Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft ein grelles Licht auf eine geopolitische Landschaft, die schon länger im Umbruch ist. Der Krieg zeichnet Konturen schärfer, beschleunigt Entwicklungen, zwingt zu radikalem Wandel. Nach seinem Bestseller »Zeitenwende« identifiziert Rüdiger von Fritsch in seinem neuen Buch die Entwicklungslinien der Zukunft – und gibt Antworten auf drängende Fragen: Was kommt nach dem Krieg? Wie wird sich der Konflikt zwischen den USA und China entwickeln? Hat die Globalisierung, so wie wir sie kannten, ein Ende gefunden? Und wie können wir uns als Deutsche und Europäer in dieser Welt im Umbruch behaupten?
»Wer sich über die Hintergründe des russischen Angriffs auf die Ukraine informieren und auch die historischen Zusammenhänge verstehen will, muss dieses Buch lesen.« DIE ZEIT über »Zeitenwende«
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Weltordnung
Der Osteuropa-Historiker Serhii Plokhy
und der Ex-Diplomat Rüdiger von Fritsch
analysieren die Lage im Ukraine-Krieg brillant –
und versuchen sich an einem Blick in die Zukunft
VON VIOLA SCHENZ
Zu den Nebeneffekten der russischen Invasion in die Ukraine gehören die zahlreichen Fachbücher, die seitdem erscheinen. Es gibt erstaunlich viele Kenner des Landes, die so prima erklären wie formulieren. Man fragt sich, wo sie all die Zeit ihr Wissen entluden, als sich noch kaum jemand im Westen für dieses oft geschundene Land interessierte, also vor Putins Annexionen und Angriffen. Serhii Plokhy und Rüdiger von Fritsch sind hervorragende Russland-, Putin- und Ukraine-Experten. Eineinviertel Jahre nach dem Überfall, da vieles auf einen Abnutzungskrieg hindeutet, geht es in den Publikationen vor allem um historische Hintergründe und mögliche Folgen – für die Ukraine und für den Rest der Welt.
Plokhy, 65, Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des dortigen Ukrainian Research Institute, erinnert in „Der Angriff“ gleich mal daran, dass dieser Krieg keineswegs vor „eineinviertel Jahren“, am 24. Februar 2022, begann, sondern am 27. Februar 2014, als russische Truppen das Parlamentsgebäude der Krim besetzten und kurz darauf im Donbass einmarschierten. Ein lethargischer Westen, der schon schwieg und wegsah, als Putin Tschetschenien und Georgien überfiel oder Teile Syriens bombardierte, hat diesen Krieg genauso mitzuverantworten wie all die Generationen deutscher Russland-Versteher. Der Historiker legt seinen Finger auch in diese Wunden.
Plokhy spannt einen weiten Bogen, historisch und geopolitisch, verweist auf den Mythos von den Kiewer Ursprüngen Russlands, der sich seit dem 15. Jahrhundert im Bewusstsein russischer Eliten festgesetzt hatte – als Basis für Moskaus Eroberungspolitik und später für Putins Fixierung auf „von ethnischen Russen besiedelten Gebieten“. „Mit der Annexion der Krim wurden Imperialismus und Nationalismus zu zentralen Elementen und Triebkräften der russischen Außenpolitik“, schreibt Plokhy. Man habe es mit einem altmodischen, imperialen Krieg zu tun, „geführt von russischen Eliten, die sich für Erben und Bewahrer der expansionistischen Großmacht-Traditionen des Russischen Reichs und der Sowjetunion halten“.
Begünstigt wurde der wiedererweckte Chauvinismus von einem tiefen Wunsch der russischen Massen und Eliten nach einem starken Staat, auch aus Verbitterung „über den verlorenen Supermachtstatus infolge der faktischen Niederlage im Kalten Krieg“. Putin nutze diese Stimmung für seine Dämonisierung des Westens, wenn er wiederholt spreche von „Russland als einer einzigartigen multiethnischen Zivilisation, die sich nicht nur vom Westen unterscheide, sondern ihm in Geschichte, Kultur und Werten geradezu entgegenstehe“.
Plokhy hält sich gar nicht erst mit der oft gestellten Frage auf, ob Putin von einer Art Wahnsinn getrieben ist; er schildert das Vorgehen eines kalkuliert-kaltblütigen Machtpolitikers genauso kenntnisreich und detailliert wie die historischen Entwicklungen. Die Ereignisse vor und seit dem 24. Februar 2022 lesen sich bisweilen wie ein Krimi. Seine Mehrsprachigkeit kommt ihm zugute, Plokhy kann sich auf europäische und amerikanische Quellen, Beobachter, Journalisten stützen genauso wie auf ukrainische, russische oder allgemein osteuropäische. Dennoch: Interessierten Lesern mag vieles inzwischen aus begleitenden Buch- und Zeitungslektüren bekannt und bewusst sein. Sein Werk, das fast gleichzeitig auf Englisch erscheint, zielt auch auf ein breites, internationales Publikum, das diesen Krieg im fernen Osteuropa bisher vielleicht eher am Rand verfolgt.
Plokhys Skizzierungen wahrscheinlicher Nachkriegsordnungen lesen sich zugleich erschreckend und ernüchternd, sie stimmen pessimistisch und optimistisch. Mit ihrem Zusammenhalt und ihrer Widerstandsfähigkeit – „wie es nur wenigen Staaten in der Nachbarschaft der Ukraine während der Kriege des 20. Jahrhunderts gelungen war“ – hätten die Ukrainer die Welt erstaunt. Einiges spreche dafür, dass „die ukrainische Nation vereinter und mit stärkerer Identität als zu jedem anderen Zeitpunkt ihrer modernen Geschichte aus diesem Krieg hervorgehen wird“. Unter enorm hohen Kosten und mit einem gewaltigen Blutzoll ihrer Bürger stelle die Ukraine Moskaus Anspruch auf die Vormacht im restlichen postsowjetischen Raum infrage, schreibt Plokhy. Wie wahr.
Für ihn ist klar, dass eine neue internationale Ordnung bevorsteht. Die Welt kehre in einem seit dem Fall der Berliner Mauer nicht mehr erlebten Ausmaß „in die Ära der Großmachtrivalitäten“ zurück. Die Reaktion der USA auf den Krieg zeige, dass sie ihren Status als dominante Weltmacht aufrechterhalten wolle und imstande sei, alte Bündnisse wiederzubeleben und neue zu schließen. Die Entscheidungen Finnlands und Schwedens, sich um die Nato-Mitgliedschaft zu bewerben, stärkten den amerikanischen Einfluss in Europa.
Größter Nutznießer des Kriegs und der neuen Feindschaft zwischen Russland und dem Westen indes sei: China, der lachende Dritte. Da Russland kaum mehr Öl und Gas nach Europa verkaufen könne, müsse es seine Bodenschätze an seinen östlichen Nachbarn verhökern. „China wird in seiner Rivalität mit den Vereinigten Staaten zwar keinen wirtschaftlich starken russischen Verbündeten haben, dafür aber jede Menge billiges Öl und Gas als Treibstoff für diesen Konkurrenzkampf bekommen“, so Plokhys düstere Prognose.
Rüdiger von Fritsch, 69, war von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Russland, und davor in Polen. In „Zeitenwende“ (2022) analysierte er „das System Putin“, den Weg in diesen furchtbaren Krieg und die beschämende Rolle des Westens. „Welt im Umbruch“ ist eine Art Fortsetzung, wieder seziert Fritsch klug und klar die Lage, diesmal der gesamten Welt, und liefert luzide „Was bisher geschah“ und „Wie es weitergeht“. Abermals erweist sich der Ex-Diplomat als verlässliche, vernünftige Autorität in Sachen Russland/Putin/Ukraine und komplexer Sachverhalte.
Fritsch spricht gar von einer Polykrise, von einer historisch noch nicht da gewesenen „Ballung gegenläufiger Interessen und Entwicklungen“. Europa verliere an Einfluss und werde „ein Akteur unter vielen“. Die Demokratie stehe unter massivem Druck, Autokratien erscheinen auf dem Vormarsch. Russland drohe sich mit einem „archaischen Eroberungskrieg“ ins Verderben zu führen, die USA rängen um ihren künftigen Weg und um ihre Vormachtstellung. Die beiden verbliebenen Großmächte, China und Amerika, würden künftig um die Weltordnung kämpfen.
Vor allem überzeugt er im ersten Drittel, wo er Wissen und Wertung am besten einbringen kann. Je globaler es wird, desto mehr verliert sich das Buch in Wiederholungen und Bestätigungen von oft Gesagtem und Beschriebenem. Der Versuch, die Welt mit sämtlichen Problemen und historischen Herleitungen auf gerade mal 200 Seiten zu erklären, verfängt sich in Nebenschauplätzen (Monroe-Doktrin, Angriff auf Pearl Harbor, Indiens wirtschaftliche Entwicklung). Er driftet ab in Binsen („Kriegerische Auseinandersetzungen sind eine wesentliche Ursache von Hunger und Flucht. Oft genügen andere Gründe, dass Menschen ihre Habseligkeiten packen und sich auf den Weg machen in ferne Gegenden, wo sie sich eine bessere Zukunft erhoffen“) oder in müde Mahnungen („Die gegenwärtige Weltlage ist davon bestimmt, dass einige Staaten hegemoniale Bestrebungen verfolgen, die unseren Interessen zuwiderlaufen, und ihre Ziele auf Kosten anderer – auch auf unsere Kosten – durchzusetzen versuchen“).
Die abschließende Antwort auf die Kernfrage („Was kommt nach dem Krieg?“) mündet ausgerechnet in den totzitierten Satz aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Derlei Abgedroschenheit haben weder das brisante Thema verdient noch der gescheite Autor noch die erwartungsvollen Leser.
Der Beginn einer
„Ära der Großmachtrivalitäten“
verheißt wenig Gutes
Europa verliere an Einfluss
und werde „ein Akteur
unter vielen“
Serhii Plokhy:
Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 496 Seiten, 26 Euro.
E-Book: 20,99 Euro.
Rüdiger von Fritsch:
Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg?
Aufbau-Verlag, Berlin 2023. 207 Seiten, 18 Euro. E-Book: 13,99 Euro.
(im Handel von Mittwoch, 17. Mai, an)
Symbol der Sinnlosigkeit des Angriffs: Rauch steigt Ende April von einem Gebäude im seit Monaten umkämpften Bachmut in der Region Donezk auf.
Foto: Libkos/dpa
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