Die Geburt einer Epoche, deren Ende wir gerade erleben Als im Revolutionsjahr 1989 in Berlin die Mauer fiel und in Peking auf dem Tiananmen-Platz die Proteste blutig niedergeschlagen wurden, veränderte sich die Welt dramatisch. Der Kalte Krieg war zu Ende, eine neue Weltordnung entstand. Auf Basis unzähliger unbekannter Quellen und dicht an den handelnden Personen schreibt Kristina Spohr eine neue große Geschichte dieser doppelten Wendezeit. Ihre wegweisende Studie zeigt, wie es gelang, den Übergang in eine neue Epoche so friedlich zu gestalten und wie die Richtungsentscheidungen der Jahre von 1989 bis 1992 unsere Welt bis heute formen.
Mit zahlreichen Abbildungen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2020Wie nett Gorbatschow doch lächelte
So wurde in Europa Geschichte gemacht: Kristina Spohr über die politische Neuordnung der Welt in den "Scharnierjahren" um 1990
George H.W. Bush ließ es langsam angehen. Nachdem er am 20. Januar 1989 zum Präsidenten ernannt worden war, konsultierte er zunächst einmal Experten, gab Studien zur Weltlage in Auftrag und vermied jedes vorschnelle Signal in Richtung Moskau, das seine Handlungsspielräume hätte einengen können. Sein vornehmliches Interesse galt nicht Europa oder dem Ostblock, sondern dem pazifischen Raum und China. In gewisser Weise sollte er recht behalten: China stieg zur entscheidenden Weltmacht auf. Die Rahmenbedingungen dafür veränderten sich allerdings in den folgenden "Scharnierjahren" zwischen 1989 und 1992 von Grund auf. Diese "Neuordnung der Welt" rekonstruiert die Historikerin Kristina Spohr minutiös. Sie nimmt die "wichtigsten Staatslenker" ins Visier und verfolgt Schritt für Schritt, wie das politische Führungspersonal durch eine historische Situation lavierte, in der sich die übersichtlichen Strukturen des Kalten Kriegs von heute auf morgen auflösten und ein "Mosaik der Unordnung" hinterließen.
Bereits ein halbes Jahr nach dem Regierungsantritt Bushs waren die Expertisen, die er gerade eingeholt hatte, hoffnungslos veraltet: Am 4. Juni rückte die chinesische Armee auf dem Platz des Himmlischen Friedens gegen Demonstranten vor, die sich von Gorbatschows Visionen der Umgestaltung (Perestroika) und Transparenz (Glasnost) zum Protest ermuntert gefühlten hatten. Peking markierte mit dieser radikalen Strategie des Machterhalts eine historische Option, mit der die Akteure von nun an stets rechnen mussten. Am selben Tag kam in Polen die Solidarnosc an die Macht. Als Bush im Juli erst Warschau und dann Budapest besuchte, verstand er endlich, dass in Europa gerade Geschichte gemacht wurde, und zwar im Monatstakt: Im September erhielten die DDR-Urlauber von der ungarischen Regierung offiziell die Ausreiseerlaubnis. Im Oktober feierte die SED mit großem Aufwand den vierzigsten Jahrestag der DDR. Im November fiel die Berliner Mauer - symbolischer Höhepunkt einer Entwicklung, die niemand vorausgesehen hatte. Dass nur ein Jahr später die deutsche Einheit gefeiert werden würde, war zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar.
Nach wie vor mangelte es den Akteuren an politischer Phantasie. Gorbatschow etwa verstand sich als neuer Lenin und wollte die Konkurrenz der Systeme weiterhin austragen, nur eben mit einem vitalisierten Gegenangebot zum westlichen Kapitalismus. Auch diese im Grunde rückwärtsgewandte Vision löste sich schnell in Luft auf. Die historische Dynamik erzwang kurzsichtige Entscheidungen und erzwang ständig neue Wendungen. Die Staatschefs konnten zwar die Gunst des Augenblicks besser oder schlechter nutzen, täuschten sich aber durchgehend mit ihren Prognosen. Angesichts dieser politischen Improvisationen hätte es womöglich nahegelegen, Entscheidungsträger allenfalls als Marionetten eines irrlichternden Weltgeistes auftreten zu lassen und anonyme Mächte in den Vordergrund zu rücken, die dann doch wieder einem erkennbaren Plan folgen.
Gelegentlich weist Spohr etwa so auf die Rolle "der Medien" hin - ohne Radio und TV wäre die Berliner Mauer nicht am 9. November 1989 gefallen. Sie streicht heraus, dass die am Reißbrett entworfene Ordnung des Warschauer Pakts Ängste, Kränkungen, ethnische und religiöse Konflikte, die tief in die Geschichte reichen, allenfalls oberflächlich camoufliert hatte. Die Effekte einer solchen historischen longue durée entzogen sich der Gestaltungskraft einzelner Personen und bildeten die Grundlage für jene politischen "Stimmungen", an denen rationale Reformpläne scheiterten. Vor allem aber erwies sich die unbarmherzige Wahrheit des Slogans, mit dem Bill Clinton gegen Bush antrat und ihn nach nur einer Amtszeit ablöste: "It's the economy, stupid!" Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Ungarn noch über das Geld verfügt hätte, um die Grenzanlagen zu Österreich weiterhin dicht zu halten?
Nur die Chinesen spielten nach eigenen Regeln. Sie richteten den Blick weit in die Zukunft und berauschten sich nicht an momentanen Eindrücken. Warum wir uns in einem "pazifischen Jahrhundert" befinden, sieht man auf dem hinteren Vorsatzpapier von Spohrs Buch schlicht an der überwältigend großen Zahl an Staaten, deren größter oder zweitgrößter Handelspartner China ist, und zwar ganz unabhängig vom jeweiligen politischen System. Gleichwohl wendet sich Spohr dezidiert gegen ein "ökonomisches Narrativ" und konzentriert sich stattdessen auf die großen Politiker und deren persönliche Beziehungen, die sie aus unbekannten Archivalien und vernachlässigten Dokumenten rekonstruiert.
Aus einer struktur- oder auch kulturhistorischen Perspektive mag diese Personalisierung politischer Macht eigentümlich antiquiert wirken. Hier aber tut sich ein Mikrokosmos der beschränkten Horizonte auf, der Empfindlichkeiten und politischen Zu- und Abneigungen, in dem Handlungsspielräume genutzt und historische Weichen gestellt oder Gestaltungsmöglichkeiten vertan werden: Margaret Thatcher ist mit ihrem europaskeptischen Kurs, ihren Vorbehalten gegen Deutschland im Allgemeinen und ihrer tief sitzenden Antipathie gegen Helmut Kohl im Besonderen ein eklatantes Beispiel für das offensive Spiel ins Abseits.
Eine überaus wichtige Motivation der Akteure bildete die Konkurrenz um einen Platz im "Buch der Geschichte". Überhaupt erwiesen sich Befindlichkeiten und ästhetische Fragen als ausschlaggebend. Bei seinem ersten Treffen mit Gorbatschow als Präsident bemerkte Bush in seinem Tagebuch nicht nur das "nette Lächeln" seines Verhandlungspartners, sondern hielt auch fest: "Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein cremefarbenes, weißes Hemd (genau wie das, das mir so gefällt) und eine rote Krawatte (fast wie die eine von der Londoner Firma mit einem Schwert)". Guter Wein und ein gelungenes Abendessen, ein gemeinsames Naturerlebnis oder modische Präferenzen entscheiden mit darüber, ob die Politiker glauben, "auf einer Wellenlänge" zu liegen, ob sie sich vertrauen und politisch beistehen oder auf Distanz gehen und sich das Leben schwermachen. Mit anderen Worten: So gut wie alles kann dazu dienen, politische Kontingenz zu reduzieren.
Man hätte sich generell ein analytischeres Verhältnis zu diesen "zentralen Nebensächlichkeiten" (Philip Manow) der Politik gewünscht und eine konzentrierte methodische Reflexion darüber, welche Blickachsen und -verengungen sich aus dem "Making of" einer "neuen Weltordnung" ergeben. So deutet Spohr allenfalls an, welcher Weg von den "Scharnierjahren" um 1990 zur Gegenwart führt. Gleichwohl wirkt es wie Menetekel, wenn die heutigen Entscheidungsträger für jeweils einen kurzen Augenblick auf der von ihr arrangierten Geschichtsbühne auftreten: Putin als junger KGB-Offizier, der irritiert beobachtet, dass Moskau die Proteste der DDR-Bürger regungslos hinnimmt; Donald Trump, der beim New York-Besuch Gorbatschows mit seinem 19-Millionen-Dollar-Appartement Eindruck machen will, jedoch einem Double des Kreml-Führers aufsitzt; Angela Merkel, die am Tag der Grenzöffnung nach einem Saunaabend mit Freundinnen ein wenig in der taumelnden Menge mitfeiert und sich dann in aller Ruhe zu Haus fragt, was der Mauerfall wohl für sie bedeuten werde. In diesen Momentaufnahmen zeichnen sich jene aktuellen politischen Stile ab, die sich in der von Spohr immer wieder glänzend erzählten "Wendezeit" herausgebildet haben.
STEFFEN MARTUS
Kristina Spohr: "Wendezeit". Die Neuordnung der Welt nach 1989.
Aus dem Englischen von H. Dierlamm und N. Juraschitz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 976 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So wurde in Europa Geschichte gemacht: Kristina Spohr über die politische Neuordnung der Welt in den "Scharnierjahren" um 1990
George H.W. Bush ließ es langsam angehen. Nachdem er am 20. Januar 1989 zum Präsidenten ernannt worden war, konsultierte er zunächst einmal Experten, gab Studien zur Weltlage in Auftrag und vermied jedes vorschnelle Signal in Richtung Moskau, das seine Handlungsspielräume hätte einengen können. Sein vornehmliches Interesse galt nicht Europa oder dem Ostblock, sondern dem pazifischen Raum und China. In gewisser Weise sollte er recht behalten: China stieg zur entscheidenden Weltmacht auf. Die Rahmenbedingungen dafür veränderten sich allerdings in den folgenden "Scharnierjahren" zwischen 1989 und 1992 von Grund auf. Diese "Neuordnung der Welt" rekonstruiert die Historikerin Kristina Spohr minutiös. Sie nimmt die "wichtigsten Staatslenker" ins Visier und verfolgt Schritt für Schritt, wie das politische Führungspersonal durch eine historische Situation lavierte, in der sich die übersichtlichen Strukturen des Kalten Kriegs von heute auf morgen auflösten und ein "Mosaik der Unordnung" hinterließen.
Bereits ein halbes Jahr nach dem Regierungsantritt Bushs waren die Expertisen, die er gerade eingeholt hatte, hoffnungslos veraltet: Am 4. Juni rückte die chinesische Armee auf dem Platz des Himmlischen Friedens gegen Demonstranten vor, die sich von Gorbatschows Visionen der Umgestaltung (Perestroika) und Transparenz (Glasnost) zum Protest ermuntert gefühlten hatten. Peking markierte mit dieser radikalen Strategie des Machterhalts eine historische Option, mit der die Akteure von nun an stets rechnen mussten. Am selben Tag kam in Polen die Solidarnosc an die Macht. Als Bush im Juli erst Warschau und dann Budapest besuchte, verstand er endlich, dass in Europa gerade Geschichte gemacht wurde, und zwar im Monatstakt: Im September erhielten die DDR-Urlauber von der ungarischen Regierung offiziell die Ausreiseerlaubnis. Im Oktober feierte die SED mit großem Aufwand den vierzigsten Jahrestag der DDR. Im November fiel die Berliner Mauer - symbolischer Höhepunkt einer Entwicklung, die niemand vorausgesehen hatte. Dass nur ein Jahr später die deutsche Einheit gefeiert werden würde, war zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar.
Nach wie vor mangelte es den Akteuren an politischer Phantasie. Gorbatschow etwa verstand sich als neuer Lenin und wollte die Konkurrenz der Systeme weiterhin austragen, nur eben mit einem vitalisierten Gegenangebot zum westlichen Kapitalismus. Auch diese im Grunde rückwärtsgewandte Vision löste sich schnell in Luft auf. Die historische Dynamik erzwang kurzsichtige Entscheidungen und erzwang ständig neue Wendungen. Die Staatschefs konnten zwar die Gunst des Augenblicks besser oder schlechter nutzen, täuschten sich aber durchgehend mit ihren Prognosen. Angesichts dieser politischen Improvisationen hätte es womöglich nahegelegen, Entscheidungsträger allenfalls als Marionetten eines irrlichternden Weltgeistes auftreten zu lassen und anonyme Mächte in den Vordergrund zu rücken, die dann doch wieder einem erkennbaren Plan folgen.
Gelegentlich weist Spohr etwa so auf die Rolle "der Medien" hin - ohne Radio und TV wäre die Berliner Mauer nicht am 9. November 1989 gefallen. Sie streicht heraus, dass die am Reißbrett entworfene Ordnung des Warschauer Pakts Ängste, Kränkungen, ethnische und religiöse Konflikte, die tief in die Geschichte reichen, allenfalls oberflächlich camoufliert hatte. Die Effekte einer solchen historischen longue durée entzogen sich der Gestaltungskraft einzelner Personen und bildeten die Grundlage für jene politischen "Stimmungen", an denen rationale Reformpläne scheiterten. Vor allem aber erwies sich die unbarmherzige Wahrheit des Slogans, mit dem Bill Clinton gegen Bush antrat und ihn nach nur einer Amtszeit ablöste: "It's the economy, stupid!" Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Ungarn noch über das Geld verfügt hätte, um die Grenzanlagen zu Österreich weiterhin dicht zu halten?
Nur die Chinesen spielten nach eigenen Regeln. Sie richteten den Blick weit in die Zukunft und berauschten sich nicht an momentanen Eindrücken. Warum wir uns in einem "pazifischen Jahrhundert" befinden, sieht man auf dem hinteren Vorsatzpapier von Spohrs Buch schlicht an der überwältigend großen Zahl an Staaten, deren größter oder zweitgrößter Handelspartner China ist, und zwar ganz unabhängig vom jeweiligen politischen System. Gleichwohl wendet sich Spohr dezidiert gegen ein "ökonomisches Narrativ" und konzentriert sich stattdessen auf die großen Politiker und deren persönliche Beziehungen, die sie aus unbekannten Archivalien und vernachlässigten Dokumenten rekonstruiert.
Aus einer struktur- oder auch kulturhistorischen Perspektive mag diese Personalisierung politischer Macht eigentümlich antiquiert wirken. Hier aber tut sich ein Mikrokosmos der beschränkten Horizonte auf, der Empfindlichkeiten und politischen Zu- und Abneigungen, in dem Handlungsspielräume genutzt und historische Weichen gestellt oder Gestaltungsmöglichkeiten vertan werden: Margaret Thatcher ist mit ihrem europaskeptischen Kurs, ihren Vorbehalten gegen Deutschland im Allgemeinen und ihrer tief sitzenden Antipathie gegen Helmut Kohl im Besonderen ein eklatantes Beispiel für das offensive Spiel ins Abseits.
Eine überaus wichtige Motivation der Akteure bildete die Konkurrenz um einen Platz im "Buch der Geschichte". Überhaupt erwiesen sich Befindlichkeiten und ästhetische Fragen als ausschlaggebend. Bei seinem ersten Treffen mit Gorbatschow als Präsident bemerkte Bush in seinem Tagebuch nicht nur das "nette Lächeln" seines Verhandlungspartners, sondern hielt auch fest: "Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein cremefarbenes, weißes Hemd (genau wie das, das mir so gefällt) und eine rote Krawatte (fast wie die eine von der Londoner Firma mit einem Schwert)". Guter Wein und ein gelungenes Abendessen, ein gemeinsames Naturerlebnis oder modische Präferenzen entscheiden mit darüber, ob die Politiker glauben, "auf einer Wellenlänge" zu liegen, ob sie sich vertrauen und politisch beistehen oder auf Distanz gehen und sich das Leben schwermachen. Mit anderen Worten: So gut wie alles kann dazu dienen, politische Kontingenz zu reduzieren.
Man hätte sich generell ein analytischeres Verhältnis zu diesen "zentralen Nebensächlichkeiten" (Philip Manow) der Politik gewünscht und eine konzentrierte methodische Reflexion darüber, welche Blickachsen und -verengungen sich aus dem "Making of" einer "neuen Weltordnung" ergeben. So deutet Spohr allenfalls an, welcher Weg von den "Scharnierjahren" um 1990 zur Gegenwart führt. Gleichwohl wirkt es wie Menetekel, wenn die heutigen Entscheidungsträger für jeweils einen kurzen Augenblick auf der von ihr arrangierten Geschichtsbühne auftreten: Putin als junger KGB-Offizier, der irritiert beobachtet, dass Moskau die Proteste der DDR-Bürger regungslos hinnimmt; Donald Trump, der beim New York-Besuch Gorbatschows mit seinem 19-Millionen-Dollar-Appartement Eindruck machen will, jedoch einem Double des Kreml-Führers aufsitzt; Angela Merkel, die am Tag der Grenzöffnung nach einem Saunaabend mit Freundinnen ein wenig in der taumelnden Menge mitfeiert und sich dann in aller Ruhe zu Haus fragt, was der Mauerfall wohl für sie bedeuten werde. In diesen Momentaufnahmen zeichnen sich jene aktuellen politischen Stile ab, die sich in der von Spohr immer wieder glänzend erzählten "Wendezeit" herausgebildet haben.
STEFFEN MARTUS
Kristina Spohr: "Wendezeit". Die Neuordnung der Welt nach 1989.
Aus dem Englischen von H. Dierlamm und N. Juraschitz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 976 S., geb., 42,- [Euro].
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