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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von der Antike bis zur modernen Bekleidungsindustrie: Ein Band nimmt Geschichte und Formen der Sklaverei in den Blick
Die Geschichte der Sklaverei erfreut sich in jüngerer Zeit einer besonderen Aufmerksamkeit. Das zeigt auch die nun vorliegende Übersetzung eines vor zwei Jahren in Frankreich erschienenen stattlichen Sammelbands zum Thema. Er setzt sich von der derzeitigen Welle an Publikationen zur Geschichte der Sklaverei, die den Begriff "global" im Titel tragen, inhaltlich, theoretisch und konzeptionell ab. Die gleichrangige Einbeziehung Asiens und des subsaharischen Afrikas stellt dabei Kriterien global ansetzender Definitionen von Sklaverei methodisch und inhaltlich in Frage. Die entschiedene Hinwendung zu versklavten Männern, Frauen und Kindern - die quellenbedingt unterschiedlich intensiv ausfallen muss - ermöglicht einen Perspektivwechsel auch mit Blick auf die Begründung, warum Historiker sich mit der Geschichte von Sklaverei und gewaltbasierter Abhängigkeit befassen sollen.
In einer konzisen Einführung begründet der Herausgeber Paulin Ismard die Notwendigkeit des Bands aus einer veränderten politischen Situation, nämlich einer Gegenwart, die sich der Tatsache bewusst geworden sei, in die Geschichte der Sklaverei verstrickt (gewesen) zu sein. Daraus leite sich das Erfordernis einer veränderten Darstellung ab, welche diese Vergangenheit in die Geschichtserzählung integriert.
Dafür liefert das Buch in seinem ersten von drei großen Kapiteln, mit "Situationen" überschrieben, zahlreiche Bausteine. Ohne chronologische oder regionale Reihung nebeneinander gestellt, erfährt der Leser aus diesen fünfzig Miniaturen von etwa zehn Seiten unter anderem was es bedeutete, in einem obermesopotamischen Haus im achtzehnten Jahrhundert v. Chr. versklavt zu sein; der zeitliche Bogen spannt sich bis in die globalisierte Bekleidungsindustrie in Indien im 21. Jahrhundert und setzt neben wohlbekannte Bereiche, wie die transatlantische Plantagensklaverei, weniger bekannte Typen und Praktiken von Sklaverei, etwa die Gefangenschaft bei den Steppennomaden im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert.
Was als scheinbar zufällige Aneinanderreihung daherkommt, verweist auf eine zentrale Einsicht, nämlich die mittlerweile unbestrittene Tatsache, dass Sklaverei kein trennscharfer analytischer Begriff mehr ist. Die mehr als siebzig Beiträger des Bandes setzen sich deshalb nicht mit der Frage auseinander, inwiefern ihr jeweiliges Beispiel schon oder noch Sklaverei gemäß bestimmten Definitionen ist. Vielmehr gilt das Interesse den sozialen, institutionellen sowie rechtlichen Dynamiken von Abhängigkeitsverhältnissen, die zumindest temporär die gewaltbasierte Verfügung über den Körper und die Arbeitskraft anderer beinhaltet. Sklaverei wird dementsprechend nicht als das Extrem in einem Kontinuum von Abhängigkeitsverhältnissen aufgefasst, wie es für weite Teile der Forschung konstitutiv ist. Beispielhaft zeigt das der Beitrag von Alice Rio zu Abhängigkeitspraktiken zwischen Sklaverei und Leibeigenschaft im neunten Jahrhundert.
Der zweite Teil des Bandes widmet sich vergleichenden Perspektiven zu rechtlichen Themen wie Eigentum und Freilassung, zu historisch-anthropologischen Facetten wie Körper, Kultur, Verwandtschaft und zu wirtschaftlichen Themen wie Markt, Arbeit, Mobilität. Abschließend wird die Frage nach den Stimmen versklavter Menschen in den Archiven und darüber hinaus, etwa in der kulturellen Überlieferung, diskutiert. Das häufig vorgebrachte Argument von der "archival silence" in wird diesem Zusammenhang ernstgenommen, aber auch entkräftet, indem verschiedene Möglichkeiten vorgestellt werden, Stimmen versklavter Menschen hörbar in Verwaltungsschriften und Ego-Dokumenten erkennbar werden zu lassen. Die naheliegende Frage nach Authentizität und Vermitteltheit dieser Quellen wird anhand der "slave narratives" aus Nordamerika, die meist von (weißen) Abolitionistinnen und Abolitionisten in Auftrag gegeben und publiziert wurden, behandelt. Getragen werden die vergleichenden Unterkapitel von fünf Autoren - neben dem Herausgeber Benedetta Rossi, Cécile Vidal, Claude Chevaleyre und M'hamed Oualdi -, was für die Kohärenz von großem Vorteil ist.
Im dritten, "Transformationen" betitelten großen Kapitel werden schließlich achtzehn historische Übergänge in den Blick genommen, die Aspekte wie die Ausbreitung des Islam, die "Metamorphosen der Knechtschaft" im westeuropäischen Frühmittelalter oder das Völkerrecht ab dem sechzehnten Jahrhundert umfassen. Mikro- und Makroebene werden dabei prägnant aufeinander bezogen. Unter den vielen etablierten und kenntnisreichen Autoren, die ein breites Forschungsspektrum abbilden, sticht Orlando Patterson hervor. Der Grandseigneur der modernen Sklavereigeschichte knüpft dabei an seine Arbeiten zum sozialen Tod an.
Für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft ist die nun erschienene Übersetzung ein Glücksfall. In einer Vorbemerkung betont das Kollektiv der Übersetzer, wie es sich selber nennt, sein Ringen um eine ihm angemessen scheinende Wortwahl. Die Umsetzung ist - gemessen an den teilweise hitzig geführten Debatten in Sachen Gender und Rassismus - durchweg gelungen. Das Titelbild könnte Anlass zu Kritik bieten, setzt es doch auf den ersten Blick Sklaverei mit "Schwarzsein" gleich. Tatsächlich ist die um 1869 entstandene, nachträglich kolorierte Fotografie einer Porträtserie des aus Berlin stammenden Fotografen Albert Henschel entnommen, der sein berufliches Leben in Brasilien verbrachte und dort unter anderen freie und versklavte Afrobrasilianer porträtierte. Das Bild transportiert das Paradigma der transatlantischen Plantagensklaverei, von dem sich die Geschichtswissenschaft, wie der Band eindrucksvoll zeigt, lösen sollte. CLAUDIA JARZEBOWSKI
Paulin Ismard (Hrsg.): "Welten der Sklaverei". Eine vergleichende Geschichte.
A. d. Französischen von einem Übersetzerkollektiv. Jacoby & Stuart Verlag, Berlin 2023. 1200 S.,
Abb., geb., 78,- Euro.
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