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Die Erde als Antipharmakon: Robert Stockhammer bricht eine Lanze für widerspenstige literarische Maulwurfskunst
Berühmt ist das Foto, das die Sonde Lunar Orbiter 1 im August 1966 zur Erde zurücksandte: Die Kamera blickte über die Mondoberfläche hinaus in den Weltraum und erfasste dabei den Ausschnitt eines Planeten, der erst auf den zweiten Blick als Erde erkenntlich wurde. Angesichts dieses Fotos meinte ein erschrockener Martin Heidegger im Gespräch mit dem Magazin "Der Spiegel", dies sei keine Erde mehr, auf der der Mensch heute lebe. Dieses Foto - und nicht das zwei Jahre später entstandene eines in sich ruhenden, blauen Planeten - prangt wie ein Abwehrzauber auf dem Cover eines Werks, in dem der Münchner Komparatist Robert Stockhammer sich an der "Kritik einer Ideologie der Globalisierung" versucht.
Die Monographie "Welt - Erde - Globus. Zur Philologie der Erdliteratur" ist Teil einer Textsammlung, die in Gestalt eines Schubers vertrieben wird, gleichsam als Sammlung intellektueller Flugschriften. Sie macht die Medien- und damit auch Literaturgeschichte der "Welt" für ebenjenen Weltverlust verantwortlich, der einsetzt, wenn die Eigenlogik des Materials zugunsten der mit ihm erzeugten Vorstellungen vernachlässigt wird. Solche Korrektur ist kein neues Anliegen für die Literaturwissenschaft, es ist vielmehr ihre Lebensversicherung. Doch scheint ihre Dringlichkeit gewachsen: Schon allein weil die überall anzutreffenden "Weltbilder", auf denen die Erde in der Art eines niemandem möglichen Blicks als Globus dargestellt wird, die Synonymisierung der Begriffe quasi erzwungen haben.
Unbestreitbar stärkt die Evidenz dieses Blicks, oft aufgehübscht durch die Kolorierung als "Blauer Planet", die Phantasmagorien einer erdumspannenden Kultur-, Wirtschafts- und Lebensform, der gegenüber sich das Lokale gefügig zu machen habe. Stockhammer gibt sich damit nicht zufrieden und erarbeitet eine Unterscheidung der Geister: Er beleuchtet den Weltbegriff in seinen zahlreichen Bedeutungen, ebenso die Verführung, die für die "Welt", die im Sprachgebrauch doch eine jeweilige ist ("Arbeitswelt", "Welt der Römer", "meine Welt"), darin liegt, sich einmal gefundene Veranschaulichungen unseres Handlungshorizonts wie "Erdkreis" und "Globus" einzuverleiben und so Allgemeinheit zu beanspruchen.
Gegen diese Selbstverständlichkeit der großen Rahmungen stellt Stockhammer die "Erde" als Inbegriff dessen, was Welt "aufstellt" und "durchragt". Das klingt ebenso poetisch wie kryptisch, meint aber wohl die materiellen Voraussetzungen, von Pixeln über Schriftzeichen bis hin zu den konkreten Räumen, in denen man kommuniziert, "Weltbilder" erzeugt. "Erde" meint auch die Kommunikation selbst, einschließlich Stocken und Schweigen. Sie umfasst Praktiken des Hier und Jetzt, die der Autor - Vergils Lehrgedicht über die sittigende Tätigkeit des Landbaus erinnernd - "georgische" nennt. In Texten Heideggers, aber auch bei Handke oder Beckett, findet er sie beschworen, bedacht oder gar befolgt.
Der Traktat betreibt Etymologie und Sprachphilosophie, umfasst außerdem strukturalistische Diagramme. Mehr als der Autor es wünschen kann, erzwingen sie Einverständnis. Im Schuber warten Studien zu einzelnen Autoren, Texten, Bildern, die jeweils Konstellationen von Welt - Erde - Globus verfolgen, ja es gibt sogar weitere Texte in der Cloud (dafür aber nichts zu "Himmel" oder "Wolken"). Manche widmen sich jüngeren Debatten. Für einen Komparatisten erwartbar, hagelt es Kritik am in den vergangenen Jahrzehnten aufgekommenen neuen "Weltliteratur"-Enthusiasmus, der oft nur sich selbst reproduziere. Zwar gebe man sich kritisch gegenüber kolonialen Gesten der Bemächtigung, weise bei der Zirkulation der Literatur auf Machtverhältnisse hin, feiere aber dennoch nur internationalisierbare Literatur. Allerdings möchte auch Stockhammer nicht zur Dorfliteratur des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Das wäre allein aufgrund tatsächlich erdumspannender Produktionsketten illusorisch, weshalb im Widerstand gegen die globale Verwertung heutige Erd-Literatur materialistischer (oder materialbewusster) werden müsste. Mehr noch als bisher soll sie Inhaltsfragen in Formfragen einfalten.
Stockhammers Vorschläge, wie nun die Philologie der vorschnellen Vereinigung der "Weltliteratur" entgegen- und der literarischen Maulwurfskunst zuarbeiten könnte, sind nicht sonderlich revolutionär: Aufgaben der Philologie seien Edition (nicht um passende Lesarten herzustellen, sondern selbstredend um Brüche zu markieren), Übersetzung (die paradoxerweise die "Zweifel an der Übersetzbarkeit" befördere) sowie Ideologiekritik als Kritik an unterstellter Unmittelbarkeit (und damit besonders an der Vorherrschaft des Bildes). Wer hebt die Hand, wer ist dagegen?
So triftig die Kultur- und Medienkritik anmutet, so sympathisch die performative Umsetzung des Anliegens in den Flugschriften erscheint, so sehr scheinen die Schlagwörter vergangenen Debatten entlehnt. Die Brüder Jünger kommen einem in den Sinn: Zwar ging es Ernst und Friedrich Georg nicht explizit um "Erdliteratur", als sie 1959 eine Zeitschrift dem antiken Halbgott Antaios widmeten, der seine enorme Kraft aus der Erde bezog, solange er auf ihr mit beiden Füßen stand. Aber auch sie richteten sich gegen die "planetarische Abstraktion", die "Ent-Fernung der Ferne", wie Heidegger geschrieben hatte, und zwar zu genau der Zeit, als Erdbewohner sich unter der Drohung der Atombombe als Bewohner eines Planeten entdeckten. Der Begriff der "Erde" wurde im "Antaios" ähnlich unschuldig wie bei Stockhammer vorgebracht, als lägen "Blut und Boden" nicht erst wenige Jahre zurück. Dass auch die gute Erde ihre böse Geschichte hat, hätte dem Autor ruhig ein paar Seiten wert sein können.
Trotzdem führt eine Spur der "Erdphilologie" in die Gegenwart. Das eingangs erwähnte technische Bild unserer Erde wurde als solches lesbar, indem man die Bewegung der Sonde Orbiter 1, die Bewegung ihrer Kamera, detailliert nachvollzog. Das Bild des "Blauen Planeten" hingegen koppelte Technik mit menschlichen Sehnsüchten und Erwartungen. So erschien es unmittelbar evident und produzierte zahlreiche Nachfolger. Künstliche Intelligenz wird ebensolche Koppelungen erzeugen, um uns weitere selbstverständliche Rahmungen unseres Erlebens und Handelns vorzuschlagen. Deshalb kann die Aufgabe nicht einfach lauten, Technik immer besser zu verstehen. Vielmehr gilt es, unsere Wünsche an ihrer Schnittstelle mit der Technik zu identifizieren, um uns ihnen nicht haltlos auszuliefern. Eine solche Kultur- und Medienkritik des scheinbar Unabweisbaren aber braucht den "Denkraum" des Wortes, dessen Umständlich-, ja Erdhaftigkeit. ULRICH VAN LOYEN
Robert Stockhammer: "Welt - Erde - Globus". Zur Philologie der Erdliteratur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
224 S., Abb., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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