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Edgar Wolfrum entwirft eine „andere“ Gesamtdarstellung der vergangenen Epoche. Doch er übertreibt es mit der Dialektik und vernachlässigt die Detailschärfe
Historische Darstellungen mit Gesamtheitsanspruch sind für Historiker so etwas wie die Besteigung eines Achttausenders. Im Jahr 1958 veröffentlichte Golo Mann eine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, die als große literarische Erzählung der Wurzeln deutscher Gegenwart bis heute ein Standardwerk ist. An Versuchen, das 20. Jahrhundert mit all seinen Umwälzungen zu kartografieren, herrschte seitdem kein Mangel.
War es ein kurzes Jahrhundert der Gewalt, das vom Ersten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer reichte? Endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gar das Antriebsmoment der Geschichte, weil sich die Prinzipien des Liberalismus weltumspannend durchsetzten? Man muss gar nicht erst Trump bemühen: Schon das geopolitische Streben Russlands und die Entstehung islamistischen Terrors weisen darauf hin, dass der berühmte Aufsatz vom „Ende der Geschichte“, den Francis Fukuyama 1992 veröffentlichte, wohl nicht mehr als ein Relikt des späten 20. Jahrhunderts gewesen sein kann.
Insofern ist man neugierig, wenn Edgar Wolfrum nun eine dezidiert „andere Geschichte des 20. Jahrhunderts“ vorlegt. Der Heidelberger Professor für Zeitgeschichte hat für sein 440-seitiges Buch das Narrativ von der „Welt im Zwiespalt“ gewählt. Soziologen sahen sich ab den späten 1980er-Jahren in der Pflicht, die Ambivalenzen einer zunehmend unübersichtlichen Welt aufzuschlüsseln. Zygmunt Bauman prägte den Begriff der „flüchtigen Moderne“, die gleichsam Freiheit und Machtlosigkeit erzeugt. Ulrich Beck schrieb einen Bestseller über die gesellschaftliche Produktion von Risiken durch die Wachstumslogik der Globalisierung.
Diesen ideengeschichtlichen Geist atmet auch das Buch Wolfrums. Seinem fast schon enzyklopädischen Zeitpanorama hat der Autor einen stilbildenden Satz von Stefan Zweig vorangestellt: „Aber jeder Schatten ist im Letzten doch auch ein Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.“ Wolfrum arbeitet mit zeitgeschichtlichen Aphorismen, er zitiert Fidel Castro, Willy Brandt, die Schlagersängerin Caterina Valente, Neil Armstrong. Sie sind, ein jedes Kapitel über die mitunter verhängnisvollen Interdependenzen von Krieg und Frieden, von Vertreibung und Mobilität, von Naturbeherrschung und Umweltkatastrophen einleitend, aber nicht viel mehr als wächserne Stichwortgeber für eine makroskopische Analyse.
Wolfrum wählt an einer Stelle selbst das Bild des Fluges über „das mörderische Jahrhundert“. Man möchte ergänzen: Er überfliegt das Zeitalter wie ein Eurofighter auf Aufklärungsmission. Er donnert auf wenigen Seiten über die wichtigsten Stationen der beiden Weltkriege und benennt dabei die vorherrschenden Zentrifugalkräfte mit dem argumentativen Schwung eines Leitartiklers, der Geschichte mitunter grob zusammenzufassen muss.
Was „Welt im Zwiespalt“ besonders machen soll: Der Krieg ist nach dem Kapitel über den „Vater aller Dinge“ (Heraklit) nicht einfach abgehandelt. Er kehrt als Einflussgröße auf weltweite Flüchtlingsbewegungen, den deutschen Babyboom der 1960er-Jahre oder die Institutionalisierung der Menschenrechte immer wieder in den Analyserahmen zurück. Dass der Autor beim Entflechten politischer, kultureller und wirtschaftlicher Umspannprozesse nie den Überblick verliert, dass er trotz einer eurozentrischen Sicht etwa auch Kultur- und Technikgeschichte und Geschlechterpolitik systematisch berücksichtigt, das ist eine Leistung.
Was das Buch allerdings nicht leisten will, ist Geschichte mit Detail- statt mit Begriffsschärfe zu erzählen, sie anhand ihres mitunter verhängnisvoll handelnden Personals und ihrer zäsurhaften Ereignisse zum Sprechen zu bringen. Das sollte Leser mit Spezialwissen abschrecken, zumal Wolfrum auch nicht wirklich „andere“ Sichtweisen auf das Jahrhundert freilegt, sondern nurmehr das Ende des amerikanischen Zeitalters auf den 11. September 2001 datiert und den Klimawandel als größte Aufgabe für die internationale Gemeinschaft benennt.
Zwischen den Zeilen übertreibt es Wolfrum mit der Dialektik. Den Bruch zwischen der Epoche der Kriege und Katastrophen und dem nachfolgenden Siegeszug des modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat schildert er zwar schlüssig. Wenn er aber so tut, als würde er im Gegensatz zu vielen Historikern auch den Blick auf die zivilisatorischen Errungenschaften des Jahrhunderts richten, dann hat er wohl nur Bücher der Kollegen gelesen, die vor 1989 entstanden sind. Es ist ja auch nicht falsch, das 20. Jahrhundert gleichzeitig zum grausamsten und zum fortschrittlichsten Jahrhundert zu erklären. Nur ist es auch etwas bequem, denn man hat immer recht.
CHRISTOPH DORNER
Edgar Wolfrum:
Welt im Zwiespalt.
Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2017. 447 Seiten, 25 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
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Auf die Auswahl kommt es an: Edgar Wolfrum bilanziert auf knappem Raum das zwanzigste Jahrhundert
Im Jahr 1941 komponierte der emigrierte Musiker Hanns Eisler "Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben". Es gibt mehr als vierzehn Arten, das zwanzigste Jahrhundert zu beschreiben, doch eine viel geringere Zahl ist bisher realisiert worden. Sucht man auf dem Buchmarkt nach einbändigen Werken aus der Hand eines Einzelautors, die beide Hälften des Jahrhunderts umfassen, ist die Ausbeute erstaunlich mager. Das überragende Werk bleibt Eric J. Hobsbawms "Das Zeitalter der Extreme", dem die Prominenz seines Autors bleibenden Ruhm sichert.
Unverdient in Hobsbawms Schatten steht das leider niemals übersetzte Buch "Twentieth Century: The History of the World 1901 to 2000" des 2003 verstorbenen Oxforder Historikers John M. Roberts, eine durch und durch seriöse, dabei elegant erzählte Geschichte der internationalen Beziehungen und der politischen Verhältnisse in (nahezu) allen Teilen der Welt. Vergleichbare Werke stammen von dem Russland-Historiker Daniel R. Brower ("The World in the Twentieth Century") und dem früheren britischen Ministerialbeamten Clive Ponting, der sein Buch "Progress and Barbarism: The World in the Twentieth Century" nicht chronologisch erzählend, sondern systematisch angelegt hat und auch Sozial- und Umweltgeschichte einschließt.
2009 veröffentlichte Hans-Heinrich Nolte, Hannoveraner Emeritus der Osteuropäischen Geschichte und Pionier der Weltgeschichtsschreibung in Deutschland, eine "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts". Nolte hatte verstanden, dass es ohne ein wenig Theorie unmöglich ist, die zahllosen Einzelthemen zu ordnen und das uferlose Material zu bändigen. Und er wollte nicht nur erzählen und beschreiben, sondern suchte nach Erklärungen für einige der zentralen Fragen des Jahrhunderts, etwa die nach den Gründen für den Niedergang Europas. Es kann kaum überraschen, dass nicht jeder Kritiker von allen Erklärungsversuchen überzeugt war.
Die großen Fragen historischer Interpretation entziehen sich von einem gewissen Punkt an einer eindeutigen Entscheidung auf der Grundlage von Quellen und Fakten. Diese prinzipiell unabschließbaren Debatten müssen in der Hoffnung auf approximativ plausibler werdende Antworten immer wieder neu geführt werden.
Mit den Werken Hans-Heinrich Noltes und der genannten britischen und amerikanischen Autoren ist die Messlatte für eine Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgelegt. Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum betritt mit seinem neuen Buch, das eine "andere" Geschichte dieses Jahrhunderts vorschlagen möchte, also nicht das sprichwörtliche Neuland. Die "andere" Geschichte will bestehenden Entwürfen eine Alternative entgegensetzen, sie erhebt gewissermaßen "revisionistische" Ansprüche. Dabei muss sie sich den existierenden Maßstäben stellen - die Herausforderung der Sprunghöhe. Wie wird sie also gemeistert?
Zunächst: Dies ist ein relativ kurzes Buch. Daran ist nichts auszusetzen. Zwischen dem Umfang eines behandelten Gegenstandes und dem Umfang seiner Behandlung besteht kein zwingendes Verhältnis. Geschickte Autoren haben auf knappem Raum Geschichten mehrerer Jahrtausende skizziert, während umgekehrt manchmal ein punktuelles Ereignis oder ein einzelnes Leben in stattlichen Wälzern dargestellt werden (und Leser dem gerne folgen). Edgar Wolfrum beherrscht die Kunst der Komprimierung und der treffenden Pointe. Er treibt die Lektüre in flottem Tempo voran und lässt keine Langeweile aufkommen. Man erfährt eine Menge, wird an Bekanntes erinnert und über Unbekanntes belehrt.
Das Standardereignis mit einer scheinbaren Nebensächlichkeit zu koppeln ist ein erfolgreich verwendetes Stilmittel. Wer erwartet, dass in einem solchen Buch Neil Armstrong, der erste Mann auf dem Mond, vorkommt, ist angenehm überrascht, wenn daneben ausführlich an Walentina Tereschkowa erinnert wird, die erste Frau im All. Wolfrum hat eine gut begründbare Detailtiefe gewählt. Wer zu einzelnen Themen mehr wissen will, kann sich die gewünschten Informationen leicht auf anderem Wege beschaffen.
Anders gesagt: Dies ist kein Handbuch und kein Nachschlagewerk. Niemals blitzt auch nur der Anspruch auf, vollständig zu sein. Das entlastet den Autor von Pedanterie und den Rezensenten von der Pflicht, nach Lücken zu fahnden. Dass, relativ gesehen, wenig von Lateinamerika oder Zentralasien und fast nichts von Australien gesagt wird, kann deshalb nicht als Vorwurf dienen. Ebenso ist es nahezu belanglos, Namen, die man erwartet hätte, im Register zu vermissen. Die offene Form, für die sich Edgar Wolfrum entschieden hat, lässt solche Freiheiten und ermöglicht das gelungene literarische Experiment.
Erzählt wird in diesem Buch nicht. Sechzehn Kapitel zerfallen jeweils in Landschaften knapper Vignetten, Episoden oder Kompaktanalysen. Dabei fehlt fast nichts von dem, was eine Gesamtschau des Jahrhunderts abdecken sollte: von der Blockfreienbewegung bis zu Mao Tse-tungs mörderischem "Großen Sprung", von Aids bis zur Alphabetisierung, vom Mikrochip bis zur "Krise des Mannes". Weltweite Trends werden mit sicherem Zugriff identifiziert und auf das Ausmaß ihrer Durchsetzung in unterschiedlichen Teilen der Welt befragt. Plötzliche und weite Zeitsprünge quer durch den Gesamtzeitraum lassen einen Sinn für Kontinuität und längerfristige Prozesse gar nicht erst entstehen. Das Ergebnis ist weniger eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Bilanz.
Eine solche Darstellungsform ist ungewöhnlich, daher willkommen und eben: "anders". Darum scheint es Edgar Wolfrum aber gar nicht primär zu gehen. Für "anders" und originell hält er vor allem seine Wertung: Das Bild des zwanzigsten Jahrhunderts soll aufgehellt, die Bilanz ausbalanciert werden; das maßlos Böse stehe neben der Tatsache, dass die Menschheit "nie so Gottähnliches geleistet" habe. Ähnlich las man es schon bei Eric Hobsbawm, dessen "Extreme" von Wolfrums "Zwiespalt" gar nicht so weit entfernt sind, auch bei Clive Ponting, der "Fortschritt und Barbarei" plakativ im Titel stehen hat. Insgesamt ein matter philosophischer Grundbefund für ein Buch, das sich auch bei vielen der einzelnen Schlaglichter analytisch weniger vorgenommen hat als zum Beispiel Hans-Heinrich Nolte.
Am Schluss, wenn die Leser - zumal die Politikerinnen und Politiker unter ihnen - nach Weisheit und Stärkung aus dem Erfahrungsschatz der jüngeren Vergangenheit lechzen, stellt der ehrliche Historiker rat- und antwortlos nur jene Fragen, die den Wacheren unter uns auch schon gekommen sind: "Warum steigt die Ungleichheit in vielen Gesellschaften und im globalen Maßstab?", "Ist die Autonomie des Menschen bedroht?" und so fort. Edgar Wolfrum springt nicht über die Latte, er spaziert unter ihr hindurch.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Edgar Wolfrum:
"Welt im Zwiespalt".
Eine andere Geschichte
des 20. Jahrhunderts.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2017.
447 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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