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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Mehr Wortschatz, mehr Gleichgültigkeit: Der holländische Neuropsychologe André Aleman über das alternde Hirn
Im Jahr 2000 betrug die statistische Wahrscheinlichkeit eines Mannes, neunzig Jahre alt zu werden, eins zu neun, heute liegt sie bei eins zu fünf. In einem Zeitraum, an den man sich noch erschreckend gut erinnern kann, hat sich die Methusalem-Chance fast genau verdoppelt. André Aleman, international renommierter Neuropsychologe aus Groningen, klärt eine wissenschaftlich nicht vorbelastete Leserschaft darüber auf, was im Zeitraum zwischen Pensionierungs- und Patriarchenalter in einem durchschnittlichen Kopf vor sich geht.
Er tut es in einem freundlichen, sozusagen calvinistisch-humanen Stil und Ton, von dem man sich beim Lesen unwillkürlich gern vorstellt, dass diese Art zu schreiben und zu argumentieren etwas typisch Niederländisches sein könnte. Dabei sind die Nachrichten nicht wirklich gut. Allen positiv messbaren Parametern zufolge denkt das alte Gehirn langsamer, konfuser und unkonzentrierter als das junge. Der Verfall setzt allerdings viel früher ein als im siebten Lebensjahrzehnt, nämlich in den frühen Zwanzigern. Nicht zufällig sind so gut wie alle bahnbrechenden wissenschaftlichen Einsichten beispielsweise der modernen Mathematik und Physik von Menschen unter dreißig erarbeitet worden. Auch das Gedächtnis lässt jenseits der fünfundsechzig auf dramatische Weise nach, besonders das Kurzzeitgedächtnis, das als eine Art Arbeitsspeicher für die effektive Lösung komplexerer intellektueller und praktischer Aufgaben unabdingbar ist. Allen wissenschaftlichen Intelligenztests zufolge sind alte Menschen dümmer als junge.
Nur sind wissenschaftliche Intelligenztests eben nicht alles. Auch das seit Jahrhunderten überlieferte Bild des weisen alten Menschen hat eine hirnphysiologische Grundlage, die allerdings schwieriger zu messen ist als die Denkgeschwindigkeit und die Prozessorleistung des Arbeitsgedächtnisses. Das alte Gehirn kompensiert die sozusagen athletischen Qualitäten des Denkorgans, die ihm weitgehend verlorengegangen sind, durch angesammeltes Wissen und durch Erfahrung. Ältere Gehirne können einen größeren Wortschatz verarbeiten als junge, und sie haben mehr Erfahrung mit komplexen Situationen, die sie durch Intuition sozusagen vorbewusst abchecken.
Alte Gehirne sind jungen überlegen in der Fähigkeit, recht zu haben, ohne recht zu wissen, warum. Und eine weitere Facette der Weisheit entwickelt sich vorzugsweise im alten Gehirn: die Gewohnheit nämlich, solche komplexen Situationen aus verschiedenen personalen Perspektiven zu durchdenken, eine Qualifikation, die paradoxerweise offenbar mit dem Nachlassen der Denkgeschwindigkeit in den Vordergrund tritt. Alte Menschen können allseits befriedigende Lösungen komplexer und konfliktgeladener Situationen besser konzipieren als junge - wahrscheinlich auch deshalb, weil ihnen die Dinge gleichgültiger sein können. Es hat hirnphysiologische Gründe, dass seit Jahrtausenden alte und nicht junge Menschen in beratende Körperschaften gewählt werden, in die Senate, Tafelrunden und Ältestenräte.
Bei all diesen unbestreitbar interessanten Erwägungen und Informationen steht ein Elefant im Raum. Oder besser: Es liegt eine Leiche unter dem Tisch. Gemeint ist die erschreckende Zunahme behandlungsbedürftiger Demenzkrankheiten, die in den nächsten Jahrzehnten unweigerlich noch massenhafter auftreten werden als bisher schon. Auch hier kann Aleman wenig Ermutigendes referieren. Wirksame Behandlungsmöglichkeiten sind nirgendwo in Sicht. Die Ausbreitung der Demenz scheint eine schicksalhaft unabwendbare medizinische und gesellschaftliche Entwicklung zu sein. Als tröstlich mag man es allenfalls empfinden, dass die avancierte Gehirnwissenschaft uns nichts anderes und Besseres raten kann als jeder Hausarzt.
Wer sein Gehirn auch im Alter so fit halten möchte, dass er selbst und die Seinen in den Genuss der positiven mentalen Fähigkeiten seines Lebensalters kommen, sollte viel lesen, schreiben und nachdenken, sich viel bewegen, wenig essen, viel Wasser trinken, intensive soziale Beziehungen pflegen und in einer liebevollen Partnerschaft leben. Auch Sinn für Humor, heißt es, kann helfen. Oder ein Haustier. Eine Garantie gegen Alzheimer ist das alles nicht. Was uns André Aleman aus Sicht der Hirnforschung in calvinistischer Härte zu Bewusstsein bringt, ist nichts anderes als die alte Wahrheit, dass Altwerden selten etwas Schönes ist.
STEPHAN WACKWITZ
André Aleman: "Wenn das Gehirn älter wird". Was uns ängstigt. Was wir wissen. Was wir tun können.
Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke und Marlene Müller-Haas. Verlag C. H. Beck, München 2013. 240 S., geb., 17,95 [Euro].
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