten, dass er seinen Gleichgewichtssinn verloren habe, als "sie ihn zusammengeschlagen haben, auf dem Heimweg aus dem Lager"?
Wenig blieb von ihm außer seinen bruchstückhaften Erinnerungen, ein paar Fotos und einer kopierten Familienchronik aus dem Jahr 1936. Fakten und Zahlen, gegen die drohende Auslöschung festgehalten. Die in Leipzig geborene Constanze Neumann, als Verlagsleiterin von Aufbau, der Anderen Bibliothek, Blumenbar, Edition Braus und Chr. Links kürzlich in die Geschäftsführung der Aufbau-Gruppe aufgestiegen, hat das Faible ihres Opas für Mathematik nicht geerbt, kann die Leerstellen aber anders füllen: "Die Zahlen sprachen nicht zu mir, ich brauchte Geschichten, auch dort, wo es keine mehr gab."
Im Zentrum ihres Romans, dessen Handlungszeit rund hundert Jahre deutscher Geschichte umfasst, stehen zwei starke Frauen. "Die Zukunft gehört dir. Vergiss das nie!", schärft der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus der schlesischen Enge in die Messestadt Leipzig gekommene Isidor Eisner seiner Lieblingstochter Anna, Neumanns Ururgroßmutter, ein. Isidor setzt auf Assimilation; das Jiddische, das man in Gleiwitz und Sohrau noch gesprochen hatte, stört da nur. Anna scheint seine Überzeugung, man könne alles erreichen, wenn man mit der neuen Zeit geht, idealtypisch zu verkörpern: Ihre Einheirat in die schwerreiche Berliner Tuchhändlerdynastie Reichenheim katapultiert sie in die obersten Kreise der Gesellschaft. Ein Aufstieg, den auch persönliche Schicksalsschläge nicht stoppen können.
Verlust und Überforderung lassen Anna kurzzeitig den Boden unter ihren Füßen verlieren: "Das schreiende Bündel mit dem Gesicht eines wütenden Zwerges, das man ihr in den Arm gelegt hatte, war ihr fremd." Solch eindringliche Sätze, ebenso wie elegant gesetzte Zeitsprünge und Rückblenden, zeigen das Selbstbewusstsein, mit dem die Autorin die wenigen überlieferten Fakten in atmende Literatur verwandelt. Anna, die in der noblen Tiergarten-Villa Kind um Kind zur Welt bringt und zum Christentum konvertiert, verhärtet zusehends. 1905, im Todesjahr ihres Mannes, das den ersten Teil des Romans beschließt, wird Anna den ältesten Sohn Heinrich wegen dessen notorischer Spielsucht und der Beziehung zu einer "bescholtenen Frauensperson" verstoßen; mit ihm wird sie nie wieder ein Wort wechseln.
Aus der Perspektive der Frau ihres Urgroßvaters Heinrich Reichenheim erzählt Neumann den zweiten Teil des Romans. Diese Marie, mit elf Geschwistern in Burg bei Magdeburg vaterlos aufgewachsen, verliebt sich als Wintergarten-Garderobiere in den windhundhaften Heinrich und wird bei einer Wohnzimmer-Trauung in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, binnen fünf Minuten zu Mary Reichenheim. Nach fast fünfzehn Jahren in Erie, Pennsylvania, kehrt das kinderlose Paar nach Deutschland zurück. Heinrich wird Kino-Geschäftsführer im sächsischen Pirna, und Marie hält auch zu ihm, als sie von der Existenz eines unehelichen Sohns erfährt. Sie holt diesen Heinz aus dem Kinderheim und nimmt ihn wie ein eigenes Kind auf - es ist der Großvater der Autorin Constanze Neumann. Warum Heinrich sich und die Seinen nicht vor dem aufkommenden Nationalsozialismus in Sicherheit bringt, wird nur angedeutet. Umso deutlicher dann: "1943, hundert Jahre nachdem Isidor Eisner Schlesien für immer verlassen hatte, wurde sein Enkel Heinrich Reichenheim nach Auschwitz deportiert."
Nicht alle Teile dieses groß angelegten Familienromans erreichen die Intensität der im Dresden des Zweiten Weltkriegs handelnden Passagen, die an Victor Klemperers Tagebücher erinnern, und nicht jede Szene gerät der Autorin so beklemmend wie Maries letzter vergeblicher Versuch, im Juni 1929 ihren Sohn Heinz seiner Großmutter Anna Reichenheim vorzustellen. Angesichts der schieren Zeitspanne, die bewältigt werden will, muss der Jahrhundert-Bilderbogen stellenweise Dekor bleiben. Da geht's in der Villa Reichenheim schon mal zu wie in einer gut ausgestatteten Netflix-Serie, während die rasant wachsende Metropole draußen vor der Tür, Überraschung, "unerbittlich" zu denen ist, "die keinen Platz in ihr hatten, kein Geld oder keine Arbeit". Zu Inflationszeiten geht man "mit Taschen voller Geld in die Geschäfte". Das hat dann doch etwas vom "Wellenflug", dem titelgebenden Kettenkarussell auf einem Rummelplatz in Pirna, mit dem Heinrich und Marie symbolhaft auf und ab rasen.
Dennoch ist Constanze Neumanns zweiter Roman lesenswert, weil er - jenseits aller simplen Lebbe-geht-weider-Rhetorik - plastisch und mitreißend zeigt, wie der Einzelne in den Lauf der Geschichte eingewoben ist. Dass Heinz, der Junge, der den Holocaust knapp überlebt hat, nach dem Krieg ausgerechnet mit jenen, deren Väter und Mütter seinen Vater umgebracht und die Familie verjagt hatten, ein neues Land aufbauen wollte, gehört zu den Paradoxien einer Familiensaga, deren Fortsetzung man sich von Constanze Neumann gern erzählen lassen möchte. NILS KAHLEFENDT
Constanze Neumann: "Wellenflug". Roman.
Ullstein Verlag,
Berlin 2021. 336 S., geb., 22,- Euro.
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